Nach der Beschleunigung kommt die Vollbremsung
Die Corona-Pandemie als Sternstunde der Forschung? Ja – einerseits. Andererseits war es für viele Wissenschaftler ein bitteres Jahr. Und das dürfte erst der Anfang gewesen sein.
Illustration: Pete Linforth / Pixabay.
DIE CORONA-PANDEMIE HABE die wissenschaftliche Forschung und Zusammenarbeit in ungekanntem Tempo beschleunigt, berichtete der Industriestaatenbund OECD vergangene Woche. Die Forschungsfördereinrichtungen hätten in den Ländern, zu denen die Daten vorlägen, in den ersten Monaten der Pandemie mehr als fünf Milliarden Dollar zusätzlich für Forschung und Entwicklung bereitgestellt, so kann man es im "OECD Science, Technology and Innovation Outlook 2021" nachlesen.
Aber da geht es schon los: All dieses zusätzliche Geld floss allein in die Covid-19-Forschung. Und die OECD-Autoren fügten hinzu: Nicht berücksichtigt bei ihrer Berechnung seien all die internen Ressourcen, die innerhalb der Forschungseinrichtungen noch dazu aus anderen Wissenschaftsgebieten und -projekten umgesteuert worden seien. >>
>> 75.000 wissenschaftliche Publikationen zu Corona, neue Public-Private-Partnerschaften, Digitalisierungssprünge: Schaut man sich die Ergebnisse dieses Kraftakts an, die enormen Erkenntnisfortschritte binnen Jahresfrist in Bezug auf das Virus und seine Verbreitung, auf die Krankheit und ihre Therapie; und macht man sich dann auch noch klar, dass vermutlich nie zuvor in so kurzer Zeit nicht nur einer, sondern gleich mehrere hochwirksame Impfstoffe entwickelt wurden, dann kann man in der Tat nur sagen ja, das ist eine gute Nachricht, mehr als das. Es ist geradezu atemberaubend, wie entschlossen Wissenschaftspolitik, Wissenschaftscommunity und forschende Unternehmen weltweit auf diese größte Krise seit Jahrzehnten reagiert haben.
Doch worauf auch die OECD-Autoren hinweisen: Dieser beispiellose Kraftakt ging, so richtig und unvermeidbar er war, mit einer beispiellosen Krise auch des Wissenschaftssystem einher. Nicht nur, weil andere Fachrichtungen und Projekte zurückstecken und Geld abgeben mussten. In vielen Ländern wurden im Lockdown zwischenzeitlich zudem alle nicht Covid-19-relevanten Laborarbeiten gestoppt. So international die Corona-Forschung war, der physische internationale Wissenschaftleraustausch kam derweil zum Erliegen. Währenddessen lehnte beispielsweise die Europäische Kommission es ab, für alle ihre Doktoranden die Stipendien zu verlängern, ausgenommen bei Corona-nahen Forschungsthemen. Welche gesellschaftlichen Kosten dieser Erkenntnisverlust an anderer Stelle haben wird, darüber können wir nur mutmaßen.
Und er geht weiter: Denn auch die fünf (und in Wirklichkeit vermutlich noch mehr) zusätzlichen Milliarden wird die Wissenschaft gleich mehrfach zurückzahlen müssen. Viele Staaten haben sich in der Krise verausgabt. Sie werden absehbar, so falsch das ist, auch die Forschungsfinanzierung zur Sanierung heranziehen. Manch unterbrochene Forschungsarbeit wird deshalb nicht beendet, manch auf Eis gelegtes Forschungsprojekt nicht wieder aufgenommen werden.
Nach der Beschleunigung allein Corona wegen kommt die Vollbremsung für alle: Noch ist es nur eine Sorge, obgleich eine äußerst reale. An Niedersachsens Hochschulen etwa gehen die Kürzungen schon los.
Die OECD-Autoren verlangen von Regierungen und Forschungsorganisationen klare Ansagen, was sie sich in den nächsten Jahren noch leisten können und wo sie ihre Prioritäten setzen werden. Es gilt also genau hinzuschauen, welche Haushaltentscheidungen die Politik in den nächsten Monaten trifft. Auch in Deutschland.
Dieser Kommentar erschien zuerst im ZEIT-Newsletter Wissen3.
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Kommentare
#1 - Ja, da muss man sich auf etwas gefasst machen. Wenn die…
Im Gegensatz zu Niedersachsen agiert hier Bayern völlig umgekehrt. Die vor Corona angekündigte Hightech Agenda Bayern wurde bislang nicht gekürzt. Ganz im Gegenteil. Die Mittel wurden mit der Hightech Agenda Plus nun noch schneller an die Wissenschaft verteilt. Eine Abhängigkeit von Corona im Sinne eines neuen Fokus auf entsprechende Forschung ist mir nicht bekannt und höchstens marginal. Der vorgesehene Schlüssel hat m.W. weiter Bestand.
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