Eine neue Führung, eine neue Struktur, ein neues Selbstverständnis
Das Robert-Koch-Institut ist in der Coronakrise an sich selbst gescheitert. Eine neue Bundesregierung wird es schnell neu aufstellen müssen.
RKI-Gebäude in Berlin-Wedding. Foto: Fridolin freudenfett, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
NEULICH HABE ICH in einem Kommentar gefordert, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) reformiert werden muss. Dass es eine neue, unabhängigere Führung braucht. Eine Führung, die liefert, was gebraucht wird – und nicht das, was die Politik anfordert. Nur eine wissenschaftsnähere Struktur und schnellere Entscheidungswege, davon bin ich überzeugt, werden das RKI in die Lage versetzen, in dieser und in kommenden Gesundheitskrisen eine konstruktive Rolle zu spielen.
Einige haben meine Kritik als überzogen empfunden. Institutspräsident Lothar Wieler mühe sich doch redlich, er müsse halt dem gesetzlichen Auftrag des RKI folgen, und das heiße, den Vorgaben der Politik zu entsprechen, selbst wenn die Wissenschaftler am RKI sich Anderes wünschten. Auch sei das Institut nicht dafür verantwortlich zu machen, wenn das Digitale Impfquoten-Monitoring (DIM) nicht funktioniere. Schließlich liege es, wie Wieler selbst betonte, "ausschließlich in der Hand der impfenden Stellen" – Impfzentren, Impfteams, Krankenhäuser, Arztpraxen, Betriebsärzte.
Das RKI hat in seiner ureigensten Aufgabe versagt
Das Kernproblem berühren solche Einwände allerdings nicht. Das RKI hat wiederholt in seiner ureigensten Aufgabe, der Politikberatung, versagt, und es versagt weiterhin.
So ist schon seit vielen Wochen absehbar, dass es auch in diesem Herbst nicht in erster Linie eine Welle der ungeimpften Kinder geben wird, sondern eine Welle der Alten, auch der geimpften Alten. Schon seit Juli steigen die 7-Tages-Inzidenzen, freilich von einem niedrigen Niveau kommend, bei den über 60-Jährigen deutlich stärker als bei den Schülern. Dieser Trend, der dem im Sommer und Herbst 2020 entsprach, ließ sich früh extrapolieren – mit dem erwartbaren Ergebnis, dass irgendwann im Oktober, spätestens im November die gemeldeten Neuinfektionen bei den Älteren ein kritisches Niveau erreichen würden.
Doch was machte das RKI, was machte Wieler? Warnten lange nur vor Ausbrüchen in Schulen, warnten vor den hohen Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen, machten noch den Unterricht dafür verantwortlich, als längst klar war, dass der Schub aus den Ferien stammte. Fast überall begannen sich die gemeldeten Neuinfektionen unter Schülern etwa zwei Wochen nach Schulstart seitwärts zu bewegen, zeitweise sanken sie sogar, und der Anteil der Schüler an allen neuen Fällen ging kontinuierlich zurück. Während der Anteil der Alten an allen neuen Fällen kontinuierlich stieg.
Doch das RKI schrieb noch im Wochenbericht der vergangenen Woche: "Mit dem erneuten deutlichen Anstieg der Inzidenz etwa ab der 30. Kalenderwoche 2021 zeigte sich eine weitere Verlagerung der Infektionen in jüngere Altersgruppen." Was faktisch nicht stimmt. Seit Kalenderwoche 30 stiegen die Inzidenzen bei den unter 20-Jährigen um das Sechsfache. Bei den über 60-Jährigen aber um das Zehnfache. Das RKI verwechselt also wiederholt die absolute Höhe mit dem Trend.
Und argumentiert mit statistischen Ausreißern, statt mit Mittelwerten: Noch vor kurzem berichtete das Institut – bei insgesamt zu dem Zeitpunkt sinkenden Meldezahlen unter Kindern und Jugendlichen wohlgemerkt – von einzelnen Spitzeninzidenzen unter Schülern – anstatt mit Nachdruck die hohe Gefährdung der Alten und Pflegebedürftigen zu thematisieren und zu fordern, dass an den Alten- und Pflegeheimen überall im Land dringend eine Testpflicht für alle Mitarbeiter und Besucher, unabhängig vom Impfstatus, eingeführt werden müsse.
Womöglich liefert es ja das, was die Politik hören wollte
Womöglich war es ja das, was die Politik hören wollte. Weil sie vor einer allgemeinen Impflicht zurückschreckt, dafür aber den Anreiz, sich impfen zu lassen, erhöhen will. Und zwar, indem sie das Narrativ verbreitet, auch Ältere seien durch die Impfung zuverlässig vor Ansteckung und vor einer schweren Erkrankung geschützt. Obwohl es sich in Wirklichkeit um einen relativen Schutz handelt – ältere Geimpfte also deutlich besser geschützt sind als ältere Ungeimpfte, aber keineswegs als jüngere Ungeimpfte.
