Wie viel arbeiten Lehrkräfte wirklich?
Sachsen ist dieser Frage mit einer bislang einzigartigen Arbeitszeitstudie nachgegangen – und liefert die Grundlage für eine Debatte, die bald alle Länder führen müssen.
Bild: creativeart / freepik.
NOCH NIE hat ein Bundesland die Arbeitszeit seiner Lehrkräfte so vollständig, so systematisch und so repräsentativ erfassen lassen wie Sachsen. Ein ganzes Schuljahr lang, verpflichtend für über 4000 zufällig ausgewählte Lehrerinnen, Lehrer und Schulleitungen, begleitet durch die Beratungsagentur Prognos.
Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Das Wichtigste: Die Arbeitzeit der sächsischen Vollzeitlehrkräfte liegt, über das gesamte Jahr gerechnet, im Soll. Im Schnitt arbeiten sie 0,6 Prozent weniger als vorgesehen – Teilzeitlehrkräfte allerdings 5,8 Prozent mehr, was 1,4 Stunden pro Woche entspricht. "Die Studie zeigt: Es gibt keine systematische Überlast im Schulsystem", sagt Sachsens Bildungsminister Conrad Clemens (CDU). "Die Hälfte der Lehrkräfte arbeitet mehr, die andere weniger – das ist differenzierter, als viele glauben."
Stärker hervor stechen allerdings die Schulleitungen. Sie leisten im Jahresmittel wöchentlich 2,6 Stunden mehr als das Soll, in Schulwochen sogar 4,8 Stunden.
Zwischen Spitzenbelastung und Leerlauf
Zumindest für Lehrkräfte aber relativiert die Studie tatsächlich den möglichen Eindruck, sie würden flächendeckend weit über ihre Pflichtstunden hinausarbeiten. Wobei das für das statistische Mittel gilt, denn die individuellen Abweichungen waren enorm: 25 Prozent der Vollzeitlehrkräfte hätten, berichtet Prognos, in der Schulzeit im Schnitt weniger als 37,3 Stunden gearbeitet, weitere 25 Prozent aber über 45 Stunden – bei gleicher Soll-Vorgabe.
Weniger überraschend: Über das Schuljahr hinweg schwankt die Arbeitszeit bei allen Lehrkräften stark. In Prüfungs-, Zeugnis- und Planungsphasen schießt sie im Durchschnitt deutlich über die Norm hinaus, in Ferienzeiten fällt sie auf unter zehn Stunden, teils fünf Stunden pro Woche. Was so wenig ist, dass es dann doch wieder erstaunt: Eigentlich werden auch für Lehrkräfte nur sechs Wochen Urlaub pro Jahr angesetzt. Auf zwölf Monate geglättet ergibt sich nahezu ein Ausgleich, der Befürchtungen, Lehrkräfte seien grundsätzlich überarbeitet, zumindest für Sachsen und den Erhebungszeitraum widerspricht: Belastungsspitzen ja, Dauerüberlastung nein.
"Dabei muss man bedenken, dass die Lehrkräfte ihre Arbeitszeit selbst eingetragen haben", betont Minister Clemens. Die Studie sei daher für ihn "ein echter Realitätscheck".
Spannend wird sein zu sehen, wie Lehrkräftevertreter und Gewerkschaften die Studie kommentieren werden – nun, da ihre Ergebnisse öffentlich ist.
Wie gearbeitet wird – nicht nur wie viel
In jedem Fall gilt:Wer nur auf die Stundenzahlen schaut, übersieht eine zentrale Aussage der Studie. Entscheidend ist nämlich nicht nur, wie viel gearbeitet wird – sondern wie. Laut Prognos ist der Arbeitsalltag von Lehrkräften und Schulleitungen stark von organisatorischen Anforderungen, zusätzlichen Aufgaben und begrenzter Planbarkeit geprägt. Besonders belastend seien weniger die pädagogischen Kernaufgaben als vielmehr unklare Prozesse, fehlende Ressourcen und Tätigkeiten, die sich kaum steuern lassen. Die Belastung, so heißt es in der Studie, hänge "nicht allein vom Zeitaufwand einzelner Tätigkeiten" ab, sondern vor allem von den "strukturellen, organisatorischen und kollegialen Rahmenbedingungen", unter denen sie stattfinde.
Die Schulart etwa beeinflusst nicht nur den Umfang, sondern ebenso die Struktur der Arbeitszeit. An berufsbildenden Schulen und Förderschulen ist das Verhältnis von Ist- zu Sollzeit vergleichsweise ausgeglichen. Gymnasiallehrkräfte hingegen arbeiten im Durchschnitt häufiger mehr als vorgesehen – ebenso, unter den Teilzeitkräften, viele Grundschullehrkräfte.
