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Die Essenz der 95 Thesen

Sackgasse Wissenschaft: Deutschland setzt hochqualifizierte Wissenschaftler*innen auf die Straße und verschleudert Ressourcen. Doch unsere Twitteraktion "#95vsWissZeitVG" zeigt: Die Betroffenen sind immer weniger bereit, ein solches System hinzunehmen. Ein Gastbeitrag von Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon.

Plakat mit den 95 Twitter-Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz – erstellt von David Adler und abrufbar auf seiner Website

DAS WISSENSCHAFTSZEITVERTRAGSGESETZ (WissZeitVG) ist ein rotes Tuch für Wissenschaftler*innen in Deutschland: Es zerstört ebenso grundlos wie nachhaltig einen erheblichen Anteil wissenschaftlicher Karrieren. Selbst die klügsten Köpfe können das Ende ihrer Karriere aus eigener Kraft nicht verhindern. Denn die im WissZeitVG festgeschriebene Höchstbefristungsdauer ist blind gegenüber den Verdiensten derer, die sie trifft: Wer nach 12 Jahren keine der raren Professuren oder der noch rareren Dauerstellen im Mittelbau ergattert, muss auch dann aus dem Wissenschaftssystem ausscheiden, wenn sie*er wissenschaftlich herausragend ist, exzellente Lehre anbietet und sich noch dazu in der akademischen Selbstverwaltung und der Wissenschaftskommunikation engagiert.

 

Die Bereitschaft, diese Situation hinzunehmen, schwindet zunehmend. Immer häufiger ergreifen Wissenschaftler*innen das Wort gegen die Missstände, die für Arbeitnehmer*innen in Deutschland beispiellos und in anderen Branchen unvorstellbar sind. Jüngst haben sie das in großer Zahl auf Twitter unter dem Hashtag "#95vsWissZeitVG" getan: Unserem Aufruf, in Anlehnung an den Reformationstag 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu sammeln, sind hunderte Wissenschaftler*innen gefolgt – die Resonanz war riesig. 

 

Um die Quintessenz der Twitter-Diskussion auf Dauer zu bewahren, haben wir mehr als 2.000 Tweets zum Thema gesichtet, redaktionell überarbeitet und die so gewonnenen, zugespitzten 95 Thesen zur Verfügung gestellt. Die Thesen – von denen jede eine eigene Nuance ins Spiel bringt – haben wir thematisch gruppiert und mit erläuternden Zwischenüberschriften versehen. Auf diese Weise ist es nun möglich, das Thesenpapier rasch zu überblicken und gezielt Diskussionsschwerpunkte zu setzen.


Kristin Eichhorn ist Literaturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Amrei Bahr ist Philosophin und 1issenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sebastian Kubon ist Mediävist und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg (von links). Fotos: privat.


Dabei wird schnell deutlich: Deutschland setzt mit dem WissZeitVG einen erheblichen Prozentsatz seiner Wissenschaftler*innen nach einer willkürlichen Frist auf die Straße, nachdem immense öffentliche Mittel in deren Qualifikation geflossen sind. Der Staat betreibt also Steuergeldverschwendung par excellence. Es gibt viele gute Gründe, warum in der freien Wirtschaft ein solches Vorgehen nicht üblich ist. Nicht einmal die 12 Jahre bis zum Erreichen der Höchstbefristungsdauer sind allen Wissenschaftler*innen sicher: Üblicherweise reiht sich ein kurz befristeter Arbeitsvertrag an den nächsten, Teilzeitstellen bei gleichzeitiger Erwartung einer Vollzeit-Arbeitsleistung gehören zum Standardprogramm. Auch regelmäßige Phasen der Arbeitslosigkeit ihrer herausragend qualifizierten Mitglieder durch nicht nahtlos aneinander anschließende Verträge nimmt der Wissenschaftsbetrieb mit einem Achselzucken hin; dass Forschungsprojekte auf Arbeitslosengeld I oder II zu Ende geführt werden, sind aufgrund der Gesetzeslage und ihrer Anwendung in der Praxis keine Einzelfälle. 