Politisch mag das nachvollziehbar sein, um das Ziel einer hohen Impfquote zu erreichen. Die Aufgabe eines wissenschaftlichen Instituts bestünde jedoch darin, die unbequeme – und vor allem komplizierte! – Empirie in den Vordergrund zu stellen.
Ein unabhängiges RKI, wie es sein müsste, würde auch nicht im Nachhinein die unzureichenden Prozesse beim Impfquoten-Monitoring als Rechtfertigung nutzen, sondern es hätte rechtzeitig die Politik darin beraten, das Monitoring zu verbessern. Vielleicht hat es das ja im Stillen getan. Tatsächlich aber scheint es so, als sei sich das Institut, anders als es jetzt suggeriert, noch im September selbst nicht der Ausmaße des Problems bewusst gewesen.
Als ich damals bei der Pressestelle nachfragte, wie groß das RKI die Diskrepanz zwischen gemeldeter und tatsächlicher Impfquote zu diesem Zeitpunkt einschätze und welche Bestrebungen es gebe, die tatsächliche Impfquote künftig genauer zu bestimmen, lautete die Antwort nämlich: Untererfassungen seien in Meldesystemen generell nicht unüblich. Dann der entscheidende Satz: "Wichtig ist, dass die Untererfassung im Digitalen Impfquoten-Monitoring (DIM) für die Erstimpfungen nach Altersgruppen angenommen wird, nicht für die vollständigen Impfungen, deren Quote für die Bewertung der Situation entscheidend ist."
Das RKI hat sich ziemlich gut eingerichtet
Nur dass das RKI dann im Oktober einräumen musste, dass es offenbar doch auch für die – nach eigener Darstellung entscheidende – Quote der vollständigen Impfung eine Untererfassung gebe. Die es vorher nicht gesehen hatte. Wie soll es da die Politik im Sinne einer Verbesserung beraten?
Doch scheint das RKI sich in seinem Unwissen ziemlich gut eingerichtet zu haben. Wie anders ist es zu erklären, dass es von der Politik nicht mit Nachdruck die Finanzierung und gesetzliche Ermöglichung eines großen, regelmäßigen und repräsentativen Corona-Panels gefordert hat, das Länder wie Großbritannien vor über einem Jahr etabliert haben und das auch führende Public-Health-Experten in Deutschland wieder und wieder vorgeschlagen, ja herbeigefleht haben?
Anderen Ländern ist es gelungen, mit derlei Panels ein umfangreiches System verlässlicher Pandemie-Kennziffern für die Politik zu generieren, inklusive repräsentativer Aussagen zu den Infektionsrisiken abhängig vom Alter und sozialen Hintergründen – und einer verlässlichen Messung des Anteils Geimpfter. Deutschland dagegen stochert auch in der Spätphase dieser Pandemie im Datennebel – und daran trägt auch und vor allem ein RKI die Verantwortung, das die Unzulänglichkeit der gesammelten Daten dann auch noch ein ums andere Mal herunterspielte.
Etwa, als erst Stück für Stück und auf Nachfrage klar wurde, dass die vom RKI angegebenen wöchentlichen Hospitalisierungsraten für den aktuellen Gebrauch praktisch ungeeignet sind. Immerhin hat das RKI eine "Schätzung der zu erwartenden Anzahl an verzögert berichteten Hospitalisierungen" eingeführt, eine "modifizierte Variante der Nowcastingberechnung zur 7-Tage- Inzidenz". Doch wie verlässlich ist diese Schätzung wirklich?
Und warum musste neulich erst die DFG-Kommission für Pandemieforschung kommen, um öffentlichkeitswirksam zu verlangen, dass die Daten für die gesundheitsbezogene Forschung besser zugänglich gemacht und leichter verknüpfbar sein müssen? Warum, so scheint es, hört man solche Bestandsaufnahmen nie oder zumindest nicht in solcher Deutlichkeit vom RKI und seinem Präsidenten Wieler?
So, wie es ist, kann oder will das RKI die Politik und die Öffentlichkeit nicht sachgerecht und mutig beraten. Vielleicht ja – was am dramatischsten wäre, weil seine Führung denkt, dass es das gar nicht darf.
Das Robert-Koch-Institut braucht selbstbewusstere Wissenschaftler, es braucht mehr wissenschaftliche Klasse, das Selbstverständnis einer Forschungseinrichtung und mehr politische Unabhängigkeit. Ein neuer Gesundheitsministerin oder eine neue Gesundheitsministerin wird schleunigst handeln müssen.
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