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Ein Wahlergebnis und vier Fragen

Die Bundestagswahl ist vorbei, aber das Zittern geht weiter. Wie handlungsfähig wird die neue Regierung, und was bedeutet das für Bildung und Forschung? Eine erste Bestandsaufnahme.

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Artikelbild: Ein Wahlergebnis und vier Fragen

Bild: Wilfried Pohnke / Pixabay.

ICH HATTE mich schon gewundert. In den Tagen vor der Bundestagswahl häuften sich Berichte über Auslandsdeutsche, die nicht rechtzeitig die von ihnen beantragten Briefwahlunterlagen erhalten hatten. Was, sollte hier tatsächlich systematisch etwas schiefgegangen sein, eine Beschränkung des Wahlrechts bedeuten könnte. Dann plötzlich: Stille. Wohl, weil sich keiner ausmalen wollte, was eine Anfechtung bedeuten würde. Bis am Montagvormittag Sahra Wagenknecht mitteilte, dass ihre – laut vorläufigen Endergebnis mit 4,97 Prozent an der 5-Prozent-Hürde gescheiterte – Partei erwäge, die Wahl anzufechten.

Einerseits: Ja, die Rechte der betroffenen Auslandsdeutschen müssen gewahrt werden. Dass das BSW aus durchschaubaren Motiven – 0,03 Prozentpunkte bis zum Bundestagseinzug – hier den Anwalt spielen möchte, geschenkt. Juristen weisen laut ZDF freilich darauf hin, dass nur direkt betroffene Wählerinnen und Wähler selbst Klage erheben könnten. Bei einer Wahlanfechtung wiederum müsste das BSW glaubhaft machen, dass es bei den Auslandsdeutschen entsprechend überdurchschnittlich abgeschnitten hätte.

So unwägbar und weit der juristische Weg bis zu einer möglichen teilweisen Wahlwiederholung wäre, so schädlich wirkte dieses Szenario für die deutsche Demokratie, wenn womöglich in einem Jahr oder mehr ein paar hunderttausend Betroffene noch einmal an die Urnen gerufen würden. Denn dann käme zu der ganz aktuellen Frage, ob sich Union und SPD, eventuell unter Beteiligung der Parteibasis, auf eine Koalition einigen werden können (SPD-Chef Lars Klingbeil sah am Montagmorgen keinen Koalitions-Automatismus), die mittelfristigere zweite hinzu, wie lange diese Koalition überhaupt Bestand hätte. Klar ist: Bei einem nachträglichen Einzug des BSW wäre ihre absolute Mehrheit im Bundestag futsch. Käme Wagenknechts Partei nur auf exakt fünf Prozent, fehlten Union und SPD sechs Sitze.

Für mich persönlich sind freilich eine dritte und, aus bildungs- und wissenschaftspolitischer Sicht, noch eine vierte Frage zentral, und zwar unabhängig vom Erfolg einer möglichen Wahlanfechtung.

Kann Schwarz-Rot wirklich die Signale von Handlungsfähigkeit und Aufbruch liefern, die es braucht?

Frage 3: Kann eine Koalition von Union und SPD wirklich liefern, was unsere Demokratie jetzt braucht, um nicht bei der nächsten Bundestagswahl den Aufstieg der AfD zur stärksten Fraktion zu erleben? Nein, damit meine ich nicht eine Politik, die den Rechtsextremisten nach dem Mund redet, keine Grenzschließungen und keine Anti-Flüchtlings-Politik, die im Übrigen von vielen Einwanderern unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus als Anti-Einwanderer-Politik wahrgenommen wird.

Ich meine: Können Union und SPD die Handlungsfähigkeit bei den dringend anstehenden Reformen von Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik liefern inklusive der Entbürokratisierung, die es braucht, um Deutschlands Wirtschaft wieder international wettbewerbsfähig und seine Sozialsysteme nachhaltig und finanzierbar zu machen? Kann eine schwarz-rote Koalition die Signale des Aufbruchs aus der gesamtstaatlichen Festgefahrenenheit senden, die den gesellschaftlichen Optimismus und damit das einzige wirkliche Mittel bringen würden, um den Radikalen das Wasser abzugraben?

