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Noch Platz für viele Namen

Der Soziologe Stefan Liebig hat ein öffentliches Statement deutscher Professoren gegen Antisemitismus an Hochschulen organisiert. Ein Interview über aktuelle Anlässe, die schweigende Mehrheit und das Ringen um den Diskurs.

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Artikelbild: Noch Platz für viele Namen

Stefan Liebig ist Professor für empirische Sozialstrukturanalyse an der Freien Universität Berlin und hat bis 2022 das Sozioökonomische Panel geleitet. Foto: privat.

Herr Liebig, Sie sind Initiator des Statements "Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen!", das am Dienstagmorgen online gegangen ist. Mehr als 70 Professorinnen und Professoren von deutschen Hochschulen gehören zu den Erstunterzeichnern. Welchen der zahlreichen aktuellen Anlässe meinen Sie?

Wie Sie sagen: Es gibt viele. Angefangen mit den Hochschulbesetzungen durch studentische und nichtstudentische Gruppen, bei denen immer wieder antisemitische Parolen und Hamas-Symbole auftauchen. Es geht weiter mit der Gewalt gegen jüdische Studierende. Israelische Wissenschaftlerkollegen und -kolleginnen werden von internationalen Konferenzen ausgeladen, Journale wollen ihre Texte nicht mehr publizieren. Und gleichzeitig ist da dieses bedrückende Schweigen der großen Mehrheit an den deutschen Hochschulen, die nicht antisemitisch ist, aber auch nicht aufsteht.

"Profs against antisemitism" nennen Sie Ihre Initiative. Warum beschränken Sie den Unterzeichnerkreis auf diese Weise?

Weil wir damit zeigen wollen, dass gerade die Professorinnen und Professoren in einer besonderen Verantwortung stehen. Nicht nur für ihre jüdischen Studierenden, sondern auch für ihre jüdischen Kollegen und Kolleginnen. Wir wollen mit der Initiative unserer Verantwortung gerecht werden und fordern andere auf, das ebenfalls zu tun.

Im Statement heißt es: "Wir… stellen uns ohne Wenn und Aber vor unsere jüdischen Studierenden und Kolleginnen und Kollegen." Was genau bedeutet "ohne Wenn und Aber?"

Wir wollen damit ein Zeichen setzen, dass es zwar zum Selbstverständnis von Wissenschaft und von Forschenden gehört, andere Positionen hören und verstehen zu wollen, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen – ein Ideal, das ich im Übrigen vollkommen teile. Dass es aber auch Grenzen gibt, ab denen bestimmte Debatten nicht mehr geführt werden können. Ab denen man sagen muss: Bis hierhin und nicht weiter.

Haben die Unterzeichner des Offenen Briefs, der so heftig unter anderem von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kritisiert wurde, diese Grenzen überschritten?

Eindeutig. Ich fand diesen Brief falsch, ich hätte ihn nie unterschrieben. Allerdings waren unter den Unterzeichnern auch Kolleginnen und Kollegen, die ich gut kenne und denen ich niemals Antisemitismus unterstellen würde. Was wir aber brauchen, sind Leitplanken für unseren Diskurs. Mein Gefühl ist, dass wir als Wissenschaftscommunity gerade um diese Leitplanken ringen. Für mich sind diese Leitplanken, dass alle Äußerungen und Handlungen sich stets auf dem Boden der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung bewegen und im aktuellen Fall das Existenzrechts Israels nicht in Frage gestellt werden darf. Und dass man den Diskurs für beendet erklärt, wenn die andere Seite nicht mehr am Austausch von Argumenten interessiert ist. Für mich war das bei den Besetzungen an der Humboldt-Universität und der Freien Universität ganz klar der Fall.

Sie wenden sich ebenso deutlich gegen Boykottinitiativen aus der internationalen Wissenschaftscommunity.

Viele uns haben konkrete Kooperationen mit israelischen Universitäten und Forschungseinrichtungen, von denen lassen wir uns nicht abbringen. Es ist doch absurd, den Boykott von Wissenschaftlern zu fordern, die ausgerechnet zu denen in Israel gehören, die sich am deutlichsten gegen die aktuelle Regierung stellen und für die Integration arabischer Studierender in den israelischen Hochschulen eine wichtige Rolle spielen. Ihnen Apartheid vorzuwerfen, ist ungeheuerlich.