 

Hier besteht dringend Handlungsbedarf: Das WissZeitVG, das eigentlich der Regulation und Eindämmung der Befristung von Wissenschaftler*innen dienen sollte, bewirkt das Gegenteil. Die durch das Gesetz verursachten prekären Lebensumstände schüren allzu berechtigte Existenzängste und werden zur dauerhaften psychischen Belastung. Sie zwingen jede*n, die*der auf die wissenschaftliche Karriere setzt, für die Minimalchance auf Entfristung Erhebliches in diese Karriere zu investieren: Überstunden an Wochenenden, Nachtschichten, verfallene Urlaubstage und Arbeiten bis zur Erschöpfung. Viele Wissenschaftler*innen stellen ihren Wunsch nach Familie zurück oder versuchen den Spagat zwischen Care-Arbeit und Wissenschaft.  Dabei pendeln sie zwischen immer wieder wechselnden Arbeitsstellen. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, dass viele in Deutschland ausgebildete Wissenschaftler*innen ins Ausland abwandern. Denn für qualitativ hochwertige Forschung und Lehre fehlen in Deutschland angemessene rechtliche Rahmenbedingungen. Gegenwärtig werden Forschung und Lehre von der hohen intrinsischen Motivation der Forscher*innen getragen, die trotz dieser Widerstände weiter bereit sind, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in Forschung und Lehre nachzukommen. Die Diskussion um "#95vsWissZeitVG" zeigt jedoch, dass diese Bereitschaft keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

 

Die entstandene Diskussion darf bei der Kritik an den juristischen Rahmenbedingungen unseres Wissenschaftssystems indes nicht stehenbleiben. Denn letztlich geht es um mehr als ein Gesetz. Es geht um die gesamte prekäre Arbeitssituation in deutschen Forschungseinrichtungen, um einen viel grundsätzlicheren Reformbedarf. Die in den 95 Thesen benannten Aspekte geben erste Anhaltspunkte, wie ein System aussehen könnte, das eine kreative und vielfältige Forschung nachhaltig befördert, anstatt sie zu behindern. Dies betrifft auch die Frage, wie eine solide Hochschulorganisation und -finanzierung beschaffen sein sollte. Erst wenn nicht mehr Karriere und Leben gegeneinander ausgespielt werden, ist der Weg geebnet hin zu einer wahrhaft offenen, innovativen und diversen Wissenschaft – die einer eben solchen Gesellschaft angemessen wäre.

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Kommentare: 20
  • #1

    Th. Klein (Freitag, 04 Dezember 2020 10:19)

    "Es gibt viele gute Gründe, warum in der freien Wirtschaft ein solches Vorgehen nicht üblich ist." - Verweise auf die Wirtschaft finde ich in diesem Kontext problematisch. Immerhin schafft das WissZeitVG einen Sonderatbestand bei den Befristungsmöglichkeiten, den die Wirtschaft nicht nutzen kann. Ohne das WissZeitVG würde man dem Teilzeit- und Befristungsgesetz unterliegen, was viel düsterer wäre. Bei aller Kritik muss man auch eingestehen, dass die Wissenschaft viel mehr Spielraum hat, und dieser nicht nur zum Schlechten eingesetzt wird.

    Statistiken zu den Befristungen finde ich grundsätzlich problematisch, da sie so tun, als ob alle in einem großen Konzern arbeiten würden, und man das schon alles schön glatt ziehen könnte. Ich habe eine Forschungsgruppe aus 3-4 WiMa + SHK koordiniert. Wenn jemand davon für ein Jahr ins Ausland geht oder in Elternzeit, dann können eben Andere nur für ein Jahr einspringen. Daran wird keine Gesetzgebung und kein guter Wille etwas ändern (und die Statistik verbessern). Die Inhaber:innen der Stellen erhalten Entwicklungsmöglichkeiten, und die Ersatzpersonen ebenso (wenn auch nur für 1 Jahr, die Alternative sind 0 Jahre und nicht eine unbefristete Stelle). Mir ist die Diskussion zu einseitig.

  • #2

    Edith Riedel (Freitag, 04 Dezember 2020 10:54)

    Ich kann Th. Klein hier nur zustimmen. Die Statistiken zu Befristungen müssen differenziert betrachtet werden. Verträge, die aufgrund einer Krankheits-, Mutterschutz- oder Elternzeitvertretung befristet sind, müssen separat betrachtet werden. Ebenso Kurzzeitverträge, die zur Überbrückung zwischen zwei Drittmittelverträgen ausgestellt werden, oder auch Kurzzeitverträge, die nach einer regulären Förderzeit den Abschluss von Projekten ermöglichen (ich denke da z.B. an Kurzzeitverträge, die nach der regulären Förderzeit von 36 Monate für eine Promotion vergeben werden, damit Menschen diese Promotion auch abschließen können). Nur bei einer differenzierten Betrachtung können sinnvolle Lösungsansätze für diese komplexe Problematik entwickelt werden.

