Ein Land und sein Lieblingsabschluss
Die Deutschen lieben das Abitur – vor allem die, die keines haben. Eine neue Umfrage zeigt, wie widersprüchlich das Verhältnis zum höchsten Schulabschluss ist.
Welche Rolle sollte der Elternwille beim Schulwechsel spielen? Foto: freepik.
DIE GRÖßTEN FANS hat das Abitur bei denen, die es nicht gemacht haben. In einer Forsa-Umfrage antworteten 75 Prozent der Teilnehmer mit Hauptschulabschluss: "Die bestandene Abiturprüfung soll weiterhin die entscheidende Voraussetzung für die Aufnahme eines Hochschulstudiums sein." Von den Befragten mit mittlerem Schulabschluss sagten dies nur 65 Prozent, von denen mit Abitur 69 Prozent.
Doch das war nicht das Ergebnis, das der Auftraggeber der repräsentativen Umfrage, der Deutsche Philologenverband (DPhV), in den Vordergrund rückte. Und auch nicht, dass bundesweit immerhin 29 Prozent dafür plädierten, der Abiturprüfung ihre zentrale Rolle als entscheidende Voraussetzung für ein Hochschulstudium zu nehmen – in den westdeutschen Bundesländern sogar 31 Prozent.
Der Philologenverband verkündete stattdessen, die Ergebnisse bestätigten "den oft infrage gestellten Leistungsgedanken des Gymnasiums: Die Mehrheit der Befragten befürwortet, dass nicht allein der Elternwille ausschlaggebend beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule sein sollte – hier solle vor allem die Leistung der Kinder zählen".
Eine durchaus mutige Interpretation freilich der tatsächlichen Fragestellung. Die lautete: "Die Entscheidung darüber, ob ein Kind nach der Grundschule auf das Gymnasium oder auf eine andere weiterführende Schule wechselt, sollte abhängen" entweder "ausschließlich vom Elternwillen" (das befürworteten nur sechs Prozent) oder "auch vom Leistungsvermögen der Schüler und der Einschätzung der Lehrkräfte" (92 Prozent stimmten zu). Da steht nichts von "vor allem". Und: Wer sich mit Umfragetechnik auskennt, weiß, dass ein Nebeneinanderstellen zweier so unterschiedlich streng formulierten Antwortoptionen meist zur Wahl der inklusiveren führt.
Zutreffend ist immerhin, wenn der Philologenverband außerdem schlussfolgert: "Der Elternwille steht bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht über dem Leistungsgedanken."
Freilich schlägt das Pendel in der Bildungspolitik ohnehin längst in die Gegenrichtung aus. So hat das Land Berlin eine Mindestnote für den Übergang zum Gymnasium eingeführt, auch Baden-Württemberg hat die Regeln verändert, so dass neben dem Elternwillen ein Noten-Mindestschnitt oder das entsprechende Abschneiden an einem Kompetenztest nötig ist. Länder wie Bayern oder Sachsen haben den Zugang ohnehin strikt geregelt – während anderswo tatsächlich der Elternwille ausschlaggebend ist.
Und sonst? Sagen 85 Prozent der Befragten, die Leistungsanforderungen an Schülerinnen und Schüler am Gymnasium sollten auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Ob man aus all dem wie die DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing ableiten kann, dass die Mehrheit der Bevölkerung "eine stärkere schulische Leistungsorientierung" wolle, kann man hinterfragen – dazu bräuchte es den Vergleich mit ähnlichen Umfragen aus vergangenen Jahren.
Warum ausgerechnet diejenigen mit Abitur ihm laut Umfrage weniger Bedeutung beimessen als frühere Hauptschüler – diese Frage würde eine Debatte anstoßen, an dem der Philologenverband vermutlich weniger interessiert ist: wie sich der Hochschulzugang endlich stärker für beruflich Qualifizierte öffnen ließe. Zwar hat sich die Zahl der Studierenden ohne Abitur in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt – liegt aber immer noch bei nicht einmal drei Prozent aller Studierenden. Und das, obwohl laut Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) schätzungsweise vier von fünf Personen in Deutschland aufgrund ihrer schulischen oder beruflichen Qualifikationen studieren könnten.
Die DPhV-Bundesvorsitzende Lin-Klitzing schießt stattdessen mit Verweis auf den enttäuschend ausgefallenen IQB-Bildungstrend scharf gegen die Bildungsminister. Der habe besorgniserregende Leistungseinbrüche auch am Gymnasium offenbart. "Den Leistungsgedanken infrage zu stellen, ist aus Sicht der Bevölkerung der falsche Schluss. Was allerdings infrage gestellt werden muss, sind die inhaltlich im Anspruch verflachten bildungspolitischen Entscheidungen der letzten 25 Jahre."
