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"Wir brauchen einen ko-konstruktiven Föderalismus"

Der Bildungsforscher Kai Maaz über die Frage, wie die demokratischen Parteien die Diskurshoheit zurückerobern können – und was das mit der Reform unseres Bildungssystems zu tun hat.

Kai Maaz ist Sozialpädagoge, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher und Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Foto: fotorismus für DIPF.

Herr Maaz, Union und SPD stecken in Sondierungen, bis Ostern wollen sie einen Koalitionsvertrag vorlegen. Wie blicken Sie als Bildungsforscher auf das Ergebnis der Bundestagswahl – und die daraus erwachsenden Aufgaben für die Politik? 

 

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat eine Entwicklung nachvollzogen, die vor langer Zeit begonnen hat. Ein System ist in Bewegung gekommen. Es verbieten sich monokausale Erklärungsmuster, aber erkennbar im Zentrum aller Debatten standen gerade nicht die Sorgen und Ängste der Bevölkerung – bei denen es egal ist, ob sie real sind oder als real empfunden werden. Man könnte sogar sagen: Gerade auf die Ängste, für die es keine empirisch klare Grundlage gibt, hat die Politik keine richtige Antwort gefunden. Sind diese Ängste deshalb politisch nicht adressierbar, weil sie nicht rational sind? Oder sind sie vielleicht in Teilen sogar rational, aber in ihren Grundlagen so komplex und widersprüchlich, dass die Politik deshalb überfordert war? Diese Frage muss sich das politische System stellen, will es Menschen wieder gewinnen. 

 

Das müssen Sie erklären: in Teilen sogar rational, aber komplex und widersprüchlich?

 

Nehmen Sie das Thema Migration. Es lässt sich nicht negieren, dass wir als Gesellschaft vor großen Herausforderungen stehen bei der Integration der Menschen, die zu uns gekommen sind. Aber da geht es schon los. Um die Probleme zu lösen, müsste man sie erst einmal in der nötigen Vielschichtigkeit diskutieren. Denn nur dann lassen sich angemessene Lösungen entwickeln. Die Menschen erleben die Komplexität oft nicht direkt, sondern indirekt, zum Beispiel als ein diffuses Gefühl der Bedrohung und Verängstigung. Dieses ist irrational, weil es sich in einer Analyse auf der Sachebene schnell entkräften ließe, etwa wenn Menschen über Migration reden, in deren Kommune der Einwandereranteil bei zehn Prozent liegt. Insofern sind die Ängste real, sie sind ja da – aber dennoch irrational. 

 

Wie kann die Politik rational damit umgehen?

 

Ich sehe drei Varianten. Erstens: Ängste be- und verstärken und einfache, unterkomplexe Lösungen anbieten; das machen die radikalen Parteien. Zweitens: rationalisieren und das Problem auf der Sachebene bearbeiten; das machen die traditionellen Parteien. Drittens: Die Ängste sowohl auf der Sach- als auch der emotionalen Ebene adressieren und die Leute dort, in ihren diffusen Gefühlen und Ängsten, abholen und ernstnehmen, drauf eingehen. Erst dann rationalisieren und Lösungen suchen. Das macht keiner. 

 

"Zukunftsthemen wie Kinder, Jugend, Bildung, Familie oder Digitalisierung kamen im Wahlkampf entweder gar nicht oder randständig vor. Zukunftsvisionen? Fehlanzeige."

 

Weil es am schwierigsten ist?

 

Mag sein. Fest steht: Statt sich für die dritte Alternative zu entscheiden, wurde viel geschimpft, man beschuldigte sich gegenseitig und führte die politische Diskussion immer enger. Zukunftsthemen wie Kinder, Jugend, Bildung, Familie oder auch Digitalisierung kamen entweder gar nicht oder bestenfalls randständig vor. Zukunftsvisionen? Fehlanzeige.

 

Wozu führte das?

 

Die Debatte war geprägt von zwei Fragen. Erstens: Ist der Fortbestand unserer Demokratie gefährdet? Zweitens: Wer hat die radikalsten – nicht die angemessensten – Konzepte im Umgang mit Migration? Beide Fragen hängen eng zusammen. Weil die demokratischen Parteien fürchten, ohne radikale Lösungen in der Migrationsfrage hätten sie keine Handhabe gegen den Erfolg der radikalen Parteien. Das ist aber ein Irrtum.

 

Wie meinen Sie das?

 

Eine Partei, die unser Wertesystem angreift, die die Vergangenheit verklärt und die Gewordenheit der Dinge infrage stellt, die sich über die Erkenntnisse der Wissenschaft stellt, kann unsere Demokratie gefährden. Weil sie die Demokratie daran hindert, ihre größte Stärke auszuspielen: einen politischen wie gesellschaftlichen Diskurs, der die Bevölkerung mitnimmt, der die Dinge faktenbasiert aufarbeitet und verstehbar macht und dabei ihre Sorgen ernst nimmt. Ich glaube aber, unsere Demokratie hat die Kraft, sich nicht auf Dauer beirren zu lassen. Sie ist gefestigter, als viele zurzeit fürchten. Und nur eine Demokratie kann echte Lösungen für komplexe Probleme produzieren, auch wenn das länger dauert. Die demokratischen Parteien müssen wieder an die Stärke der Demokratie glauben.

