Passt bitte auf!
Ein Diskussionspapier der Leopoldina forderte die "Entbürokratisierung des Wissenschaftssystem" und liegt damit im Trend. Gefährlich wird es, wenn dabei Aufgaben, die für den Erhalt der Demokratie fundamental wichtig sind, zum unverbindlichen Nebenzweck erklärt werden. Ein Gastbeitrag von Britt Dahmen.

Britt Dahmen ist Leiterin des Referats Chancengerechtigkeit an der Universität zu Köln. Foto: Sammy Jamal.
DIE GESAMTE WISSENSCHAFT in Deutschland starrt sorgenvoll bis geschockt auf die Zerschlagung von Grundpfeilern des Bildungssystems in den USA. Durch seitenlange Listen mit Schlagwörtern von "antisemitism" über "gender" bis "racism", die Forschungsarbeiten zu diesbezüglichen Themen aus dem Fördersystem ausschließen sollen, wird das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit ausgehebelt. Das Verbot der Erhebung und die Löschung von wissenschaftlichen Daten in verschiedensten Forschungsfeldern untermauern die Ernsthaftigkeit und Tragweite, mit der die US-amerikanische Regierung ihre politischen Eingriffe verfolgt.
Die ursprünglich international wegweisende Förderpraxis von Chancengerechtigkeit beim Bildungszugang in den USA gehört ebenfalls zu den Opfern der Trump-Regierung. Maßnahmen zur Sicherung von Diversität wurden untersagt, zusammen mit der Entlassung von Mitarbeiter*innen aus diesem Arbeitsfeld und der Abwicklung des nationalen Bildungsministeriums, zuständig für die Verteilung von Mitteln für sozial schwache Schüler*innen, stellt dieses Verbot wahrscheinlich nur die erste weithin sichtbare Zerstörungswelle dar, mit der der US-amerikanische Präsident die sogenannte "woke" Bewegung ersticken möchte. Chancengleichheit, Postcolonial Studies, gender-sensible Medizin? Das sind scheinbar nur die irren Ideen einer akademischen Elite, die alten weißen privilegierten Männern ans Zeug will.
Und wir alle fragen uns besorgt, ob dieser Tsunami auch das deutsche Wissenschaftssystem irgendwann überrollen könnte. Nur: Fragen wir uns das wirklich alle?
Moment mal: Chancengleichheit
im Bildungssystem als Nebenzweck?
Die traditionsreiche Gelehrtengesellschaft Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat Ende Februar 2025 unter Leitung ihres ehemaligen Präsidenten Gerald Haug ein Diskussionspapier mit dem Titel "Mehr Freiheit – weniger Regulierung. Vorschläge für die Entbürokratisierung des Wissenschaftssystems" veröffentlicht, das erschreckend ähnliche Argumentationsmuster zur Entledigung von als störend empfundenen Aufgaben aufgreift. Chancengleichheit, übrigens genannt in einer Linie mit Nachhaltigkeit ("Umweltschutz"), Transfer ("Wirtschaftsförderung"), Daten- und Arbeitsschutz, wird im letzten Kapitel des Diskussionspapiers als wertegebundener politisch motivierter "Nebenzweck" den eigentlichen Kernaufgaben Forschung und Lehre gegenübergestellt. Folgendes Schreckensszenario wird damit heraufberufen: "Je umfassender Maßnahmen zur Umsetzung gesellschaftlicher Werte in den Wissenschaftseinrichtungen verankert werden, desto mehr drohen sie die wissenschaftliche Arbeit zu bürokratisieren."
Moment mal: Chancengleichheit im Bildungssystem als Nebenzweck? Was ist aus dem gesellschaftlichen Konsens geworden, der aufbauend auf dem Grundgesetz und damit verbundenen weiteren Gesetzgebungen gesellschaftliche Teilhabe und den Abbau von Diskriminierungen auch und vor allem im Bildungssektor als Grundpfeiler für Demokratien anerkennt? Was ist mit der daraus gewachsenen institutionellen Verantwortung, die für alle Teile des Bildungssystems (ja, auch der Wissenschaft) einhergeht? Die hier herausgehobenen Kernaufgaben von Forschung und Lehre werden von Menschen für Menschen umgesetzt. Die Herstellung von Gerechtigkeit im Zugang sowohl zum Studium als auch zur wissenschaftlichen Karriere ist gesetzlicher Auftrag.
Das Diskussionspapier der Leopoldina nimmt die aktuellen Folgen dieser Verantwortung für den Wissenschaftsbetrieb kritisch in den Blick: Wieviel Bürokratisierung verträgt die Wissenschaft in der Umsetzung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe? Und das ist prinzipiell natürlich nicht falsch. Alarmierend sind die Schlussfolgerungen, die hier angepriesen werden: Die Umsetzung von Chancengerechtigkeit soll künftig zur freiwilligen Aufgabe von Hochschulleitungen werden; Beauftragte, die die Umsetzung des gesellschaftlichen Auftrags begleiten, sollen ebenso abgeschafft werden wie die entsprechenden Förderkriterien in Vergabeverfahren.
Den faktenbasierten Diskurs verlassen, wenn
er den eigenen Werten zuwiderläuft?
Frauenförderung ab sofort nur noch dann, wenn Rektor*innen das wichtig finden? Es ist verstörend, dass ein Gremium, das aus renommierten Wissenschaftler*innen besteht, sich einem solchen Thema so unwissenschaftlich nähert. Längst hat die Wissenschaft aufgezeigt, wie relevant Verbindlichkeit, gesetzliche Vorgaben und die Bereitstellung von Ressourcen sind, um in traditionell weißen und männlichen geprägten Institutionen (und Gesellschaften) tatsächliche Chancengleichheit dauerhaft herzustellen. Und es gibt genug faktenbasierte Evidenz, dass wir leider längst noch nicht am Ziel angekommen sind. Aber vielleicht sind auch Wissenschaftler*innen nicht gefeit davor, den faktenbasierten Diskurs dann zu verlassen, wenn er den eigenen Werten zuwiderläuft?
Immerhin: Das Papier geht nicht so weit, im Sinne der Trumpschen Ermächtigungen von Verboten zu sprechen. Das machen womöglich demnächst die ersten Landesregierungen vor. Mit dem Verbot der gendersensiblen Sprache haben einige ja bereits angefangen.
Gerne kann man sich über die bürokratischen Auswüchse unterhalten, die mit der Umsetzung von Chancengerechtigkeit im Wissenschaftsbetrieb verbunden sind. Nicht diskutabel ist die Verantwortung der Wissenschaft an sich: Die Herstellung von Chancengerechtigkeit ist ein Fundament funktionierender Demokratien und somit auch integrale Aufgabe ihrer Institutionen.
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