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Was heißt hier Potenzial?

Woran erkennen wir die Wissenschaftstalente von morgen? Und wie können sich vermeintlich abgelegene Wissenschaftsregionen durch kluge Strategien selbst ins Zentrum rücken? Ein Gastbeitrag von Dominik Fischer.

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Artikelbild: Was heißt hier Potenzial?

Bild: Hans / Pixabay.

EMMANUELLE CHARPENTIER erinnert sich noch an das Geräusch, das der Schnee machte, als sie sich in Nordschweden für die Position einer Forschungsgruppenleiterin bewarb: "Crispr", "Crispr". Es sollte der Sound werden, zu dem sie ihre Forschung in Umeå eigenständig vorantrieb, bevor sie Jahre später über eine Alexander von Humboldt-Professur nach Deutschland wechselte. Charpentier wurde Institutsleiterin in einem Helmholtz-Zentrum, danach Direktorin an einem Max-Planck-Institut – und erhielt 2020 zusammen mit Jennifer Doudna den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der CRISPR-Cas9-Technologie, bekannt als Genschere.

Seit ich Charpentiers Schnee-Anekdote, vorgetragen in ihrer ansteckenden Begeisterungsfähigkeit, zum ersten Mal gehört habe, begleitet sie mich in meiner Arbeit als Wissenschaftsmanager. Ein kleiner Schritt für eine Wissenschaftlerin, ein großer für die Wissenschaft. Woran aber erkennt man die Talente für die Wissenschaft von morgen? Und wie können vermeintlich abgelegene Wissenschaftsregionen sich durch kluge Strategien selbst ins Zentrum rücken?

Bei Recherchen zu dieser Frage stieß ich vor einigen Jahren auf einen erleuchtenden Artikel von Claudio Fernández-Aráoz im Harvard Business Review, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Der Autor argumentiert, dass traditionelle Ansätze zur Talentbewertung, die auf vergangenen Leistungen und Kompetenzen beruhen, in sich rasch verändernden Arbeitsumgebungen nicht mehr ausreichten. Stattdessen müsse das Potenzial einer Person anhand der Schlüsselindikatoren Motivation, Neugier, Weitblick, Engagement und Entschlossenheit bewertet werden.

Nicht in Laufzeitdebatten verstricken

Übertragen auf den Wissenschaftssektor ist dies besonders bei der Besetzung von Tenure Track-Professuren relevant. Auswahlverfahren müssten angepasst werden, etwa durch eine stärkere Gewichtung von Forschungs- und Lehrkonzepten. Dies ist schwer zu evaluieren, doch macht es den Kern des Tenure Track als Versprechen für die Zukunft aus. Eine von mir betreute Bewerberin übermittelte einst ein Konzept, das technologisches Verständnis mit Überlegungen zur Umsetzbarkeit verband, doch fand es nicht den erwarteten Anklang. Wissenschaftliche Expertise ist in Auswahlverfahren selbstredend unverzichtbar; Fachkommissionen neigen jedoch dazu, ihre Vorstellungen von fachlicher Passung zu priorisieren. Dies erschwert es, den Blick für Zukunftsfelder zu weiten.

In diesem Kontext nehme ich ebenso die Debatte um verlässliche Karrierewege für Postdocs als am Bedarf vorbeigehend wahr. Die Diskussionen drehen sich um Befristungszeiträume bei der notwendigen Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Doch bringt ein Jahr mehr tatsächlich die Lösung? Ich bezweifle dies. Es ist unbestreitbar wichtig, rechtliche Rahmenbedingungen und Vertragslaufzeiten zu regeln, auch im Hinblick auf die finanziellen Auswirkungen für Institutionen. Doch liegt der Konstruktionsfehler aus meiner Sicht darin, dass der Rahmen festgelegt wird, ohne das Ziel zu benennen.

Warum definieren wir nicht zunächst geeignete Karrierewege?

Inspirierende Beispiele gibt es durchaus: Das EIPOD4-Fellowship-Programm von EMBL bietet Postdocs die Möglichkeit, mit zwei Forschungsgruppen zu interagieren. Die Postdocs können je nach Ausrichtung akademische, klinische oder industrielle Pfade wählen und dadurch wertvolle Erfahrungen für ihre weitere Karriereplanung sammeln. Aus diesem erfolgreichen Format hat sich bereits der nordische Ableger NOPROD entwickelt. Ist es folglich wichtiger, die Zufriedenheit durch geeignete Formate zu erhöhen, anstatt sich in Laufzeitdebatten zu verstricken?

