Kaum ein Wissenschaftsmanager ist national wie international so gut vernetzt wie Georg Schütte. Ein Interview über Sorgen um das nächste Forschungsrahmenprogramm, Emmanuel Macrons KI-Vorstoß, Europas Innovationsrückstand – und Prioritäten für die nächste Bundesregierung.

Georg Schütte ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler und seit 2020 Generalsekretär der Volkwagen-Stiftung. Vorher war er unter anderem Generalsekretär der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und zehn Jahre lang beamteter Staatssekretär im BMBF. Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung.
Herr Schütte, vergangenes Jahr haben Sie in der von Manuel Heitor geleiteten Expertengruppe mitgearbeitet, die in ihrem gleichnamigen Report maßgebliche Änderungen am nächsten EU-Forschungsrahmenprogramm forderte. Hätten Sie sich da schon vorstellen können, dass es unter Umständen gar kein nächstes Forschungsrahmenprogramm mehr geben könnte?
Nein, ein solches Szenario hatten wir nicht auf dem Schirm. Als wir am 16. Oktober in Brüssel unseren Report präsentierten, kamen gerade erste Gerüchte auf: Der neue mehrjährige Finanzrahmen, der die Basis bildet für das Nachfolgeprogramm von Horizon Europe, beinhalte womöglich gar kein abgetrenntes Budget mehr für ein solches Programm, sondern das Geld könnte in einem einzigen großen Fonds zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit aufgehen. Ein Fonds, der zugleich die Förderung von Industrie, Wirtschaft, Innovation und Forschung speisen solle.
Nur Gerüchte?
Ich glaube schon, dass in Teilen der EU-Kommission mit der Idee geliebäugelt wird. Vor allem diejenigen, die für den Haushalt verantwortlich sind, sehen darin eine Vereinfachung, eine Entbürokratisierung. Die für Forschung und Innovation verantwortlichen Fachleute halten aber dagegen. Und Kommissionspräsidentin von der Leyen persönlich hat vergangenen Sommer zum Antritt der neuen Kommission gesagt, Forschung und Innovation müssten im Kern der europäischen Politik stehen. Insofern ist sie, glaube ich, offen für ein eigenes Forschungsprogramm.
Offen nach dem Motto: Wenn die Fachpolitiker es schaffen, sie doch noch davon zu überzeugen?
Überzeugt werden müssen vor allem die für den Haushalt Verantwortlichen. Das ist die Herausforderung: Das anstehende 10. Forschungsrahmenprogramm muss nicht nur für die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker attraktiv sein, es muss auch den Haushältern gefallen.
"Wir sind zurückgefallen,
nicht weil wir schlechter geworden sind, sondern
weil die anderen an uns vorbeigezogen sind."
Die deutsche Hochschulrektorenkonferenz (HRK) warnt, die Europäische Union dürfe ihr "bewährtes Forschungsprogramm" auf keinen Fall aufgeben. Die Landeswissenschaftsminister mahnen ebenfalls, die EU-Forschungsförderung müsse ihre Eigenständigkeit behalten. Aber warum eigentlich? Ihr Heitor-Report hat doch auch festgestellt, dass es, wenn alles so bleibt wie bislang, nicht klappen wird mit der Steigerung von Europas Wettbewerbsfähigkeit?
Es ist richtig, dass wir neue Wege brauchen. Es ist auch richtig, dass anders als noch beim Lamy-Report vor sieben Jahren diesmal sowohl bei Draghi als auch bei Heitor der Umgang mit unserer verlorenen Wettbewerbsfähigkeit im Mittelpunkt stand. Europa hinkt seit langem bei der wirtschaftlichen Verwertung von Forschungsergebnissen hinterher, aber anders als in den Zehnerjahren sind wir jetzt auch in der Grundlagenforschung nicht mehr vorn. Wir sind zurückgefallen, nicht weil wir schlechter geworden sind, sondern weil die anderen an uns vorbeigezogen sind: die Chinesen in den Naturwissenschaften, die US-Amerikaner in den Lebenswissenschaften und der medizinischen Forschung. Europa ist noch Weltspitze in den Kulturwissenschaften, aber das wird nicht reichen, um unseren Wohlstand zu erhalten.
Nochmal: Warum dann wieder – as usual – ein neues Forschungsrahmenprogramm?