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Kommentare
#1 - Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber*innen
Lieber Herr Wiarda,
der Rechtsrahmen für den Zugang von Personen, die kein Abitur respektive keine Fachhochschulreife, aber eine Berufsausbildung und Berufserfahrung aufweisen ist in allen Bundesländern eröffnet! Alle Hochschulen sind zur Aufnahme dieser Bewerberinnen und Bewerber verpflichtet. In Zeiten sinkender Studierendenzahlen freuen sich die meisten Hochschulen auch über Bewerberinnen und Bewerber ohne Abitur/Fachhochschulreife. Ich kann mir die Zurückhaltung nur mit der nach wie vor guten volkswirtschaftlichen Lage sowie den vielfältigen Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten nach der betrieblichen Ausbildung erklären.
Mitglied seit
10 Monate 3 Wochen#1.1 - Hochschulzugang
Lieber Herr Wassink,
die Rechtslage ist mir bewusst. Deshalb auch der Hinweis, dass 4 von 5 Erwachsenen in Deutschland studieren dürfen theoretisch. Trotzdem ist der Hochschulzugang faktisch nicht offen genug, sonst wären die Zahlen längst andere. Es handelt sich meines Erachtens um ein Bekanntheits-, ein Bürokratie– und ein kulturelles Problem. Aber das wäre Gegenstand eines eigenen Artikels. Ihre Einschätzung teile ich allerdings nicht: Die Universitäten tun zu wenig, gerade in Sachen Teilzeitstudiengänge und berufsbegleitende Angebote, und viele beruflich Qualifzierte wissen einfach nicht genug von den Möglichkeiten.
Zwei ältere Artikel von mir zum Thema:
https://www.jmwiarda.de/2022/03/14/bildungspolitische-ignoranz
https://www.jmwiarda.de/2022/10/28/der-wettbewerb-dem-sich-die-hochschulen-jetzt-stellen-muessen/
Beste Grüße
Ihr Jan-Martin Wiarda
#1.2 - Jobstatistik
Zur Ernüchterung von dem Rausch der massenhaften Hochschul-Examina schlage ich mal das Erstellen einer ungewöhnlichen Statistik vor: Wie viele der Hochschulabsoventen der letzten (zum Beispiel: 10) Jahre haben nicht nur einen dauerhaften Job (sind also nicht arbeitslos), sondern haben einen dauerhaften Job in einem Beruf, der direkt mit ihrem Studienfach und ihrem Examen konform geht? Und wie viele werden nicht nur als Werkstudenten, sondern auch nach ihrem Examen zum offiziellen Mindestlohn beschäftigt oder nur knapp darüber? Es sieht nämlich so aus, als hätten Hochschulabsolventen wachsende Probleme, einen Job zu finden, der ihrer Qualifikation inhaltlich entspricht. In der Presse ist das durchaus schon bemerkt worden, aber präzise Zahlen scheinen zu fehlen:
https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Schwierige-Jobsuche-Junge-Menschen-kaempfen-mit-dem-Berufseinstieg,berufseinstieg-100.html
Freunde in USA haben mir erzählt, es sei dort ganz normal, nach einem Hochschulabschluss in einem geisteswissenschaftlichen Fach dann Restaurantmanager bei einer Fast-Food-Kette zu werden. Aber brauchen wir das auch in Deutschland?
#1.2.1 - Kurzschluss Studium - Beruf
Lieber Herr Kühnel,
Ihre Frage und Ihr Thema sind berechtigt - aber doch zu einfach:
"Wie viele der Hochschulabsoventen der letzten (zum Beispiel: 10) Jahre haben nicht nur einen dauerhaften Job (sind also nicht arbeitslos), sondern haben einen dauerhaften Job in einem Beruf, der direkt mit ihrem Studienfach und ihrem Examen konform geht?"
Mit ganz wenigen Ausnahmen - zB Staatexamen Jura, Medizin, Pharmazie - gibt es diese "Konformität" eh nicht. Dies geht von den geisteswissenschaftlichen Studiengängen und -abschlüssen (was wäre ein "konformer" Beruf für einen Historiker M.A.?) über die Wiwis (ist eine Selbständigkeit als... zB Eventmanager konform mit einem Bachelor BWL? oder wäre das auch ohne Studium gegangen? Hilft es vielleicht trotzdem?) bis hin zu den gerne "hart" genannten Abschlüssen im technischen Bereich (ist ein Abschluss im Maschinenbauch konform mit einer Tätigkeit als Projektmanager bei VW?).
In einer komplexen Wissensgesellschaft ist diese Form der Konformität leider kaum möglich. Und das ist durchaus ein Qualitätsmerkmal.
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