Es geht mir dabei nicht um bestimmte Reformen, die ich selbst vielleicht für die richtigen halten würde. Worauf es jedoch ankommt: dass die neue Regierung sich überhaupt auf eine stimmige Linie einigen könnte, die eine Mehrheit der Wähler glauben lässt, dass Union und SPD Lösungen produzieren können und werden.

Ich gebe zu: Ich bin da sehr skeptisch. Die CDU von Merz ist kein strahlender, sondern ein schwacher Sieger mit "30-x" und einer offensichtlich fehlgeschlagenen Wahlkampfstrategie zur Eindämmung der Rechten, die am Ende die Linke stärkte. Die CSU von Söder wird ohne Unterlass darauf achten, dass Merz bloß genug Flagge zeigt gegen alles "Linke" und "Woke". Während die SPD, ausgestattet mit dem schlechtesten Wahlergebnis der deutschen Demokratiegeschichte inklusive der Weimarer Republik, eine Regierungspartei in der Identitätskrise wäre mit dem alles überlagernden Drang, sich neu zu erfinden– was, so zeigt die Erfahrung, bei der SPD-Basis meist einen Linksdrift mit sich bringt. Und angesichts der Sperrminorität von AfD und Linken im neuen Bundestag geraten Schmierstoffe wie eine Reform der Schuldenbremse, damit die notwendigen Priorisierungen nicht ganz so hart ausfallen, fast schon ins Reich der Unmöglichkeit (siehe hierzu auch meinen Nachtrag unten).

Ja, es gibt das optimistisch stimmende Argument, dass die Dimensionen der deutschen Misere die Partner zum Pragmatismus zusammenzwingen werden. Das mag für das Kabinett selbst stimmen. Aber stimmt es auch für das Drumherum der Fraktionen und Parteien, in der angesichts des Wahlergebnisses ganz andere – wenn man sie überhaupt so nennen möchte – Rationalitäten herrschen?

Ich will, ich möchte daran glauben, denn selten war die von vielen abgelehnte Alternativlosigkeits-Rhetorik der früheren Kanzlerin Angela Merkel so passend wie hier: Der Erfolg von Schwarz-Rot ist zwar nicht alternativlos, aber die Alternative wäre eine Krise der deutschen Demokratie, wie ich sie mir nicht ausmalen möchte und es doch für die Wissenschaftspolitik erst heute Morgen getan habe.

Das Narrativ, um das Land wieder fitzumachen

Apropos Wissenschafts- und Bildungspolitik: Damit komme ich zu Frage 4. Was könnte es sein, das Narrativ, das eine Regierung von Union und SPD als gemeinsame Klammer verbindet, die positive Erzählung zu den Aufbruchssignalen, die ich weiter oben postuliert habe? Vor dreieinhalb Jahren, nach der letzten Bundestagswahl, war das einfach. Am Tag danach schrieb ich hier im Blog: "SPD, Grüne und FDP haben die Chance, ein gemeinsames Narrativ des Bildungsaufbruches und der gesellschaftlichen Modernisierung zu entwickeln – mit dem sie sich als Koalition der Erneuerer über die Bildung hinaus darstellen könnten." Die Begriffe waren dann tatsächlich da, vor allem die Selbstbeschreibung der Ampel als "Chancen-Koalition". Was daraus wurde – nun ja.

