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Jeder Azubi zählt

Warum die berufliche Bildung im Zentrum einer zukunftsfesten Fachkräftestrategie stehen muss – und weshalb junge Menschen mit Migrationsgeschichte dabei unverzichtbar sind. Ein Gastbeitrag zum Ausbildungsstart 2025 von Anja Reinalter und Theresa Schopper.
Azubis

Symbolfoto: PTTI EDU/Unsplash

IN DIESEN TAGEN beginnen wieder viele junge Menschen ihre Ausbildung – ein wichtiger Schritt nicht nur für ihre persönliche Zukunft, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Das duale System gilt zu Recht als ein Aushängeschild des deutschen Bildungssystems. Doch der Ausbildungsmarkt steht in ganz Deutschland unter Druck: Trotz Rekorden bei der Übernahme von Auszubildenden bleiben zahlreiche Ausbildungsstellen unbesetzt. Viele Unternehmen finden keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber, während gleichzeitig zahlreiche ausbildungsinteressierte Jugendliche keinen Platz finden. Immer mehr Betriebe ziehen sich ganz aus der Ausbildung zurück. 

Diese Passungsprobleme gefährden unser Wirtschaftswachstum. Für einen Aufschwung brauchen wir mehr gut ausgebildete Fachkräfte – laut Institut der deutschen Wirtschaft derzeit rund eine halbe Million, Tendenz steigend. In den wirtschaftsstarken Regionen wie Baden-Württemberg spüren wir das besonders. Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografischer Wandel verschärfen diesen Trend. Die berufliche Bildung muss daher im Zentrum einer zukunftsfesten Fachkräftestrategie stehen. Das duale System sichert die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, treibt Innovation und Wachstum voran und eröffnet jungen Menschen hervorragende Karriereoptionen. Wer die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft gestalten will, braucht Menschen, die sie umsetzen können – in Werkstätten, auf Baustellen, in Pflegeeinrichtungen und in Laboren.

Früh ansetzen: Berufsorientierung als Schlüssel

Damit die Ausbildung attraktiv bleibt, braucht es gut ausgestattete berufliche Schulen, bedarfsgerechte Curricula, faire Ausbildungsvergütungen und eine echte Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung. Denn unser Land ist auf Meister und Master gleichermaßen angewiesen. Umso wichtiger ist es, dass wir wieder mehr junge Menschen für eine Ausbildung begeistern – und zwar nicht erst nach ihrem Schulabschluss. Berufsbildung beginnt schon lange vorher. Berufsorientierung und Berufswahlkompetenz sollten möglichst früh gefördert werden. Entscheidend ist eine qualitativ hochwertige, praxisnahe Berufsorientierung an allen Schularten. So können Heranwachsende später ihre Interessen und Talente frei entfalten und eine klischeefreie, selbstbestimmte Berufswahl treffen. 

Gerade auch der Übergang zwischen Schule und Beruf ist für viele junge Menschen eine besonders herausfordernde Phase. Noch immer gehen hier zu viele Talente verloren. Fast drei Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren haben bis heute keinen Berufsabschluss. Sie drohen langfristig in Helfertätigkeiten ohne Perspektiven zu verbleiben und stehen damit nicht als qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung. Einfache Lösungen gibt es leider nicht. Doch es gibt vielversprechende Ansätze, die einen aufmerksamen Blick lohnen.

So empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK in ihrem jüngsten Gutachten, in den Abschlusszeugnissen der Sekundarstufe I auch berufsbezogene und personale Kompetenzen auszuweisen. Wird zum Beispiel ein Nachholbedarf bei der Sozialkompetenz erkannt, kann gezielt gegengesteuert werden. Ein Schritt, der dazu beitragen kann, weniger Jugendliche am Ende der Schulzeit in unqualifizierte Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit abgleiten zu lassen. Schulen, Betriebe und Arbeitsagenturen müssen dabei noch enger zusammenarbeiten, um junge Menschen zwischen Schule und Beruf mit zielgruppenspezifischen Angeboten wirksam zu unterstützen. 

Auch während der Ausbildung braucht es begleitende Hilfen wie Sprachförderung und sozialpädagogische Betreuung, damit alle jungen Menschen ihre Ausbildung erfolgreich abschließen können. Programme wie die Assistierte Ausbildung Flex und die Einstiegsqualifizierung bieten wirksame individuelle Unterstützung. Sie müssen jedoch bekannter gemacht und möglichst bürokratiearm gestaltet werden. 

