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Der Indikator, der nichts anzeigt

Die Krankenhaus-Einweisungen der vergangenen sieben Tage sollen ein entscheidender Gradmesser in der Corona-Pandemie werden. Das RKI ergibt ihn inzwischen jeden Tag an. Doch die vermeintlich aktuelle Zahl ist nahezu wertlos und irreführend.

Foto: InspiredImages / Pixabay.

DIE 50ER-INZIDENZ HABE AUSGEDIENT, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Was genau sie ersetzen soll, klären Bund und Länder gerade. Aber es wird wohl vor allem auf die Belegung von Krankenhäusern und Intensivstationen hinauslaufen.

 

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat schon im vergangenen Jahr ein tagesaktuelles und inzwischen sehr genaues Intensivregister aufgebaut. Und was die Entwicklung der Krankenhauseinweisungen angeht, hat die Bundesregierung am 13. Juli per Verordnung eine "Meldepflicht der Krankenhausaufnahme von COVID-19-Hospitalisierten" in Kraft gesetzt. Entsprechend gibt das Robert-Koch-Institut (RKI) seit einigen Wochen einen neuen täglichen Wert an: "Hospitalisierte gesamt" pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen. Gestern lag lag er bei 1,47 – nach 1,38 vorgestern. 

 

Schon jetzt wird der neue Indikator mehr und mehr von Medien, Politikern und auch Medizinern zitiert, es werden Tages- und Wochenvergleiche angestellt, um die Entwicklung der Pandemie möglichst aktuell beschreiben zu können. Was, worauf der Spiegel hinwies, schon deshalb ein Problem ist, weil der Blick auf die Krankenhauseinweisungen wie der Blick in den Rückspiegel ist – auf die Infektionsdynamik von vor etlichen Tagen. 

 

Doch ist das in Wirklichkeit noch die kleinste Schwäche des neuen Wertes. Tatsächlich ist er, so wie er im Augenblick zustande kommt, sogar vollkommen ungeeignet für die Analyse von was auch immer. Schlimmer noch: Er suggeriert eine Genauigkeit und Aktualität, die gar nicht vorhanden ist. Das alles sagt das RKI allerdings nur auf Nachfrage. Und das ist wirklich dramatisch. 

 

36 Prozent Nachmeldungen

 

Doch der Reihe nach. Das RKI sammelt die Meldungen neuer Krankenhauseinweisungen in einer Datenbank, wo diese nach Altersgruppen und Kalenderwochen aufgeschlüsselt sind. Während das Institut täglich neu die Hospitalisierungsinzidenz in seinen Lageberichten angibt, wird die Datenbank für die Öffentlichkeit nur einmal pro Woche aktualisiert. Jeweils am Donnerstagabend – mit Datenstand Dienstag. 

 

Als ich vor zwei Wochen für meine regelmäßigen Datenanalysen die Datenbank mit Stand 10. August herunterlud, wurden dort erstmals die kompletten Wochenwerte für die Kalenderwoche 31 (1. bis 8. August) angegeben. Ergebnis: insgesamt 613 Hospitalisierungen. Das waren auch die Zahlen, aus denen das RKI seinen 7-Tages-Hospitalisierungs-Indikator berechnet und in seinen Tagesberichten tagesaktuell angegeben hatte.

 

Als ich eine Woche später erneut einen Blick in die Datenbank (Stand 17. August) warf und die Zahlen der neu hinzugekommenen Kalenderwoche 32 mit denen der Kalenderwoche 31 vergleichen wollte, stellte ich fest: Bei Woche 31 standen plötzlich 833 Hospitalisierungen statt 613. Ein paar späte Nachmeldungen (obwohl die Wochendaten ohnehin erst vier Tage nach Ende der Kalenderwoche erstmals veröffentlicht werden): okay. Aber 36 Prozent Zuschlag durch Nachmeldungen?

 

Daraufhin schaute ich mir auch die anderen Kalenderwochen an und stellte fest: Die Abweichungen waren in jeder Woche da, unterschiedlich groß, aber immer erheblich. Deutlich wird das auch an den vom RKI nachkorrigierten 7-Tages-Inzidenzen für die einzelnen Altersgruppen und Kalenderwochen. Datenstand 10. August: 7-Tages-Hospitalisierungs-Inzidenz für über 80-Jährige in Kalenderwoche 31: 1,65. Kalenderwoche 30: 1,50. Datenstand 17. August, Kalenderwoche 31: 2,02. Kalenderwoche 30: 1,64.