  • #3

    egal (Freitag, 04 Dezember 2020 12:39)

    Den beiden ersten Kommentaren stimme ich dahingehend zu, dass man differenzieren müsse (Wo gilt das, bitteschön, nicht?). Aber in welchem Verhältnis stehen denn die beschriebenen Fälle - Auslandsjahr, Elternzeit, Projektüberbrückung, Krankheit
    - zur Gesamtzahl des wissenschaftlichen Personals?
    Dort, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hervorragende Arbeit leisten, Daueraufgaben übernehmen (vor allem, aber nicht nur in der Lehre) und Vorgesetzte eine Daueranstellung wünschen, kann das Gesetz doch nicht die Barriere sein, zumal es ein faktisches Berufsverbot bedeutet.

    (Ich bin nicht mehr selbst betroffen und froh, heute - im Ausland - als Vorgesetzter meinem wissenschaftlichen Personal eine langfristige Perspektive eröffnen zu dürfen.)

  • #4

    Mark Schmitt (Freitag, 04 Dezember 2020 13:31)

    @Th Klein und Edith Riedel:

    Mit Verlaub, aber Sie bringen hier völlig unterschiedliche gesetzliche Sachlagen durcheinander. Das WissZeitVG ist kein Gesetz zur Regelung von Eltern- oder Krankheitszeitvertretungen; diese werden nach eigenen entsprechenden Gesetzen geregelt.

  • #5

    Th. Klein (Freitag, 04 Dezember 2020 14:50)

    "Dort, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hervorragende Arbeit leisten, Daueraufgaben übernehmen (vor allem, aber nicht nur in der Lehre) und Vorgesetzte eine Daueranstellung wünschen, kann das Gesetz doch nicht die Barriere sein, zumal es ein faktisches Berufsverbot bedeutet."
    Für eine Daueranstellung ist das WissZeitVG ja nie die Barriere. Dies liegt doch nur am Stellenplan u.ä. Das WissZeitVG regelt ja nur die Befristung.

    Vieles wird hier vor dem Hintergrund allgemeiner Unzufriedenheit, insbes. hinsichtlich Befristungen, durcheinandergebracht und dem WissZeitVG angelastet. Ich nehme mal Beispiele aus den 95 Thesen:
    _ "da während der Projektarbeit schon das nächste Projekt entstehen und beantragt werden muss." (Nr. 12) - Dafür ist das Finanzierungssystem von Forschung verantwortlich, ggf. die Dauer von Begutachtungen usw. Mal abgesehen davon, dass während eines laufendes Projektes ganz natürlich weitere Ideen entstehen, die zu Folgeprojekten führen. Das WissZeitVG ist für diesen Mechanismus doch nicht ursächlich!
    _ "Förderlinien [...] laufen mittelfristig ins Leere, da das WissZeitVG eine Verstetigung von erarbeitetem Wissen, Kooperationen und inst. Vernetzungsstrukturen verhindert." (Nr. 16) - Hier ist doch zunächst die Befristung der Programme selbst und die mangelnden Mechanismen an den Hochschulen ursächlich. Für die benannten Ziele (Kooperationen etc.), sind mittel- und langfristig doch nicht Promovierende und PostDocs zuständig. Schlechtes Wissensmanagement und mangelnde Nachhaltigkeit hier vorrangig dem WissZeitVG anzulasten, finde ich unverhältnismäßig.
    _ "Das WissZeitVG führt Betroffene in die Altersarmut." (Nr. 74) Wie die Folgesätze verdeutlichen, ist die Teilzeitbeschäftigung doch viel stärker veranwortlich. Dass man Promovierende und auch PostDocs nicht 100%-Stellen gibt, ist doch viel stärker hierfür verantwortlich. Aber für die Praxis der Hochschulen und Professor:innen hinsichtlich der Nutzung ihrer Gelder (auch Drittmittel) kann doch das WissZeitVG nichts. Hier müssten die Geldgeber stärjker steuern.

    Gefühlt zwei Drittel des Thesen laufen darauf hinaus, dass das Übel schlechthin die Befristung der Beschäftigungen ist und das WissZeitVG für die Befristung ursächlich. Aber es gibt auch viele andere Faktoren, die in die beschriebenen Probleme hineinspielen. Außerdem regelt das WissZeitVG die Befristungen nur, es ist für Befristungen doch nicht verantwortlich. Die Finanzierungsmeachnismen des Wissensschaftssystems stehen hier doch in einer viel größeren Verantwortung.