Was wir uns von Schweden abschauen können

Die translationale Forschung birgt besonderes Potenzial, insbesondere durch gezielte Talentförderung. Das Laboratory for Molecular Infection Medicine Sweden (MIMS), Teil der nordischen EMBL-Partnerschaft, initiierte ein nationales Programm für Clinical Research Fellows, das alle schwedischen Universitätskliniken einbindet. Es richtet sich an forschungsstarke, klinisch tätige Mediziner*innen nach der Promotion. Den Fellows werden, neben garantierter Forschungszeit, Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die Brücke zwischen Grundlagen- und klinischer Forschung zu schlagen. Dies ermöglicht den Talenten in einem stark hierarchischen Wissenschaftsbereich frühe Selbstständigkeit und verleiht der translationalen Forschung neuen Schub.

Apropos Schweden: Das Land hat seine Stärken in den Lebenswissenschaften erkannt und sich mit der Initiative "Data-Driven Life Science (DDLS)" positioniert. Diese nationale Strategie setzt gezielt auf die Anwendung von Big Data und KI in den Lebenswissenschaften. Mit einer Finanzierung von 3,7 Milliarden Schwedischen Kronen (rund 322 Millionen Euro) über zwölf Jahre durch die Knut und Alice Wallenberg Stiftung wurde ein Netzwerk aufgebaut, das durch Fellowship-Programme und Infrastrukturmaßnahmen Talente anzieht, ausbildet und bindet.

Für deutsche Wissenschaftsinstitutionen bietet dies wertvolle Impulse: Angesichts knapper werdender staatlicher Mittel sollten vermehrt gemeinwohlorientierte Stiftungen für Schwerpunktinitiativen gewonnen werden. Langfristige Programme erweitern die Möglichkeiten für Forschende und stärken die Innovationskraft von Institutionen und Regionen. In Schweden sind Stiftungen wie Wallenberg längst zu einer tragenden Säule neben der staatlichen Grundfinanzierung geworden.

Das Konzept geografischer Nischen auf die Wissenschaft übertragen

Deutschland spürt bereits die Auswirkungen des demographischen Wandels, der sich weiter verschärfen wird. Die Wissenschaft kann an technologischen Lösungen arbeiten, wie der Geriatronik – der Entwicklung robotischer Assistenzsysteme für ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Die gewonnenen Erkenntnisse aus Forschungszentren wie dem MIRMI der TU München, dem Fraunhofer-Institut IPA oder dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt könnten zu einem nationalen Alleinstellungsmerkmal in einem langfristig technologisch und gesellschaftlich relevanten Handlungsfeld beitragen.

Zum anderen gilt es, den Versorgungsaspekt zu berücksichtigen, insbesondere in Regionen, die von Abwanderung erwerbsfähiger Bevölkerung betroffen sind. Die Neugründung der Medizinischen Universität Lausitz stellt hier einen Meilenstein dar. Neben medizinischer Ausbildung und der angestrebten wissenschaftlichen Exzellenz bildet sie den Kern der Modellregion Gesundheit Lausitz, um die medizinische Versorgung zu sichern und praxisnah weiterzuentwickeln. Diese Verbindung von Wissenschaft und regionaler Gesundheitsversorgung schafft nachhaltige Lösungen, um dem demographischen Wandel zu begegnen und kann als Modell für andere Regionen dienen.

Das Konzept des Besetzens geographischer Nischen aus der Evolutionsbiologie lässt sich auf Wissenschaftsstandorte übertragen. Die besondere Kombination von Wissenschaft und regionalen Gegebenheiten trägt zur Profilierung bei und stärkt gleichzeitig die gesellschaftliche Rückkopplung der Institutionen. Ein Beispiel ist die Arctic Six, ein Zusammenschluss nordeuropäischer Universitäten, die ihre komplementäre Expertise bündeln und so die Entwicklung einer wissenschaftlich und wirtschaftlich attraktiven Region begünstigen. Speziell Volluniversitäten können sich durch regionale Identitäten profilieren, indem sie ihr breites Fächerportfolio synergetisch nutzen, um übergreifende Forschungs- und Standortthemen zu bearbeiten.

Wer tritt in Charpentier Fußstapfen?

Prägende Persönlichkeiten wie Emmanuelle Charpentier werden unweigerlich weiterziehen. Für Standorte wie Nordschweden bleibt dennoch mehr als ihre Anekdote. Es ist die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Durchbrüche auch abseits der großen Zentren möglich sind, sofern die Voraussetzungen stimmen. Die Förderung kreativer Köpfe und ihre Einbindung in attraktive Wissenschaftsnetzwerke sind entscheidend für den langfristigen Erfolg. So werden sich auch künftige Bewerber*innen ihren Weg durch den Schnee von Umeå bahnen - und wer weiß, welche Assoziationen dies bei ihnen weckt.

Dominik Fischer ist Wissenschaftsberater und Gründer von Fischer Strategy. Vorher arbeitete er als Wissenschaftsmanager für die Technische Universität München und am Laboratory for Molecular Infection Medicine Sweden (MIMS) der Umeå Universität.

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