Weil die neuen Wege, die wir brauchen, Wege sind, die wir innerhalb eines solchen Rahmenprogramms gehen müssen. Denn wenn wir es aufgeben, überlassen wir die Gestaltung der europäischen Forschungspolitik jenen, die sonst für Wirtschaftspolitik zuständig sind. Die sehen dann nicht mehr die mittel- bis langfristigen Potenziale, die in der Grundlagenforschung liegen, in ihrer Übertragung in die angewandte Forschung, Entwicklung und Innovation.
Sie spielen auf den Europäischen Forschungsrat an, den ERC, der sich in nicht einmal 20 Jahren zu einem weltweiten Aushängeschild europäischer Exzellenzförderung entwickelt hat. Fürchten Sie um dessen Bestand?
Zumindest haben Wettbewerbspolitiker keine Ahnung und kein Verständnis für das, was der ERC macht. Ich meine aber auch den noch jungen Europäischen Innovationsrat, den EIC, der sich innerhalb kürzerer Zeit ebenfalls als europäischen Flaggschiff etabliert hat. Die Verbindung zwischen beiden, zwischen ERC und EIC, funktioniert herausragend, die Förderprogramme am Übergang müssen ausgebaut und weiter gestärkt werden, das gehörte zu unseren Empfehlungen als Heitor-Gruppe.
"Cem Özdemir versucht als Interimsminister,
was er kann, aber natürlich kann eine Regierung, die sich nicht nur geschäftsführend im Amt befindet, in Brüssel mit einem ganz anderen Gewicht auftreten."
Kein Land profitiert von der ERC-Förderung so stark wie Deutschland. So sehr HRK und Landeswissenschaftsminister in Brüssel für das nächste Forschungsrahmenprogramm kämpfen, wie misslich ist es, dass ausgerechnet jetzt die Bundesregierung als selbstbewusster Lobbyist ausfällt?
Bevor ich antworte, möchte ich betonen, dass sich auch die deutsche Wissenschaft und die Wissenschaftsorganisationen, schon aus einem gesunden Eigeninteresse heraus, in Brüssel für den ERC und in weiten Teilen auch für den EIC einsetzen. Aber natürlich braucht die Wissenschaft dabei die Unterstützung ihrer jeweiligen Regierung, und deshalb wird es zu den Prioritäten einer neuen Bundesregierung gehören, sich umgehend in die Verhandlungen um das nächste Forschungsrahmenprogramm einzubringen. Cem Özdemir versucht als Interimsminister im BMBF, was er kann, er ist schon in Brüssel vorstellig geworden in der Sache, aber natürlich kann eine Regierung, die sich nicht nur geschäftsführend im Amt befindet, mit einem ganz anderen Gewicht auftreten.
Wird es, bis die neue Regierung im Mai oder Juni steht, nicht schon zu spät sein?
Dann wird immer noch die Zeit sein, ein paar Pflöcke einzuschlagen.
In der Zwischenzeit kann Europa froh sein, dass Frankreichs Präsident Macron allein versucht, den innovationspolitischen Aufbruch zu organisieren. Wie haben Sie seine Bemühungen beim Pariser KI-Gipfel empfunden, Trumps "Stargate"-Initiative Paroli zu bieten?
Präsident Macron setzt seit seiner ersten Amtszeit immer wieder visionäre Akzente für eine ambitioniertere europäische Forschungs-und Innovationspolitik, man denke nur an die Europäischen Hochschulverbünde, die er initiiert hat. Mit seinem KI-Gipfel hat Macron erneut ins Schwarze getroffen. Er setzt den alles entscheidenden Impuls: Wenn wir als Europäer kritische Technologiebereiche für uns erschließen wollen, müssen wir uns zusammenschließen. Wir müssen über Forschungssicherheit reden, vor allem aber müssen wir viel stärker unsere eigenen Interessen als Europäer definieren. Wir müssen die zur Wahrung unserer Interessen relevanten Technologiefelder identifizieren und offensiv nach neuen Formen der Kooperation suchen, innerhalb von Europa, aber auch mit Partnern weltweit. Die für uns relevanten Schlüsseltechnologien sind neben der Künstlichen Intelligenz nicht zuletzt in den Lebenswissenschaften und in der Materialforschung zu finden. Die nationalen Forschungspolitiken müssen mit der gemeinsamen europäischen abgestimmt sein. Macron zeigt, wie das gehen kann. Die neue Bundesregierung wird es ihm nachtun. Der Impuls des französischen Präsidenten ist aber auch deshalb wichtig, weil er ihn so gesetzt hat, dass er international wahrgenommen wurde. Wir müssen europäische Politik gerade in der aktuellen Situation auch weltweit präsentieren. Wir sind ein Kontinent, der große Freiheiten in der Forschung ermöglicht, und sind attraktiv für Talente aus aller Welt. Das müssen wir zeigen.