Auch diesmal fällt mir ein Narrativ ein, es liegt nahe und würde perfekt zu der Notwendigkeit passen, das Land wirtschaftlich wieder fit zu machen. Eine Offensive in der Transfer- und Innovationspolitik, eine strategische Ausrichtung an diesem Ziel, angefangen mit einer Neustrukturierung der zuständigen Ministerien. Ambitionierte Investitionen in Forschungs-, Transfer- und Bildungsstrukturen würde nebenbei auch noch einer Art dreifachem Konjunkturprogramm entsprechen: Erstens in Form der steigenden Nachfrage für die Bauwirtschaft, die Industrie und die Hightech-Branche. Zweitens durch das Entstehen neuer Wissenschaftsausgründungen und Startups. Drittens und langfristig durch die vielfach bildungsökonomisch nachgewiesenen Effekte eines qualitativ hochwertigeren und inklusiveren Schulsystems. Die Union könnte ihren Dreh beim Erzählen dieses Narrativs finden, die SPD ebenso.

Nur – und die Formulierung dieses Einwandes tut weh – konnten Sie irgendwo im Wahlkampf erkennen, dass derlei Themen irgendwie eine ernsthafte Rolle gespielt hätte? In den zahlreichen Forderungspapieren von Landespolitikern, von Verbänden, Lobbygruppen und Gewerkschaften: ja. Aber in den Auftritten von Merz, Pistorius oder Söder?

Bitte belehren Sie mich, werfen Sie mir in den Kommentaren ein emphatisches "Doch" entgegen. Widersprechen Sie mir und meiner Befürchtung, die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation durch den Bund könnte angesichts leerer Haushaltskassen und maximalem Aufrüstungsdruck ein von Einsparung bedrohtes Politikfeld unter vielen werden – weil die mächtigen Fürsprecher fehlen.

Ein paar Hoffnungsschimmer sehe ich selbst. Stichwort Dual Use: So nüchtern-realpolitisch das klingt, wenn Hochschulen und Wissenschaft sich strategisch schlau aufstellen, können sie von den zusätzlichen Ausgaben für Militär und Sicherheit profitieren. Und Stichwort Markus Söder: Ja, Sie haben richtig gelesen. In Bayern hat er dafür gesorgt, dass massiv in Forschung und Entwicklung investiert wurde. Trotz seiner seltsamen, fast verstörenden Aussage, die kommende Regierung solle eine Koalition der "Rückkehr zu einem alten Deutschland" werden, traue ich ihm zu, dass er als CSU-Vorsitzender in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene Akzente für F&E setzen könnte. Innerhalb der SPD wird die größte Fürsprecherin einer finanzstarken Bundesbildungspolitik, Saskia Esken, derweil gerade aus dem Amt der Vorsitzenden geredet, will allerdings bleiben – während der nicht weniger für das Wahlergebnis verantwortliche Lars Klingbeil jetzt sogar zusätzlich das Amt des Fraktionsvorsitzenden anstrebt. Und Friedrich Merz? Bei dem kann ich bislang kaum erkennen, dass ihn die Themen Bildung und Forschung überhaupt interessieren. Hoffentlich hört er jetzt genau seiner Parteivize Karin Prien zu.

Nachtrag am 24. Februar, 21 Uhr: Dass Friedrich Merz möglicherweise den alten Bundestag mit seinen Mehrheiten nutzen könnte, um noch eine Änderung der Schuldenbremse und/oder die Schaffung eine neuen Sondervermögens für die Bundeswehr auszuhandeln, wäre ein so überraschender wie bemerkenswerter Move. Allerdings offenbar juristisch völlig in Ordnung, wenn sich denn die alte Ampel-Mehrheit hierfür aktivieren ließe (sicherlich, siehe oben, leichter als die neue Sperrminorität von Linken und AfD). Es wäre ein weiterer Hoffnungsschimmer, weil der finanzielle Spielraum der neuen Regierung viel größer würde – und die Möglichkeit, über eine gemeinsame Linie zu einer echten Handlungsfähigkeit zu finden, ebenso. Warten wir es ab.

Kommentare

#1 -

Rolf Kross | Fr., 28.02.2025 - 22:12
Eine interessante Analyse, lieber Herr Wiarda. Ich verstehe aber nicht, warum Sie in Fragen einer möglichen Sperrminorität die Linke und die AfD in einen Topf werfen. Es ist wirklich entsetzlich, was die letztere Partei für
Leute zusammen sammelt für ihre Fraktion.

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