  • #6

    Fumarius (Freitag, 04 Dezember 2020 17:33)

    Wenn schon differenzieren, dann bitte richtig: Verträge, die aufgrund Mutterschutz- oder Elternzeitvertretung befristet sind, sind i.d.R. nicht nach WissZeitVG befristet - zumindest gibt es keinen Grund dafür. Gleiches gilt für Projektstellen aus Drittmitteln.
    Und das WissZeitVG verbietet keinerlei Daueranstellung, es begrenzt lediglich die zulässige Befristung (gerade das war ja das ursprüngliche Ziel: Ketten-Befristungen eine Grenze zu setzen). Meines Erachtens ist daher nicht das WissZeitVG an sich das Problem, sondern der Umfang, in dem es quasi zur Standard-Rechtgrundlage für wissenschaftliche Beschäftigung geworden ist. Oder anders gesagt: Das exzessive Verständnis von (tatsächlicher oder vorgeblicher) "Qualifikation" ist das Problem. Wenn sich wirklich dauerhaft 70-80% auf befristeten Stellen für die 20% festen Stellen "qualifizieren", fallen notwendig viele "Qualifizierte" aus dem System. In letzter Konsequenz wurde die "Ausbildungsidee" des Studiums auf alle Qualifikationsstufen unterhalb der Professur ausgedehnt - "ausqualifiziert" ist in dieser Logik nur der/ Professor:in. Dieser (unsinnige) Gedanke ist m.E. das eigentliche Grundproblem.

  • #7

    Literaturwissenschaftlerin (Samstag, 05 Dezember 2020 11:16)

    In der Tat, angesichts der Dimensionen des Problems, das die Autor_innen eindrücklich resümieren, wirkt die oben geäußerte Kritik seltsam systemblind. Es braucht einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wissenschaftspolitik, was die Personalstrukturen der Hochschulen angeht. Überlegungen dazu finden sich in einem neuen Diskussionspapier des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft: https://mittelbau.net/diskussionspapier-personalmodelle/

  • #8

    Corina (Samstag, 05 Dezember 2020 13:02)

    Das Problem ist, dass das WissZeit die durchaus gerechtfertigte Begrenzung der Befristung den Angestellten und nicht dem Arbeitgeber anlastet. Aus dem Hochschuletat finanzierte Stelllen sollten nur begrenzt befristet ausgeschrieben werden dürfen, bzw. nur zu einem gewissen Prozentsatz befristete Stellen sein. Bei Drittmitteln ist die Befristung okay und sowieso immer möglich.

  • #9

    Michael Liebendörfer (Sonntag, 06 Dezember 2020 10:20)

    Die Thesen sind gut, weil sie eine Debatte anfeuern, wie Wissenschaft nicht organisiert sein sollte. Noch wichtiger wäre die konstruktive Debatte, wie Wissenschaft organisiert sein sollte.

    Das Grundproblem bleibt doch: Der Herr Professor hat zehn oder 15 Leute promoviert und macht am Ende das Büro für genau eine Nachfolgerin frei. Es werden immer Leute aus dem System ausscheiden.

    Auch das Diskussionspapier des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft stellt doch heraus: "Lösungen" könnten etwa so aussehen, viel weniger Leute überhaupt zur Promotion zuzulassen und dann trotzdem nur ca. 30 % der Promovierten in der Uni weiterzubeschäftigen. Besser scheint es nicht zu gehen.

    Ein Job an der Uni ist also im Regelfall ein Job auf Zeit.

    Insofern ist der Medienwirksamkeit der 95 Thesen noch mehr abzugewinnen. Wer promovieren will, sollte möglichst früh und deutlich erfahren, dass die Professur im Regelfall nicht kommt. Dieses Bewusstsein für die nächste Kurve im Karriereweg sollte man früh genug aufbauen. Da hilft es auch nichts, die verlorene Expertise durch Abgänge promovierter Leute zu beklagen. Das ist beim Wechsel vom Studium in einen Job doch in der Regel genauso.
    Überspitzt formuliert: Die Befürchtung, dass aufgebaute Qualifikation durch den weiteren Berufsweg "entwertet" wird, sollte man bei den meisten Studiengängen schon ab dem ersten Tag haben. Überraschend ist hier nur das verschwundene Selbstbewusstsein, denn hört man nicht zu Studienbeginn (gerade auch von angehenden Philosophinnen oder Mediävisten, aber ebenso von MINT-Leuten), dass die zu erlernenden wissenschaftlichen Arbeitsmethoden sie über spezifisches Fachwissen hinaus zu Expertinnen und Experten machen werden, die Welt zu verstehen - was man allerorten sucht!?

    Man sollte die Promotion mit anderen Karrierewegen vergleichen. In Unternehmensberatungen, Kanzleien oder Vorstandsassistenzen ist es doch dasselbe Spiel: Nach dem Studium versucht man ein paar Jahre lang durch herausragende Leistungen (incl. Nachtschicht, Wochenendarbeit, gelegentlicher Heuchelei) im eigenen Laden hochzukommen. Bei wenigen klappt's, der Rest findet andere Stellen und erzählt stolz, damals viel gelernt zu haben.