Wenn Macron KI-Investitionen in Frankreich von über 100 Milliarden Euro ankündigt, wirkt das aber schon ein bisschen bemüht angesichts der von Trump verkündeten 500 "Stargate"-Milliarden. Womöglich sind ja beides nur leere Versprechungen?
Ich würde bei Macron nicht von leeren Versprechungen reden, sehr wohl aber von Symbolpolitik. Die steht bei derart großen Initiativen immer am Anfang, um Aufmerksamkeit und Kooperationsinteresse auszulösen. Es ist nicht verwerflich, wenn der französische Präsident dabei ein eigenes staatliches Interesse verfolgt.
"Wir laufen gerade Gefahr, dass die europäische Forschungsförderung komplett an den Bedürfnissen der Industrie vorbeigeht. "
Was unterscheidet die Ausgangslage in Europa von der in den USA?
In den USA haben sich in den vergangenen 20 Jahren große Technologiekonzerne entwickelt, die inzwischen bis hin zur Grundlagenforschung große Wirkmächtigkeit erlangt haben. Man muss sich das einmal vorstellen: In den USA finanzieren inzwischen private Konzerne fast in gleichem Umfang die Grundlagenforschung, wie es die öffentliche Hand tut. Das liegt nicht daran, dass der Staat heute weniger finanziert als früher, im Gegenteil. In Europa befindet sich die Förderung der Grundlagenforschung dagegen weiter ganz überwiegend in staatlicher, und zwar in nationalstaatlicher, Verantwortung. Hinzu kommt, und auch das war ein wesentlicher Befund der Heitor-Gruppe: Wir laufen gerade Gefahr, dass die europäische Forschungsförderung komplett an den Bedürfnissen der Industrie vorbeigeht. Die Top-Down-Angebote aus Brüssel sind in der Beantragung zu kompliziert, und sie reichen nicht als Anreize, um die Unternehmen aus der Technologiefalle zu befreien, in die sie geraten sind. Was meine ich damit: Wir Europäer sind stark in etablierten Technologien und Industrien, doch wir scheuen die Disruption, den riskanten Aufbruch ins Neue. So nutzt man die europäische Forschungsförderung für die eine oder andere inkrementelle Innovation, aber das war es dann auch.
Es handelt sich um einen sich selbst verstärkenden Effekt: Die US-Techkonzerne sind dank ihres gewaltigen technologischen Vorsprungs zu einer solchen Größe herangewachsen, dass sie sich die Grundlagenforschung leisten können, um schon die nächste und übernächste Innovationsgeneration in der KI vorzubereiten.
Aber wir sollten nicht nur schwarzsehen! Die EU-Kommission begibt sich sowohl im Bereich KI als auch im Computing erneut mit ins Rennen über sogenannte „Important Projects of Common European Interest“.Diesmal müssen wir das aber strategisch schlau anstellen. Ganz bestimmt werden wir kaum bei der Entwicklung der großen generativen KI-Modelle konkurrieren können, die unter anderem ja auch von der überragenden Großrechenkraft abhängen. Anders sieht es aus bei, sagen wir, sektorspezifischen KI-Modellen und deren Anwendung auf Datenbestände, die wir exklusiv in Europa haben. Nur dürfen wir hier nicht den Fehler wiederholen, den wir vor vielen Jahren beim Thema Industrie 4.0 gemacht haben. Während wir noch dachten, vorn dabei zu sein, und in Ruhe das Hohelied des Datenschutzes sangen, haben China und die USA längst ihre Daten eingesetzt, um die Vernetzung der Industrieproduktion voranzutreiben. Beim Thema KI darf uns das nicht wieder passieren.