 

Das RKI ist sich des Problems bewusst

 

Wie sollen sich denn so verlässlich Trends und Wachstumsraten (werden sie größer oder kleiner?) bei der Krankenhausbelegung ableiten lassen? Und wie kann das überhaupt sein? Ich fragte beim RKI nach.

 

Die Antwort, die ich bekam, war etwas verklausuliert, besagte aber im Kern folgendes: Die pro Kalenderwoche angegebenen Zahlen beziehen sich nicht auf die in dieser Woche tatsächlich eingewiesenen Covid-19-Patienten. Sondern sie geben an, wie viele Covid-19-Patienten ins Krankenhaus mussten, deren Infektion in der betreffenden Kalenderwoche festgestellt wurde. Konkret: Wenn ich in Kalenderwoche 31 Corona-positiv getestet werde, aber wegen meiner Covid-19-Erkrankung erst zwei Wochen später ins Krankenhaus muss, tauche ich in der Statistik trotzdem in Kalenderwoche 31 auf. Allerdings eben erst Wochen später. 

 

Erfreulich ist, wie offen die RKI-Sprecherin diese Besonderheiten der Berechnung einräumt. Weniger erfreulich ist, dass es das Institut nicht von sich aus und offensiver tut. Von der Umsetzung der neuen Meldepflicht, fügt die RKI-Sprecherin, erhoffe man sich, "dass die Daten zukünftig schneller und zuverlässiger am RKI vorliegen". Und sie versichert: Die zeitlichen Verzüge würden regelmäßig am RKI analysiert, bei der Bewertung der Hospitalisierungsinzidenz berücksichtigt und mit dem Titel "COVID-19-Trends in Deutschland im Überblick" grafisch aufbereitet und unter Berücksichtigung auch später eingegangener Daten veröffentlicht.

 

Man könnte auch sagen: nachkorrigiert. So wies der RKI-Tagesbericht am 05. August eine bundesweite und altersübergreifende 7-Tages-Hospitalisierungs-Inzidenz von 0,6 auf. Bei den aktuellsten "COVID-19-Trends" steht jetzt allerdings für denselben Tag: 0,98. 63 Prozent mehr. Doch wurde die 0,6er Inzidenz am 05. August im Tagesbericht ohne Disclaimer kommuniziert und entsprechend rezipiert. 

 

Immerhin gibt es bei den "COVID-19-Trends" ein solches Caveat, wenn man denn weiß, was die graue Hinterlegung der letzten zehn (!) angegebenen Tage zu bedeuten hat (auf der Seite selbst sucht man die Erklärung vergeblich). Die RKI-Sprecherin erklärt: "Um zu kennzeichnen, dass die Daten noch nicht vollständig sind und sich ggf. noch erhöhen können, wurde ein grauer Balken über die letzten Tage gelegt und auch ein Trend berechnet." Bei der Belastbarkeit der Daten sei außerdem zu beachten, "dass gerade bei kleinen Fallzahlen (z.B. Hospitalisierungen in den jüngeren Altersgruppen) Schwankungen auftreten können, die meist erst im Verlauf und im Wochenvergleich bewertet werden können, tagesaktuelle Schwankungen sollten nicht überbewertet werden."

 

Der Daten-Blindflug setzt sich fort

 

Was voraussetzen würde, dass die Wochenvergleiche Sinn ergeben würde. Was, siehe oben, leider nur mit großer Verzögerung möglich ist. Apropos Verzögerung: Die "COVID-19-Trends" mit den nachkorrigierten Tagesinzidenzen werden derzeit auch nur einmal wöchentlich aktualisiert, ebenfalls am Donnerstagabend, wie das RKI bestätigt. Die aktuellste 7-Tages-Inzidenz stammt dort somit – korrekt grau hinterlegt – Stand heute Morgen noch vom 19. August.

 

Um die Corona-Politik mithilfe neuer Indikatoren steuern zu können, müssten diese Indikatoren erst einmal in halbwegs verlässlicher Form vorliegen. Und zumindest in Ansätzen aktuell. Zurzeit ist in Sachen Krankenhauseinweisungen beides nicht der Fall.

