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Berichts-Routine

Der OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick" kommt für Deutschland dieses Jahr hauptsächlich mit bekannten und erwartbaren Ergebnissen daher. Beruhigen kann das nicht.

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Artikelbild: Berichts-Routine

Foto: Screenshot der Titelseite des Berichts.

IST DAS NUN RATLOSIGKEIT ODER LUSTLOSIGKEIT angesichts eines internationalen Bildungsberichts, der aus deutscher Sicht wenig Neues, dafür aber mehrheitlich Deprimierendes enthält? Jedenfalls haben Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz ihre gemeinsame Pressemitteilung zum von der OECD veröffentlichten "Bildung auf einen Blick 2022" mit einer bemerkenswerten Gummi-Überschrift versehen. "Stark-Watzinger/Prien: Deutsches Bildungssystem muss noch besser werden".

Dass dem Industriestaaten-Club selbst die griffigen Botschaften fehlten, zeigt, was die OECD ihrerseits am Dienstag in ihrer Berichterstattung ganz nach vorn stellte: "Tertiärabschlüsse erreichen in Deutschland und im gesamten OECD-Raum Rekordniveau". Entsprechen fokussierten auch die nach und nach eintröpfelnden Kommentare aus Verbänden und Parteien mal auf den einen, mal auf den anderen Aspekt, der zu ihrer jeweiligen Agenda passt.

Die Studie belege, dass Deutschlands Lehrkräfte während der Corona-Pandemie weit mehr in Präsenz unterrichtet hätten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Durchschnitt in anderen Ländern, teilte etwa der Philologenverband in seiner ersten Reaktion mit. Dafür gebühre ihnen "großer Dank". Die linke Bildungspolitikerin Nicole Gohlke sagte, die "wiederholt schlechten Ergebnisse" bei der OECD-Studie seien "der zigste Akt des Bildungstrauerspiels in Deutschland. Zu wenig Geld für Bildung, fehlendes Lehrpersonal, Abhängigkeit vom finanziellen Hintergrund". Ein Bildungsaufstand sei nötig, "um hier noch irgendetwas zu retten". Und die DGB-Vizevorsitzende Elke Hannack nannte den seit 2019 gestiegenen Anteil junger Menschen, die nicht in Beschäftigung oder Ausbildung sind, "besorgniserregend". Hier zeigten sich die Effekte der Corona-Pandemie und der Kontaktbeschränkungen. Die Bundesregierung müsse deshalb jetzt schnell die geplante Ausbildungsgarantie auf den Weg bringen.

Die Kluft im deutschen Bildungssystem ist noch größer geworden

Tatsächlich gehört das von Hannack aufgespießte Ergebnis zu den auffälligeren im Bericht. So hat sich in Deutschland auch der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Sekundar-II-Abschluss zwischen 2011 und 2021 von 13 auf 14 Prozent erhöht, während er in den meisten untersuchten Ländern mit dem allgemeinen Anstieg des Bildungsniveaus gesunken sei, wie die OECD berichtet. Mit anderen Worten: Die Kluft im deutschen Bildungssystem ist noch einmal größer geworden. Diesen Punkt hebt auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hervor. "Jeder Siebte im Alter von 25 bis 34 Jahren steht nicht als qualifizierte Fachkraft zur Verfügung", sagt die FDP-Politikerin. "Das hat weitreichende Folgen für den Einzelnen und die gesamte Gesellschaft und kann uns nicht ruhen lassen."

Während die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Karin Prien, es als gemeinsamen Erfolg von Bund und Ländern bezeichnete, dass der Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit tertiärem Abschluss laut OECD von 28 Prozent im Jahr 2011 auf 36 Prozent im Jahr 2021 gestiegen ist. "Dies ist gelungen vor dem Hintergrund der zwei starken Säulen unseres an die Schule anschließenden Bildungssystems aus akademischer und beruflicher Bildung", sagte die CDU-Bildungsministerin von Schleswig-Holstein.