Die Art der Tätigkeit unterscheidet sich ebenfalls deutlich: Grundschullehrkräfte verbringen einen größeren Teil ihrer Zeit im Unterricht, Gymnasiallehrkräfte investieren besonders viel in Korrekturen und Vorbereitung, Förderschullehrkräfte wiederum in die individuelle Unterstützung ihrer Schülerinnen und Schüler. Diese Unterschiede zwischen den Schularten sind statistisch signifikant. Mit zunehmender Mehrarbeit sinkt der Anteil der Unterrichtszeit, während der Aufwand für Vorbereitung, Organisation, Zusammenarbeit und außerunterrichtliche Aufgaben steigt. Mehrarbeit entsteht also vor allem dort, wo Lehrkräfte ihren Arbeitstag individuell gestalten – und wo zusätzliche organisatorische Anforderungen hinzukommen.
Was Fächer, Funktionen und Haltungen bewirken
Auch die Fächer wirken auf die Arbeitszeit – allerdings nur in begrenztem Maß. In der Grundschule verzeichneten Lehrkräfte mit Mathematik, Sachunterricht oder Religion leicht höhere Werte, am Gymnasium fiel der Mehraufwand besonders bei Deutsch auf – ein Effekt des umfangreicheren Korrekturpensums. An Förderschulen wiederum zeigten sich Mehrarbeitszeiten bei Deutsch- und MINT-Fächern, während Kunst, Musik und Sport tendenziell mit geringerer Belastung verbunden waren. Insgesamt fallen diese Unterschiede laut Prognos zwar "signifikant, aber schwach ausgeprägt" aus – sie erklären also nur einen kleinen Teil der beobachteten Streuung.
Ähnliches gilt für schulbezogene Merkmale wie Klassenleitung, Anrechnungsstunden, Unterricht in höheren Klassen oder größere Lerngruppen: Sie beeinflussen die Arbeitszeit zwar messbar, aber ebenfalls nur punktuell. Die Forscherinnen und Forscher schließen daraus, dass es neben den strukturellen Bedingungen vor allem die individuellen Arbeitsstile und Haltungen sind, die zu den teils erheblichen Unterschieden führen – und dass die Komplexität dieser Zusammenhänge weiterer Forschung bedarf.
Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, die die bildungspolitische Debatte über die Arbeitszeit an Schulen neu sortieren könnte. Denn sie verschiebt den Fokus: weg von der alleinigen Frage, ob Lehrkräfte zu viel arbeiten, hin zu der, unter welchen Bedingungen sie sinnvoll arbeiten können. Belastung entsteht dort, wo Verantwortung groß, Gestaltungsspielraum klein und die Steuerbarkeit gering ist. Besonders Schulleitungen leiden unter dieser Diskrepanz. Sie sollen führen, organisieren, moderieren – und tun das unter Bedingungen, die kaum planbar sind.
"Wir müssen uns vor allem fragen, wie wir Lehrkräfte entlasten können, die zu viel Zeit in Vor- und Nachbereitung stecken", betont Clemens. "Das ist der größte Zeitblock überhaupt – und er nimmt auch mit zunehmender Berufserfahrung nicht so stark ab, wie ich gedacht hätte. Gerade da müssen wir ansetzen, mit gezielter Unterstützung, mit Austauschformaten, mit einer besseren Organisation."
Konkret nennt Clemens digitale Werkzeuge für Unterrichtsplanung und Materialverwaltung, kollegiale Hospitationen, zusätzliche Zeitbudgets für Teamarbeit und Unterrichtsentwicklung, multiprofessionelle Teams sowie den Ausbau von Verwaltungsassistenzen, um Lehrkräfte von Bürokratie zu entlasten. "Wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen, kann diese Studie ein Ausgangspunkt für spürbare Verbesserungen sein." Dafür habe sein Ministerium ein Expertengremium eingesetzt, das konkrete Vorschläge machen solle.
Von Sachsen nach Bremen
Gleichzeitig fällt die Veröffentlichung der Studie in eine hoch aufgeladene bildungspolitische Debatte in Sachsen. Erst wenige Monate zuvor hatte Clemens ein Maßnahmenpaket zur Sicherung des Schulbetriebs vorgelegt – und damit massive Kritik unter anderem der GEW ausgelöst. Die Gewerkschaft sprach von "Scheinbeteiligung" und "strategischem Geschacher", weil die Vorschläge ihrer Ansicht nach ohne echte Mitwirkung der Beschäftigten entstanden seien. Besonders umstritten war die Reduzierung der Altersermäßigung für ältere Lehrkräfte, die künftig weniger Entlastungsstunden erhalten sollen, ebenso wie der geplante verstärkte Einsatz von Seiten- und Quereinsteiger:innen zur Unterrichtsabsicherung. Beides hatte den Ärger vieler Kollegien zusätzlich befeuert, es laufen auch Klagen.
Was das für die Entwicklung der Lehrerarbeitszeit bedeutet? Das beantwortet die heute veröffentlichen Ergebnisse nicht mehr. Fest steht aber: Verglichen mit früheren Arbeitszeituntersuchungen war der sächsische Ansatz ein methodischer Sprung. Die bisherigen Studien, etwa in Niedersachsen, kamen zu teilweise deutlich höheren Wochenarbeitszeiten – beruhten aber auf einer freiwilligen Teilnahme von Lehrkräften, was zu Selbstselektion geführt haben dürfte. Demgegenüber arbeitete die Prognos-Zufallsstichprobe, in Auftrag gegeben vom Staatsministerium, auf der Grundlage einer verpflichtenden Teilnahme über das gesamte Jahr hinweg, mit Plausibilitätsprüfungen und Abgleich mit Personaldaten.