    Das größte Problem habe ich damit, dass man diese Wahrheit nur zu selten hört. Promovierende hören anfangs gerne weg und verlieren sich später gerne in Dauerstellenutopien. Betreuende gehen auf die zeitliche Befristung anfangs am liebsten gar nicht ein, weil sie ihre Stellen ja besetzt bekommen müssen, und später versuchen sie im eigenen Interesse und anscheinend (scheinbar?) auch im Interesse ihrer WiMis, Verträge hier und da immer noch etwas zu verlängern.

  • #10

    tmg (Montag, 07 Dezember 2020 09:23)

    #9: das ist ein exzellenter Kommentar. Vielen Dank. Kommt (natürlich) von einem Mathematiker. Hinzuzufügen ist da eigentlich nichts. Höchstens zu verschärfen: der wissenschaftliche Mehrwert der allermeisten Dissertationen ist zweifelhaft, i.d.R. bringen die erzielten Ergebnisse das Fachgebiet nicht entscheidend voran. Das gilt sicher für die Mathematik und in anderen Bereichen erst recht. Die permanent erwähnte hohe Qualifikation für Forschung und Lehre liegt bei den meisten Promovierten ebenfalls nicht vor. Es ist in der Regel kein Verlust für den Hochschulbetrieb, wenn diese dann ausscheiden. Im Gegenteil. Hier sollte endlich mehr Ehrlichkeit in's System hinein.

  • #11

    Literaturwissenschaftlerin (Montag, 07 Dezember 2020 11:17)

    @Michael Liebendörfer: Ihre Überlegungen sind natürlich großenteils richtig, die Folgerung, ein Job an der Uni sei "im Regelfall ein Job auf Zeit", aber falsch, weil einseitig verallgemeinernd. Klar ist, dass es bei Promotionen immer einen Zielkonflikt geben wird: Soll möglichst vielen Personen der höchste akademische Grad zugänglich sein, oder wird (so die vorherrschende Sicht in den meisten anderen Ländern) die Promotion vor allem als Eintrittskarte zu einer wissenschaftlichen Laufbahn verstanden? Für beides gibt es gute Gründe. Nicht legitim ist es aber, die unzähligen befristet beschäftigten Postdocs (und sogar Professoren) stillschweigend in die genannte Aussage mit einzubeziehen. Das zeigt das NGAWiss-Papier, und nur um den Nachweis geht es ihm.

  • #12

    Ruth Himmelreich (Montag, 07 Dezember 2020 14:48)

    Aber man darf schon einmal anmerken, dass die "unzähligen befristet beschäftigten Postdocs" hochqualifizierte, intelligente Menschen sind, nicht solche armen Kerle, die sich aus nackter Not und ohne Sprach- und Systemkenntnisse für den Mindestlohn in der Fleischindustrie verkaufen müssen. Als solche*r müsste ich eigentlich in der Lage sein, meine Chancen auf eine Dauerstelle realistisch abzuschätzen und, wenn sich meine Beschäftigungsdauer im System in die zweistellige Richtung bewegt, mir im Zweifel etwas anderes zu suchen? Blindlings und völlig uninformiert ist doch keiner in das System gestolpert.


  • #13

    Michael Liebendörfer (Montag, 07 Dezember 2020 20:19)

    @Literaturwissenschaftlerin: Die Frage, wann die Uni unbefristete berufliche Sicherheit gibt, ist auch meiner Auffassung nach nicht zufriedenstellend gelöst. Insbesondere wundere ich mich sehr, warum der Staat sich das Privileg herausnimmt, reguläre Professuren auf fünf oder sechs Jahre zu besetzen. Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass diese Praxis überhaupt verfassungskonform ist, und wäre auch ungeachtet dessen von großer Doppelmoral, weil doch derselbe Staat allen anderen verbietet, länger als zwei Jahre zu befristen.

    Was die Qualifikationsstellen betrifft, darunter zähle ich auch Juniorprofessuren, könnte man die Auffassung vertreten, dass die Leute spätestens nach der Promotion wissen müssten, was auf sie zukommt. Und mal ehrlich: die berufliche Perspektive zu klären, sollte vor Antritt einer PostDoc-Stelle schon erwartet werden können.
    Dass der Staat nicht direkt nach der Promotion nur noch Dauerstellen vergibt, finde ich im Grundsatz erträglich, weil die Beschäftigten andere Wege gehen können.