Was sagt es eigentlich aus, dass Ihr Statement nur gut 70 Erstunterzeichner hat, Aufrufe zum Schutz propalästinensischer Proteste aber ein Mehrfaches davon?

Das sagt aus, dass wir an deutschen Hochschulen offenbar Lehrende haben, die sich mit der palästinensischen Sache stärker identifizieren als mit dem Schutz ihrer eigenen Studierenden und Lehrenden. Wenn einige davon sogar die Hamas als Freiheitsbewegung sehen, dann kann ich das einfach nicht verstehen. Wir haben im Vorfeld jüdische Studierende und Mitarbeitende gefragt, ob sie unser Statement gutheißen würden, und die Reaktion war eindeutig: Sie waren dankbar, dass endlich ein klares Statement aus der Professorenschaft kommt.

"Endlich" ist das Stichwort. Warum erst jetzt?

Weil wir sehen, dass die Entwicklung einen Kulminationspunkt erreicht hat. Zwar sehen wir auch Gegenbewegungen wie an der Universität Konstanz, die gerade zusammen mit der Universität Tel Aviv eine Vortragsreihe organisiert. Doch zugleich reißen die Proteste an deutschen Hochschulen gegen Israel nicht ab, und die internationalen Boykottaufrufe gegen israelische Kolleginnen und Kollegen verstärken sich. Jetzt ist die Zeit zum Gegenhalten. Auf der Website des Aufrufs findet sich eine Mailadresse für alle, die sich als Unterstützer bekennen wollen. Unter unserem Statement ist noch Platz für viele Namen.


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Kommentare

#1 -

Sebastian H. | Di., 02.07.2024 - 13:03
Ich finde das Statement in seinem Wortlaut gut und wäre ich Professor, würde ich es vermutlich auch unterschreiben.

Ich sehe aber anders als der Initiator keinen Widerspruch zum Inhalt des berühmten Offenen Briefes. Es können doch mehrere Sachen gleichzeitig richtig sein: Einerseits die absolute Notwendigkeit des Schutzes jüdischer Studierender, auch mit symbolischen Gesten wie diesem Statement. Und gleichzeitig ein differenziertes Vorgehen gegenüber protestierenden Studierenden ohne Holzhammer und kollektive Zuschreibungen.

Mir scheint, dass sich in der Wissenschaftscommunity viele Menschen in ein unnötiges Lagerdenken begeben. Dieses Lagerdenken sehe ich auch in diesem Interview und das finde ich schade.

Dennoch: Ich wünsche mir, dass das Statement "Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen!" noch viele UnterzeichnerInnen findet.

#3 -

Simon Pschorr | Di., 02.07.2024 - 17:20
Ich teile die Auffassung von Sebastian H. Ich habe den Berliner offenen Brief nicht unterschrieben und teile einige Aussagen in diesem Brief nicht. Dennoch kann ich die Unvereinbarkeit zwischen dieser ersten Stellungnahme und der hier beworbenen Stellungnahme nicht erkennen. Deshalb habe ich mich klar gegen eine (auch nur versuchte) Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit der Unterzeichner*innen eingesetzt.

Wissenschaft lebt vom Dialog. Das bedeutet, nicht überzeugende, manchmal sogar empörende Äußerungen der anderen Seite ertragen zu müssen - und sich mit Wort und Tat innerhalb der Grenzen des geltenen Rechts, besonders der verfassungsrechtlichen Ordnung, für die eigene Ansicht einzusetzen. Darüber hinaus gehört die Bereitschaft dazu, sich überzeugen zu lassen, wenn man falsch liegt. Die Grenzen dieses akademischen Diskurses sind durch Rechtsgüter Betroffener abgesteckt. Das Eigentum, die körperliche Integrität und selbstverständlich die Menschenwürde aller Diskursteilnehmer*innen sind jederzeit zu wahren.

Deshalb unterstütze ich die vorliegende Erklärung und spreche mich dennoch zugleich für unmissverständliche Konsequenzen für Ministerin Stark-Watzinger aus.

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