Besonders junge Menschen mit nichtdeutscher Muttersprache verdienen mehr Aufmerksamkeit. Mittlerweile stammen rund 15 Prozent der Auszubildenden aus dem Ausland, viele von ihnen sind fluchtbedingt zu uns gekommen, andere wurden im Rahmen der Ausbildungsmigration gezielt angeworben. Sie alle leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Fachkräftesicherung. Und sie bringen enorme Potenziale mit, die wir nicht durch fehlende Förderung oder starre Strukturen verspielen dürfen. Sprachliche Hürden oder mangelnde schulische Voraussetzungen dürfen kein Ausschlusskriterium sein. 

Neue Modelle für mehr Ausbildungserfolg

Das gilt genauso für junge Menschen mit Migrationsgeschichte, in deren Familien wenig oder gar kein Deutsch gesprochen wird. Für sie ist gezielte Sprachförderung entscheidend für einen gelungenen Übergang in den Beruf. Wer ihre Potenziale heben will, muss früh ansetzen und den Fokus auf den Erwerb grundlegender Kompetenzen und Sprachkenntnisse legen – in der Kita, in der Schule, beim Übergang in die Ausbildung und auch während der Ausbildungszeit.

In Baden-Württemberg wird dies zum Beispiel durch einen Schulversuch ermöglicht, in dem die Berufsschule an zwei anstatt an eineinhalb Tagen besucht wird. Hier können wir positive Auswirkungen durch verringerte Ausbildungsabbrüche und einen gesteigerten Anteil erfolgreicher Abschlüsse verzeichnen. Allerdings ergibt sich daraus die Herausforderung, dass die zusätzliche Zeit in der Berufsschule nicht mehr für die betriebliche Ausbildung zur Verfügung steht. Daher wird im Schuljahr 2025/2026 – wie in einigen Regionen Deutschlands bereits erfolgreich durchgeführt – auch in Baden-Württemberg erprobt, wie ein vorgeschaltetes Ausbildungsjahr mit paralleler allgemeiner und berufsbezogener Sprachförderung den Einstieg in die Ausbildung erleichtern kann. 

Die Verlängerung der Ausbildungsdauer bietet der Berufsschule und dem Ausbildungsbetrieb die Möglichkeit, individueller auf die Bedürfnisse der Jugendlichen einzugehen und sie, besonders in der Anfangszeit der Ausbildung, gezielter zu fördern. Das eröffnet Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf deutlich bessere Chancen auf einen Abschluss. Solche Ansätze gilt es weiterzuentwickeln, um allen jungen Menschen einen erfolgreichen Berufsabschluss zu ermöglichen. 

Jeder Jugendliche, der heute eine Ausbildung beginnt, legt damit den Grundstein für seinen beruflichen Werdegang und trägt mit seiner Leistung schon morgen zur Zukunftsfähigkeit, Innovationskraft und Resilienz unserer Volkswirtschaft bei. Berufliche Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition in die Zukunft unseres Landes. Jeder junge Mensch wird gebraucht. Genau das sollten wir die junge Generation in diesen Zeiten öfter spüren lassen.

Anja Reinalter ist bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Theresa Schopper ist Grünen-Politikerin und Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg.


Junge Zuwanderer schließen die Ausbildungslücke

2024 wurden in Deutschland rund 475 100 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, teilte das Statistische Bundesamt zum Start des neuen Ausbildungsjahres mit – ein Prozent weniger als 2023. Während die Zahl deutscher Auszubildender zurückging (minus vier Prozent), stieg die Zahl der Neuverträge von Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit um siebzehn Prozent. Ihr Anteil an allen neuen Ausbildungsverträgen hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt: von sieben Prozent im Jahr 2014 auf fünfzehn Prozent im Jahr 2024.

Besonders stark wuchs die Zahl der ukrainischen Auszubildenden: Mit 5 800 Neuverträgen hat sie sich binnen eines Jahres nahezu verdreifacht (2023: 1 900). Auch bei vietnamesischen Auszubildenden gab es mit 7 100 Verträgen ein deutliches Plus (plus 2 700 gegenüber 2023). Syrische Jugendliche blieben mit 6 800 Neuverträgen etwa auf Vorjahresniveau.

Insgesamt erhöhte sich die Zahl der ausländischen Auszubildenden mit Neuverträgen seit 2014 um 93 Prozent auf rund 70 000. Damit tragen Zugewanderte immer stärker dazu bei, die Lücken im Ausbildungssystem zu schließen.

Bei den jungen Frauen war 2024 die Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten am beliebtesten: 16 100 Neuverträge wurden hier abgeschlossen. Auf den weiteren Plätzen folgten die Kauffrau für Büromanagement (15 200) und die Zahnmedizinische Fachangestellte (12 800).

Bei den Männern stand wie in den Vorjahren der Kraftfahrzeugmechatroniker an erster Stelle mit 22 700 Neuverträgen. Dahinter folgten die Ausbildungen zum Fachinformatiker (15 300) und zum Elektroniker (14 000). (JMW)
 

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