    Es scheint aber nicht immer sinnvoll. Man muss z. B. auch in meiner Branche, der Mathematikdidaktik lange in Unsicherheit arbeiten (ich gehe auf die 40 zu und bin auf einer Juniorprofessur ohne Tenure Track). Wir haben aber nicht unbedingt Heerscharen Höchstqualifizierter auf der PostDoc-Ebene, sondern manchmal umgekehrte Sorgen. Versuchen Sie mal eine schlank ausgestattete W2 für Grundschuldidaktik der Mathematik irgendwo am Rand der Republik zu besetzen. Da können Sie die wirklich qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber oft an einer Hand abzählen, manchmal findet man auch niemanden. Deswegen werden in manchen Bundesländern Programme aufgelegt, um Lehrkräfte aus Schulen zur Promotion oder Habilitation an die Hochschule abzuordnen. Sie behalten ihre berufliche Sicherheit, können sich aber wissenschaftlich weiterqualifizieren. Vielleicht sollte man das Modell weiterdenken und möglichst viele (PostDoc-)Stellen sofort mit einer Plan-B-Stelle hinterlegen. Zumindest für die Fachdidaktiken könnte das funktionieren, in Jura oder anderen Bereichen, wo der Staat ein starker Arbeitgeber ist, ebenfalls.

  • #14

    Literaturwissenschaftlerin (Mittwoch, 09 Dezember 2020 13:56)

    Mir scheint es weder ethisch noch logisch plausibel, das strukturelle Problem, dass man, der Wettbewerbslogik folgend, eine Maximalzahl von Personen zur Höchstleistung anstachelt, aber nur einer Minimalzahl davon das "Überleben" ermöglicht, durch die Individualisierung des Risikos zu rechtfertigen. Selbst wenn man kein Problem damit hat, alle paar Jahre wieder der Mehrzahl einer Kohorte zu erklären, sie seien ja selbst schuld, die Jobs angenommen zu haben, die ohne sie mit anderen besetzt worden wären, denen man dann das Gleiche gesagt hätte, müsste man doch sehen können, wie sehr diese Logik die Wissenschaft verarmt. Die wenigen, die eine Dauerstelle bekommen, produzieren in den seltensten Fällen noch innovative Arbeiten, weil sie völlig überfrachtet sind, unter den vielen Ausgeschlossenen aber geht ein immenses Potenzial verloren. Wenn sich, wie in meinem Fach, 100-150 Personen auf jede Professur bewerben (manchmal mehr), ist es absurd, anzunehmen, 95-145 von ihnen seien Versager und im Übrigen selbst schuld. Wäre dem so, hätte die Wissenschaft erst recht ein Interesse, das früher zu merken. Dann bliebe Raum, Wissenschaft sowohl nachhaltiger als auch vielfältiger zu machen, indem man mehr wirklichen Talenten faire Chancen eröffnet.

  • #15

    Frau Vogel (Mittwoch, 09 Dezember 2020 18:30)

    @Literaturwissenschaftlerin: Mal gesetzt, dass sich Geld nicht wundersam vermehrt: Plädieren Sie also für eine massive Reduktion des akademischen Arbeitsmarkts für (frisch) promovierte Wissenschaftler*innen? Je mehr Personen entfristet beschäftigt werden, desto weniger werden ja künftig nachrücken können. Das würde den Flaschenhals nach vorne verlagern, insofern einige Probleme lösen. Es würde aber ebenso einige neue schaffen, denn streng genommen müsste in einer solchen (unwahrscheinlichen) Konstruktion z.B. im Drittmittelbereich die Einstellung von Postdocs mindestens deutlich erschwert werden. Wer will das wirklich?

  • #16

    Literaturwissenschaftlerin (Donnerstag, 10 Dezember 2020 10:08)

    @Frau Vogel: Wie gesagt, gute Möglichkeiten, es anders zu machen, lassen sich in dem genannten Papier von NGAWiss nachlesen, ebenso wie in den Vorschlägen der Jungen Akademie und der philosophischen Fachgesellschaften DGPhil und GAP. Dass es dann insgesamt für Postdocs weniger Stellen gäbe, stimmt, aber wenn man es durchrechnet, zeigt sich, dass die Reduktion keineswegs massiv zu sein braucht. Massiv sollte man stattdessen den Drittmittelmarkt zugunsten von Grundfinanzierung reduzieren (oder evtl. auch DFG-Mittel direkt in Dauerstellen investieren, vergleichbare Institutionen anderer Länder machen das ja auch so). Es ist doch in keiner Weise schlüssig, dass die vermeintlichen Chancen für Postdocs nur darauf hinauslaufen, dass man ihre Karrieren zu einem viel zu späten Zeitpunkt ins Leere laufen lässt.