 

Und was tun? Hier sind wir wieder bei Ihrer dritten Alternative, oder?

 

Genau. Es geht vor allem um Kommunikation. Den Menschen klarmachen, dass es für viele Probleme des Alltags keine Lösungen mit ausschließlich alten, wenn auch modifizierten Instrumenten geben kann. Die Parteien müssen Akzeptanz erzeugen für ein neues Verständnis politischer Verantwortung, die nicht mehr ausschließlich darin besteht, die Dinge ein für alle Mal zu regeln, sondern durch länger andauernde Unsicherheit zu steuern. Dazu braucht es ein fundamental anderes Narrativ, das heißen könnte: "Krise als Normalzustand, Umgang mit Unsicherheit, Fehlen von schnellen Antworten und Lösungen – aber dennoch Entscheidungen treffen und steuern". 

 

"Natürlich brauchen wir einen
sachlichen Diskurs oder wissenschaftliche Orientierung. Aber das reicht eben nicht."

 

Vorhin sprachen Sie davon, die demokratische Politik müsse die Menschen zunächst mit Ihren Emotionen "abholen und ernstnehmen".

 

Was ich damit meine: Die demokratischen Parteien sollten lernen, die Menschen auch emotional anders anzusprechen. Natürlich brauchen wir einen sachlichen Diskurs oder wissenschaftliche Orientierung. Aber das reicht eben nicht. Demokratie heißt auch Verantwortungsbeteiligung, am Ende des Tages funktioniert die Gesellschaft nur, wenn alle sich verantwortlich fühlen, auch emotional, und ihren Teil dazutun. Vielleicht meinte Angela Merkels einfacher Satz „Wir schaffen das“ genau das, Demokratie als gelebte gemeinsame Verantwortung aller.

 

Ich kann mir vorstellen, dass gerade viele demokratische Politiker mit den Augen rollen. Ein Forscher, der Kommunikationstipps gibt.

 

Das kann ich nachvollziehen. Aber klar ist: Eine Ausgrenzungsstrategie, bei der 20 Prozent der Bevölkerung als „antidemokratisch“ behandelt werden – wohlwissend, dass dies so nicht direkt kommuniziert wurde, aber bei den Leuten so ankommt – kann nicht die Antwort sein. Wir brauchen eine nüchterne, aber ernst geführte, eine gesamtgesellschaftlich nach vorn gewandte Diskussion über das Land, in dem wir in einem starken Europa leben wollen: ein aufgeschlossenes Land, das nicht diskriminiert, niemanden aufgrund seiner Herkunft und Neigungen benachteiligt oder ausgrenzt, das die Sorgen und Nöte seiner Bevölkerung ernst nimmt, Perspektiven eröffnet, allen gerechte Bildung und Chancen für ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Das Spitzenleistung fördert und die unterstützt, die Hilfe brauchen und offen für jene ist, die in Not sind.

 

Eine schöne Vision. Aber entspricht die in ihrer Einfachheit der von Ihnen postulierten Komplexität der Lösungen?

 

Aber genau das brauchen wir doch, eine Vision, auf die wir hinarbeiten. Dafür braucht es eine Debatte, die die Komplexität unserer Welt anerkennt und nicht suggeriert, es gebe angesichts der vielen Dilemmata ein einziges Richtig und Falsch. Die angesichts von Unsicherheit und Überforderung die Idee zentralistischer Steuerung aufgibt zugunsten eines gemeinsamen Aushandelns der Handlungsspielräume. Und hier kommt die Aufgabe von Bildung hinein: Dieses zu lernen – den Umgang mit Ambiguität, die Perspektivenübernahme und das Urteilsvermögen angesichts des weitgehenden Fehlens von eindeutigem Richtig und Falsch –, das wäre eine zentrale Aufgabe von Bildung und Schule, die zumindest genauso bedeutsam sein sollte wie das Beherrschen der Basiskompetenzen im Sprachlichen und Mathematischen.

 

Machen wir es nochmal konkret, am besten am, wie Sie sagen, alles beherrschenden Thema Migration.

 

Die Entwicklung in anderen europäischen Staaten zeigt, dass es nicht funktioniert, sich auf einen Überbietungswettbewerb einzulassen mit dem politischen Gegner vom extremen Rand, wobei es keine Rolle spielt, ob dessen Vorschläge umsetzbar sind oder nicht. Wo immer das versucht wurde, haben die extremen Ränder gewonnen und die politische Mitte an Bedeutung verloren. Eine andere Perspektive wäre meines Erachtens zielführender: das Entwickeln einer eigenen politischen Agenda, die die Zukunftsthemen stark macht.