Schon lange drängt das Bundesarbeitsministerium (BMAS) auf eine allgemeine Arbeitszeiterfassung – auch für Schulen. Hintergrund ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019, das Arbeitgeber verpflichtet, ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" zur Messung der täglichen Arbeitszeit einzuführen. Diese Pflicht gilt für alle Beschäftigten – auch für den öffentlichen Dienst.
Das BMAS hat mehrfach betont, dass es keine Sonderregelungen für Lehrkräfte oder Hochschulen geben werde. Die Kultusminister wiederum haben bei der Umsetzung des EuGH-Urteils lange auf Zeit gespielt. Es wurde geprüft, diskutiert, abgewartet, ob vielleicht doch noch ein Sonderweg für Schulen gefunden werden könne. Man verwies auf die Besonderheiten des Lehrerberufs, auf die vermeintliche Unvereinbarkeit von Vertrauensarbeitszeit und Stundenaufzeichnung. Doch mit der nun eindeutigen Rechtslage bleibt kaum Spielraum: Erfasst werden muss – die Frage ist nur, in welcher Form.
In Bremen geht man bereits einen Schritt weiter. Ab dem Schuljahr 2026/27 soll dort das bundesweit erste Pilotprojekt zur digitalen Arbeitszeiterfassung starten. "Während andere Bundesländer noch abwarten, werden wir in Bremen mit dem Pilotprojekt zeigen, wie Arbeitszeiterfassung im Schulalltag gelingen kann", sagte die damalige Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp (SPD), nachdem der Senat das Projekt im Mai 2025 beschlossen hatte. Bemerkenswert dabei: Nachdem Aulepp im Juli zurückgetreten war, wurde vor wenigen Tagen Mark Rackles (ebenfalls SPD) zu ihrem Nachfolger bestimmt – einer der Vordenker von Modellen zur Erfassung der Lehrerarbeitszeit, der bereits 2023 im Auftrag der Telekom-Stiftung eine Expertise zum Thema erarbeitet hatte.
Sachsen liefert die Daten, Bremen den Feldversuch. Die Frage, was daraus wird, müssen alle Länder bald beantworten.
Nachtrag am 13. Oktober, 14 Uhr:
Erste Reaktionen
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) meldete sich kurz nach Veröffentlichung der Studie zu Wort. Die sächsische Untersuchung bestätige, dass die Schulart Gymnasium und insbesondere die Arbeit in der gymnasialen Oberstufe zu den höchsten Arbeitszeitbelastungen der Lehrkräfte führten. "Gymnasiallehrkräfte arbeiten mehr als Lehrkräfte an anderen Schularten", sagte die DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing. Vollzeit- wie Teilzeitlehrkräfte leistete deutliche Mehrarbeit. "An die Bildungsministerinnen und -minister der Länder senden wir den eindeutigen Appell: Senken Sie endlich unsere Belastungen!" Die Lehrkräfte müssten entlastet die Verwaltrungsaufgaben reduziert werden. Die Regelstundenzahl müsse sinken, für jede Zusatzaufgabe eine andere entfallen.
Die GEW Sachsen kommentierte, die Studie bestätigt weitgehend bisherige Untersuchungsergebnisse und ziehe den aktuellen Maßnahmen des Kultusministeriums "den Boden unter den Füßen weg". Es sei ein gravierender Fehler gewesen, das Maßnahmenpaket zur Sicherung des Schulbetriebs vor den Studienergebnisse einzuführen. "Mit der veränderten Situation an den Schulen werden die Erkenntnisse aus der Studie, die den Zeitraum vor den Maßnahmen untersucht, deutlich geschmälert." Eines solle klar sein: "Mit der Studie ist die verpflichtende Vorgriffsstunde vom Tisch."
Igor Bastian leitet ein großes Berufliches Schulzentrum in Pirna bei Dresden und war Studienteilnehmer. Er sagt: "Aus eigener Erfahrung und nunmehr auch wöchentlich nachweisbar kann ich feststellen, dass ich sehr regelmäßig sehr deutlich über den 40 Pflichtarbeitsstunden je Arbeitswoche lag." Natürlich stelle er sich nun die Frage, wie sein Arbeitgeber mit den Ergebnissen umzugehen und vor allem gegenüber den "Mehrleistern" seiner Fürsorgepflicht nachzukommen gedenke. Bisher beschränke sich die Mehrarbeitsregelung ausschließlich auf die Vergütung von zusätzlichen Unterrichtsstunden.
Kommentare
#1 - Arbeitszeitstudie Niedersachsen
In Niedersachsen wurde auch schon mal eine Arbeitszeitstudie durchgeführt: https://www.gew-nds.de/fileadmin/media/sonstige_downloads/nds/Mehrarbeit/Niedersaechsische-Arbeitszeitstudie2015-2016-Endbericht.pdf
Neuen Kommentar hinzufügen