  • #17

    R. Müller (Mittwoch, 16 Dezember 2020 09:54)

    Entgegen der Behauptungen einiger der vorangehenden Kommentare befasst sich das WissZeitVG sehr wohl mit Verlängerungstatbeständen, die mit dem familiären Umfeld zu tun haben:
    § 2 Abs. 5 WissZeitVG lautet nämlich
    Die jeweilige Dauer eines befristeten Arbeitsvertrages nach Absatz 1 verlängert sich im Einverständnis mit der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter um
    1.
    Zeiten einer Beurlaubung oder einer Ermäßigung der Arbeitszeit um mindestens ein Fünftel der regelmäßigen Arbeitszeit, die für die Betreuung oder Pflege eines oder mehrerer Kinder unter 18 Jahren, auch wenn hinsichtlich des Kindes die Voraussetzungen des § 15 Absatz 1 Satz 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes vorliegen, oder pflegebedürftiger sonstiger Angehöriger gewährt worden sind,
    2.
    Zeiten einer Beurlaubung für eine wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit oder eine außerhalb des Hochschulbereichs oder im Ausland durchgeführte wissenschaftliche, künstlerische oder berufliche Aus-, Fort- oder Weiterbildung,
    3.
    Zeiten einer Inanspruchnahme von Elternzeit nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz und Zeiten eines Beschäftigungsverbots nach den §§ 3 bis 6, 10 Absatz 3, § 13 Absatz 1 Nummer 3 und § 16 des Mutterschutzgesetzes in dem Umfang, in dem eine Erwerbstätigkeit nicht erfolgt ist,
    4.
    Zeiten des Grundwehr- und Zivildienstes,
    5.
    Zeiten einer Freistellung im Umfang von mindestens einem Fünftel der regelmäßigen Arbeitszeit zur Wahrnehmung von Aufgaben in einer Personal- oder Schwerbehindertenvertretung, von Aufgaben eines oder einer Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragten oder zur Ausübung eines mit dem Arbeitsverhältnis zu vereinbarenden Mandats und
    6.
    Zeiten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, in denen ein gesetzlicher oder tarifvertraglicher Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht besteht.
    In den Fällen des Satzes 1 Nummer 1, 2 und 5 soll die Verlängerung die Dauer von jeweils zwei Jahren nicht überschreiten. Zeiten nach Satz 1 Nummer 1 bis 6 werden in dem Umfang, in dem sie zu einer Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrages führen können, nicht auf die nach Absatz 1 zulässige Befristungsdauer angerechnet.

  • #18

    Sven Obst (Mittwoch, 16 Dezember 2020 12:47)

    Diese Debatte ist eine, die den berühmt- berüchtigten Elfenbeinturm der Akademiker, besonders deutlich macht. Und erwähne ich jetzt nicht nur, weil gerade eine sehr großer Teil der Bevölkerung, die im Gegensatz zum akademischen Mittelbau nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, fürchten muss den Job zu verlieren oder ihn schon verloren hat.
    Wie ein Spiegel-Online-Artikel wird hier versucht mit sehr drastischen Formulierungen die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem zu lenken und zur Debatte einzuladen. Und wenn man sich dann näher mit der Sache beschäftigt, stellt man fest, dass die Problematik sehr viel weniger drastisch ist als es zunächst nach der Überschrift zu vermuten wäre. Am Ende ist das ähnlich enttäuschend und führt dazu, dass man sich im Ergebnis nicht mehr wirklich mit der Problematik befasst, weil Überschrift und Inhalt so wenig zusammenpassen. Wenn es tatsächlich so wäre, wie hier eingeleitet wird und zahlreiche Karrieren nachhaltig u. grundlos zerstört würden, dann wäre das Gesetz verfassungswidrig und schon vor Jahren vom BVerfG aufgehoben wurden. Wenn man dies berücksichtigt und sich überlegt, dass das nicht sein kann, bleibt nur der Schluss, dass die Autoren nicht verstanden haben, was Sinn und Zweck der Regelung des WissZeitVG ist. Entgegen der Ausführungen ist es nämlich nicht so, dass alle Personen, die im wissenschaftlichen Mittelbau unterwegs sind und sich über das Studium hinaus qualifizieren, eine Daueranschlussbeschäftigung angeboten werden soll. Das ist vor allem mit Blick auf alle anderen Beschäftigungssektoren und gerade auch auf den übrigen öffentlichen Dienst auch fernliegend. Überall in der freien Wirtschaft aber auch im öffentlichen Dienst besteht der sog. Flaschenhals. Es ist vollkommen unklar, warum die Autoren meinen, dass es für die Vielzahl an Beschäftigten in den Hochschulen anders sein sollte und warum gerade hier sich das Verhältnis umkehrt. Das ist insbesondere in der Sache auch deshalb schwierig nachzuvollziehen, weil ja die Qualifizierung an den Hochschulen nicht allein dem Zweck dient, an einer deutschen Hochschule beschäftigt zu sein. Viele Promovierende (zB im Bereich Jura) nehmen ihre Dissertation (oft auch ohne Finanzierung durch eine Stelle an der Hochschule, sondern durch einen anderen Job, der weniger akademisch ist) als Zusatzqualifikation für den Arbeitsmarkt mit. Es ist natürlich in Ordnung sich das Berufsziel Wissenschaft auszusuchen. Aber das ist einfach für ganz viele Personen nicht der Fall, und zwar nicht, weil es stellentechnisch nicht möglich ist. Sondern weil die Personen es gar nicht wollen.