 

Themen wie Bildung?

 

Natürlich hätte man Bildung auch in einem Bundestagswahlkampf stärker betonen können und aus meiner Sicht auch müssen. Die Rahmenbedingungen, unter denen Bildung beispielsweise in der Schule stattfindet, haben sich verändert, sind komplexer geworden, die Schülerschaft ist heterogener geworden und die Anforderungen sind stetig gestiegen. 

 

"Die vergangenen 25 Jahre föderaler Bildungspolitik haben nur am Status Quo festgehalten, Schulen und Unterricht aber nicht grundlegend erneuert und verbessert." 

 

Welche Anforderungen sind gestiegen?

 

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Diskussion um Medienkompetenz war vor 25 Jahren, also zum Zeitpunkt der ersten PISA-Studie, eine völlig andere. Themen wie Informatik als Unterrichtsfach, Cybermobbing, KI und ChatGPT sind erst danach aufgekommen. Doch das Bildungssystem, das hat der aktuelle Bildungsbericht geschlussfolgert, antwortete auf alle technologischen Veränderungen fast immer nur reaktiv. Die vergangenen 25 Jahre föderaler Bildungspolitik haben insofern nur am Status Quo festgehalten, Schulen und Unterricht aber nicht grundlegend erneuert und verbessert. Dabei wäre die gesellschaftliche Bereitschaft, die Dinge in der Bildung anders zu machen, sehr groß.

 

Argumentieren Sie gerade gegen den Bildungsföderalismus?

 

Nein, aber endlich für einen ko-konstruktiven Föderalismus, in dem jedes Bundesland die Fähigkeit besitzt, nachhaltig von den jeweiligen anderen 15 Systemen zu lernen, anstatt das eigene Agieren als Richtschnur des Handelns zu beschreiben. Ich plädiere keineswegs  für eine zentralistische Bildungssteuerung.  Gleichwohl könnte man aber schon über eine strategische Stärkung des BMBF nachdenken. Nur hätten die demokratischen Parteien das im Wahlkampf vorbereiten können, indem sie – neben anderen zweifelsohne wichtigen Themen – Bildung als Ressource in den Mittelpunkt geschoben hätten, die uns nach vorn bringt, die wir exportieren und importieren, mit der wir gestalten und innovativ werden. Davon habe ich rein gar nichts gesehen. Warum hat keine einzige Partei die Bedeutung von sprachlichen und mathematischen Kompetenzen hervorgehoben und, noch wichtiger, gleichzeitig deutlich gemacht hat, dass Deutsch und Mathematik kein Selbstzweck sind? Ob es um das Verständnis des Klimawandels geht oder um den statistischen Zusammenhang von Kriminalität und Migration, bei der Vermittlung von – in diesem Fall – mathematischen Grundkompetenzen geht es um die Vermittlung demokratischer Bürgerkompetenz.

 

Stattdessen wurde die angebliche Entwertung der Bundesjugendspiele gebrandmarkt.

 

Ein gutes Beispiel für die von mir anfangs erwähnte thematische Engführung, weil die realen Probleme zu komplex erscheinen. Was blieb bei der Diskussion hängen? Die Politik will das Gewinnen abschaffen nach dem Motto: "Dabeisein ist alles".  Die Leute schütteln erwartungsgemäß den Kopf, die verantwortliche Politik steht als realitätsfremd da. Dabei erinnern sich viele Leute zugleich sehr gut, wie unfair sie es fanden, wenn zwei gleichaltrige Schüler beim Laufen oder Werfen nach den gleichen Kriterien bewertet wurden, obwohl der eine 20 Zentimeter größer war als der andere. Warum gelingt es uns nicht, dieses Bewusstsein der Leute für eine angemessene Debatte zu nutzen – etwa zu der Frage, ob vergleichende Noten im Sportunterricht oder in Fächern wie Musik oder Kunst überhaupt eine Aussagekraft haben?

 

Sprechen Sie aus Erfahrung?

 

Wir alle machen solche Erfahrungen. Ich habe als Kind die Musikschule besucht, ging aber nicht in den Handballverein wie fast alle anderen Jungs meiner Klasse. Handball war dann aber die Mannschaftssportart, die bewertet wurde – mit dem Ergebnis, dass ein Klassenkamerad und ich wie die Deppen dastanden. Wäre Fußball bewertet worden, hätte die Sache anders ausgesehen, weil wir zu Hause in jeder freien Minute gekickt haben – aber dafür war die Sporthalle in der Schule zu klein. Nein, es ist in der Bildung wie auch sonst in der Politik: Die Realität ist komplex, mit scheinbar einfachen Lösungen machen wir uns nur selbst etwas vor. Nur sollten wir uns davon nicht entmutigen lassen. Wir können die Dinge anders machen!



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