Die OECD ordnet diesen Anstieg indes etwas weniger optimistisch ein. Er sei zwar "beträchtlich", liege jedoch im Vergleich zu vor 20 Jahren mit insgesamt 14 Prozentpunkten deutlich unter dem durchschnittlichen OECD-Plus von 21 Prozentpunkten (auf einen Anteil von 48 Prozent im vergangenen Jahr). Womit Deutschland sogar an Boden verloren habe.

Wo Deutschlands Ergebnisse besonders interessant sind

561 Seiten voller Text, Grafiken und Tabellen umfasst der OECD-Vergleich insgesamt, der deutsche Länderbericht stellt auf zwölf Seiten die wichtigsten Ergebnisse aus deutscher Sicht vor. Darunter zum Beispiel diese:

o In Deutschland besuchen inzwischen mit 39 Prozent der unter 3-Jährigen überdurchschnittlich viele Kinder eine Kindertageseinrichtung, bei den 3- bis 5-Jährigen sind es mit 94 Prozent ebenfalls mehr als im OECD-Schnitt.

o Deutschland bietet Lehrkräften im internationalen Vergleich laut OECD gute Bedingungen bei Gehalt und Unterrichtsverpflichtung. So betrage das durchschnittliche Lehrdeputat in der Sekundarstufe I in Deutschland 641 Stunden, 70 weniger als im OECD-Schnitt. Während die Durchschnittsgehälter doppelt so hoch seien wie der internationale Durchschnittswert.

o Sieben Prozent der Studierenden in Deutschland entscheiden sich für ein Fach aus dem Bereich der Informatik- und Kommunikationstechnologien, was ein Prozentpunkt mehr ist als im OECD-Schnitt. Und 38 Prozent der deutschen Studienanfänger begannen mit einem MINT-Studium, das ist Rekord unter allen OECD-Staaten.

o Mit einem Frauenanteil am akademischen Personal von 40 Prozent lag Deutschland unter dem OECD-Schnitt (45 Prozent), allerdings beträgt der Abstand beim akademischen Personal unter 30 nur noch drei Prozentpunkte (45 versus 48 Prozent), hier scheint sich also etwas zu tun.

o Mit höchstens 85 Tagen, an denen die Schulen im Primar- und Sekundarbereich vollständig geschlossen blieben, bewegte sich Deutschland während der gesamten Pandemie im Durchschnitt. Anders sieht die Statistik aus, wenn man die Tage mit teilweisen Schließungen hinzunimmt. Hier fielen für Deutschland je nach Bundesland 98 bis 127 Tage an, nur in Kolumbien und den Niederlanden waren es durchgehend mehr. Allerdings gab es dafür in den Niederlanden auch nur halb so viele Tage mit Komplett-Schließungen. Insofern wäre die Wahrnehmung des Philologenverbands noch einmal zu hinterfragen.

o Besonders ernüchternd ist wieder einmal das Thema Finanzierung. Deutschland investierte 2019 rund 4,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Bildungseinrichtungen – 0,6 Prozentpunkte weniger als der OECD-Schnitt und nur 0,1 Prozentpunkte mehr als 2008. Das war übrigens das Jahr, indem Bund und Länder die "Bildungsrepublik" ausgerufen hatten.

"Das Bildungssystem braucht ein Update"

"Das deutsche Bildungssystem braucht ein Update", sagte BMBF-Chefin Stark-Watzinger. Der Bildungserfolg in unserem Land hänge nach wie vor stark von der sozialen Herkunft ab. "Mit dem Startchancen-Programm möchte ich bis zu 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern unterstützen."

Allerdings müsste es, siehe die Zahlen, auch und gerade um ein finanzielles Update gehen. Doch zur finanziellen Ausstattung des Startchancen-Programms hält sich Stark-Watzinger noch immer bedeckt, während der Bund den Ländern bereits signalisiert hat, dass es nach seiner Planung überhaupt erst frühestens Ende 2024 losgehen soll.

So kann man denn auch das Statement von KMK-Präsidentin Prien verstehen. Bund und Länder seien gefordert, "den zentralen Stellenwert von Bildung in ihrer gesamten Breite vom vorschulischen Bereich über die Schule und Berufsausbildung bis zu Hochschule und Weiterbildung zu berücksichtigen und mit den erforderlichen Mitteln auszustatten".

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