  • #19

    Martin Schmitt (Mittwoch, 16 Dezember 2020 15:01)

    Wie viele meiner Vorredner will ich gerne mal das Thema Prekariat aufgreifen, von dem hier mit Blick auf den sog. akademischen Mittelbau ist. IN dem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Mittelbau sehr divers ist und durchsetzt von ganz und gar unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, die man an keiner anderen Stelle zu einer sinnvollen gemeinsamen Obergruppe zusammenfassen würde. Oder kennt jemand eine Arbeitnehmer-Interessensvertretung, die sich ständig mit den schlechten Arbeitsbedingungen des mittleren Managements oder ähnlichem befasst? Und auf die „prekären“ Beschäftigungsbedingungen hinweist? Elfenbein trifft es sehr gut oder auch der Ausdruck: das ist eine akademische Debatte.
    Die Missstände, die angeblich keiner mehr hinnehmen will, sind solche, die überall im „mittleren Management“ zu finden sind. Von dem durchschnittlichen Arbeitnehmer ganz zu schweigen. Haben diese Staatsbeschäftigten schon mal mit dem Pflegepersonal in Seniorenheimen oder Krankenhäusern gesprochen? Oder sich mal erkundigt, wie es als Erzieherin in einer Kita läuft oder Paketbote für Hermes, DHL? Überlastung, Überstunden, kein Urlaub, schlechte Bezahlung, schlechtes Management: das ist wahres Prekariat. Das gilt vor allem mit dem Blick darauf, dass diese Personen dem wissenschaftlichen Personal der Hochschulen mit ihren Steuern den Job zahlen und auch die Ausbildung. Während hingegen der Mittelbau an den Hochschulen diesbezüglich gar nichts zurückgibt. Denn die Krankenschwester, der Paketbote und die Erzieherin haben ihre Ausbildung selbst bezahlt. Das Azubi-Gehalt in Deutschland deckt oft nicht mal im Ansatz die Lebenshaltungskosten (Frisörin: 400 Euro). Die Ausbildung wird nicht im großen Stil staatlich bezuschusst, abgesehen mal von der Berufsschule.
    Und die Perspektive der Akademiker? Unlängst wurde in einer neuen Erhebung festgestellt, dass im Durchschnitt der Akademiker nach nur 5 Jahren so viel verdient, dass die Person mit Berufsausbildung das in ihrem ganzen Erwerbsleben nicht mehr aufholen kann. Von einer A/13-Stelle, die ein Assistent (ohne Familie) am Lehrstuhl bekommt, ernährt ein ganz normaler Angestellter eine ganze Familie mit 3-4 Kindern. Und diese Konstellation gibt es hundertfach Mal in Deutschland. Die Verwendung des Begriffs Prekariat in diesem Zusammenhang ist ein Hohn!

  • #20

    S.T. (Mittwoch, 16 Dezember 2020 15:10)

    Gibt es eigentlich konkrete Zahlen und Untersuchungen dazu, warum Wissenschaftler ins Ausland gehen? Nach meiner Erfahrung ging es nie darum, dass es hier in Deutschland so schlecht ist. Sondern vielmehr wurde den Leuten in USA oder UK eine tolle Möglichkeit geboten an etwas zu arbeiten, was es hier nicht gab (Projekt, Lehrstuhl etc.). Und das schöne in diesem Bereich ist doch die globale Mobilität oder nicht? Meine Vermutung ist -wie bei jedem neuen Jobangebot - ist es eine Mischung aus verschieden Gründen, warum es sich entscheidet wegzuziehen und anderswo zu arbeiten. Den Zusammenhang zwischen Auslandsjob an einer Hochschule und dem WissZeitVG ist weit hergeholt.