 

Immerhin: Schon Anfang August teilte das RKI Tagesschau.de mit, dass derzeit diskutiert werde, "inwieweit zukünftig alternativ oder zusätzlich das Hospitalisierungsdatum berücksichtigt werden kann." Da die Krankenhäuser bei den Einweisungsmeldungen laut Bundesgesundheitsministerium mittlerweile fast immer auch das Hospitalisierungsdatum angeben, nicht nur das Datum der Infektionsmeldung, könnte man die Berechnung durchaus zügig ändern. Und außerdem bald, wie vom Bundesgesundheitsministerium angekündigt, den Hospitalisierungs-Indikator zumindest wöchentlich bis auf Landkreisebene herunterbrechen.

 

Dazu allerdings bräuchte es beim RKI ein – von der Politik gepushtes – Bewusstsein für die Dringlichkeit. Der Blick in die Vergangenheit lehrt, dass dies bislang oft fehlte. Dass die Datenbasierung der Corona-Politik von Bund und Ländern mangelhaft ist, auch weil das RKI zu wenig aktuelle und belastbare Informationen erhebt, ist nämlich leider bittere Gewohnheit. Beispiel repräsentative Antikörper-Stichproben: Sie könnten das Infektionsgeschehen realistischer einschätzen als die unvollständigen und durch wechselnde Testintensitäten verzerrten Infektions-Meldeinzidenzen. Andere Länder wie Großbritannien führen solche Stichproben mit zehn- oder gar hunderttausenden Probanden deshalb wöchentlich oder zweiwöchentlich durch. Das RKI hatte bisher eine einzige Runde ihres "Leben in Deutschland – Corona-Monitorings" (mit zunächst nur rudimentär veröffentlichten Daten), Ende des Jahres soll eine zweite Erhebungswelle folgen. 

 

Insofern mag der maßgebliche Pandemie-Indikator jetzt wechseln, doch der im März 2020 gestartete Daten-Blindflug setzt sich erst einmal fort.



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Kommentare: 2
  • #1

    twisdu (Donnerstag, 26 August 2021 13:16)

    Es gibt ein zweites, mindestens so erhebliches Problem mit den Hospitalisierungsdaten als Indikator: Bekanntlich spielte sich in den ersten drei Wellen ein erheblicher Anteil der schweren Verläufe und Todesfälle in den Pflegeheimen ab. Es zeichnet sich auch jetzt schon ab, dass die Pflegeheime trotz hoher Bewohner-Impfquoten auch in der 4. Welle nicht verschont bleiben (Stand aktuell sind 18 bekannte, größere Pflegeheim-Ausbrüche seit Mitte Juli). Ein erheblicher Anteil von Seniorenheim-Bewohnern wird jedoch nicht oder nur im erheblichen Notfall ins Krankenhaus eingewiesen (der Ortswechsel und die Abläufe in Krankenhäusern sind speziell für Menschen mit Demenz höchst belastend und oft mit starken, teils auch anhaltenden Nebenwirkungen verbunden, so dass man einen KH-Aufenthalt aus gutem Grund soweit irgend möglich zu vermeiden versucht). Sprich: Es gab und gibt in den Seniorenheimen einen signifikanten Anteil an schweren Covid-Verläufen und auch Todesfällen, der bei einem Wechsel von Inzidenz auf Hospitalisierung als Indikator schlicht gar nicht mehr erfasst würde. Da es auch keine zuverlässige separate Erfassung der Erkrankungen in den Pflegeheimen gibt (diese Fälle sind in den RKI-Daten praktisch seit Beginn der Pandemie massiv untererfasst) würden diese Fälle so schlicht komplett aus dem Blick von Politik und Allgemeinheit verschwinden. Was eigentlich niemand, der halbwegs bei Verstand ist, wollen kann. Oder will man gerade das?

  • #2

    LG51 (Sonntag, 29 August 2021 11:56)

    Der hier angesprochene Zustand "Datenblindflug" in
    Deutschland ist wirklich erschreckend. Am 12.8. wurde vom RKI eingeräumt, daß es Irritationen zum tatsächlichen Stand der Impfungen gibt. Zwar ist COVIMO offenbar eine
    Art Ersatz durch Befragungen, aber der geringe Datensatz
    ist nicht repräsentativ. Warum gibt es denn vom RKI oder
    vom BMG keine Klarstellungen zu den Irritationen? Es macht doch einen erheblichen Unterschied - gerade in Zeiten des Wahlkampfes -, ob der Impfstand immer noch
    unter 2/3 der Bevölkerung liegt oder ob man längst in
    Richtung 3/4 geht. Eine einzige Enttäuschung.