Ein Repräsentant der Wissenschaft am Kabinettstisch würde den reichlich vorhandenen wissenschaftlichen Rat für die Politik nutzbarer machen. Doch dafür braucht es eine kluge Gesamtkonstruktion. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Wick.

Wolfgang Wick, Professor für Neurologie und als Neuroonkologe am Heidelberger Universitätsklinikum, ist seit Februar 2023 Vorsitzender der Wissenschaftsrats (WR). Foto: Svea Pietschmann.
DIE NEUE REGIERUNG steht vor Mammutaufgaben. Bei vielem kann und muss Forschung zu Lösungen beitragen, etwa zu Dekarbonisierung und wirtschaftlichen Innovationen, zu Gesundheit, Digitalisierung oder zur digitalen und militärischen Sicherheit. Dabei ist es zentral, systemisch zu denken. Denn weder sortieren sich die Probleme sauber nach Ressortzuständigkeiten, noch fallen die Sachfragen, die sich stellen, ins Raster akademischer Disziplinen.
Mehr denn je braucht die Politik deshalb guten wissenschaftlichen Rat. Doch wie kann es gelingen, wissenschaftliche Expertise besser politisch nutzbar zu machen und zugleich den politischen Stellenwert von Forschung und Bildung zu stärken, wo doch die Konkurrenz der Dringlichkeiten und Finanzbedarfe so groß ist, wie vielleicht noch nie?
Neben Überlegungen zu einem veränderten Zuschnitt des zuständigen Bundesministeriums wird die Einrichtung eines obersten wissenschaftlichen Politikberaters diskutiert. Ein solcher Chief Scientific Advisor, kurz CSA, nach amerikanischem oder britischem Vorbild soll der Wissenschaft am Kabinettstisch der neuen Regierung Stimme und Gewicht verleihen.
Wenn die Politik sich nicht den besten Rat
sucht, sondern den, der ihr am besten passt
Doch wie würde ein solches Amt zur aktuellen Struktur der wissenschaftlichen Politikberatung passen? Und mehr noch, denn das sollte der Anspruch sein, was könnte ein CSA daran verbessern? Zunächst ein Blick auf den Status Quo. Aktuell beraten 46 Ressortforschungseinrichtungen die Politik. Hinzu kommen wissenschaftliche Akademien, verschiedene Stiftungen und Think Tanks, hunderte Hochschulen sowie zahlreiche wissenschaftliche Beiräte verschiedener Ressorts, oftmals mehrere je Ministerium. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und zeigt die Vielfalt der Akteure wissenschaftlicher Politikberatung, zu der selbstverständlich und in besonderer Weise auch der Wissenschaftsrat gehört.
An gutem Rat herrscht also gewiss kein Mangel, eher schon ein Überangebot. Die Inflation der Expertisen bringt die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit und des Eindrucks, die Politik suche sich nicht den besten Rat, sondern den, der ihr am besten passt. Ein weiteres Risiko ist, das wissenschaftliche Beratung politisch gegeneinander ausgespielt wird und sich am Ende nicht die besseren Argumente durchsetzen, sondern das mächtigere Ressort. Dies schadet dem Ansehen der Politik wie dem der Wissenschaft gleichermaßen. Die Konkurrenzsituation ist besonders problematisch bei Themen, die nach ressortübergreifender Zusammenarbeit rufen wie Datensicherheit oder Klima.
Ein CSA könnte tatsächlich helfen – aber nur, wenn er Teil einer klugen Gesamtkonstruktion ist. So könnte man sich unabhängige und auf Zeit aus der Wissenschaft rekrutierte Scientific Advisors in allen Ressorts vorstellen, die nah an den jeweiligen Themen sind. Ihnen könnte die jeweilige Ressortforschung unterstellt werden, was die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung verringern würde. Die Scientific Advisors in den Ressorts koordinieren könnte ein zentraler CSA im Kanzleramt, der die Perspektiven zusammenführt und die Sachklärung abschließt, bevor die politische Abstimmung und Aushandlung beginnen. Der CSA könnte so die wissenschaftlichen Sichtweisen aus verschiedenen Disziplinen verbinden und einbringen, aber auch Sorge dafür tragen, dass diese Perspektiven aus der Metaebene in eine für Gesetze und Verordnungen nutzbare Form übergeht. Auch der CSA würde nach dem britischen Modell für eine Legislaturperiode aus der Wissenschaft rekrutiert, in die er im Anschluss zurückkehrt.
Ein Lotse in einem
komplexen Netzwerk
Während so eine Struktur für die Bundesregierung denkbar wäre, bleiben doch einige Fragen offen: Wie beispielsweise wäre der föderalen Rollenteilung Rechnung zu tragen? Bräuchten auch die Länder eigene CSA? Welche Rolle spielten die Akademien und andere Akteure in einem solchen System? Wie würden die neuen Strukturen zum Ziel des Bürokratieabbaus passen? Welche Positionen oder Einrichtungen ließen sich im Gegenzug einsparen?
Wer Erfahrungen in der Politikberatung hat, weiß, welche wichtige Rolle neben guten Argumenten Überzeugungskraft und Charisma spielen. Letzteres ist höchst nützlich, wenn es darum geht, Kompromisse zu finden und andere mitzunehmen. Eine solche Persönlichkeit am Kabinettstisch könnte in diesem Sinne einiges bewirken. Doch bliebe sie natürlich Repräsentant eines dahinterliegenden komplexen Systems.
Die Politik braucht weiter die institutionalisierte Beratung und das Wissen, das in den Wissenschaftsorganisationen, den Akademien und anderen Akteuren steckt; an der einen oder anderen Stelle etwas verständlicher formuliert oder mit präziseren Umsetzungsempfehlungen versehen als bisher. Eine kluge und einen Mehrwert erbringende Integration eines neuen Amtes und der damit verbundenen Struktur will also gut durchdacht sein – es wäre gleichsam ein Lotse in einem komplexen Netzwerk. Dies in einer neuen Bundesregierung und im System der wissenschaftlichen Politikberatung umzusetzen, ohne dabei eine systemfremde Zentralisierung oder Simplifizierung oder gar zusätzliche Bürokratie zu schaffen, wäre eine große, aber lohnende Herausforderung.
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