Währenddessen geben 34 Prozent der sehr großen deutschen Unternehmen in einer BDI-Umfrage an, die Verlagerung von F&E-Bereichen ins Ausland beschlossen oder bereits umgesetzt zu haben, und weitere neun Prozent sagen, sie hätten über eine Verlagerung schon nachgedacht. 64 Prozent aller befragten Unternehmen sind überzeugt, dass es ausländische Wettbewerber leichter hätten, neue Ideen und Technologien umzusetzen. Mit 60 Prozent fast genauso viele schätzen die Chancen als gering ein, dass Deutschland seinen Wettbewerbsrückstand schnell aufholen könne. Als größte Hindernisse nennen 76 Prozent strenge gesetzliche Vorgaben, 62 Prozent lange Genehmigungsverfahren. Was sagt uns all das?
Die Debatte um die angebliche Bürokratisierung und Überregulierung durch die EU-Kommission hat den Nachteil, dass die Forderungen nach dem Abbau von Regeln schnell zu Gemeinplätzen werden. Wenn man dann in die Detailregelungen hineinschaut, stellt sich rasch die Frage: Sind wirklich einzelne Regeln das Problem – oder vielmehr die Umsetzung, wie wir sie in Deutschland betreiben? Eines trifft in jedem Fall zu: Wir müssen in der Forschungsförderung vieles wieder einfacher machen, wir müssen weg von einer Kontrollkultur zu einer Vertrauenskultur. Wir haben zu große Kontrollapparate aufgebaut, die müssen wir entschlacken. Das erfordert mutige Entscheidungen in der neuen Legislaturperiode.
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Reisender (Samstag, 15 Februar 2025 10:54)
Danke für dieses Interview! Wir müssen allen Widrigkeiten zum Trotz darauf achten, dass wir (gemäß Heitor, Draghi,...) nicht alle Forschung in Europa nur den "Low Hanging Fruits" opfern und nur noch marktnahe Technologien fördern. Es bedarf auch einer verlässlichen Förderung der Grundlagenforschung (TRL 1-3) und auch der angewandten Grundlagenforschung (TRL 4-6). Damit können wir Innovationen von Morgen und Übermorgen vorbereiten. Und wenn die EU Geld sucht, wie wäre es mit den Agrarsubventionen? Aber schon klar, dass das nichts geben wird...
David J. Green (Sonntag, 16 Februar 2025 19:04)
Auch von mir vielen Dank für das interessante Interview. Zwei Anmerkungen:
1) Ein bisschen befürchte ich, dass die für den Haushalt verantwortlichen das Interview so lesen könnten, dass es nur um den Fortbestand eines unabhängigen Forschungsressorts, der ERC, EIC und ausgewählte relevante Schlüsseltechnologien umfasst, geht: ich vermute aber, dass die bisherige EU-Forschungsförderung deutlich umfangreicher ist.
2) Sehr gerne würde ich ein zweites Interview lesen, wo die Aussage “nicht die EU-Regeln, sondern die deutsche Umsetzung” aus dem letzten Absatz ausgearbeitet wird.
Hans Mayr (Mittwoch, 19 Februar 2025 18:13)
″In Europa befindet sich die Förderung der Grundlagenforschung dagegen weiter ganz überwiegend in staatlicher .. Verantwortung″
Hat denn Herr Schütte nicht das Ohr z.B. der VW-Shareholder? Die könnten ja mal ein bisschen mehr blue-sky-mässig rumforschen lassen, es sei denn, sowas passt mit den Shareholder values tatsächlich nicht so gut zusammen.
manuel huber (Donnerstag, 20 Februar 2025 10:18)
Das wird wohl ein Spagat zwischen vielen Haltungen oder Notwendigkeiten werden:
- Amerikaner und Chinesen haben mit ihren Mitteln in der letzten Zeit mehr erreicht als Europa.
- Wirtschaftspolitiker müssen erkennen, dass Wettbewerbsfähigkeit auch Grundlagenforschung braucht (China hat es erkannt).
- Forschungspolitiker müssen erkennen, dass Forschung kein Selbstzweck ist (diese Haltung ist weitverreitet).
- Alle müssen erkennen, dass Horizont Europa nur einen kleinen Teil der öffentlichen Forschungsförderung in Europa abbildet und wohl eher Prioritäten setzen sollte statt alle Bereiche fördern zu wollen.
Es dürfte also tatsächlich noch spannend werden.