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Vom Studentenberg zum Dauerhoch

Die Zahl der Hochschulabsolventen ist erstmals seit 2001 gesunken. Eine Trendwende? Sicher nicht. Sorgen machen sollten sich die Bildungspolitiker um ganz etwas Anderes.

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Artikelbild: Vom Studentenberg zum Dauerhoch

Foto: javipolinario / pixabay - cco.

ES IST EINE fast vergessene Erfahrung: Die Zahl der Hochschulabsolventen ist 2018 gesunken. Zwar nur leicht, um ein Prozent, aber zum ersten Mal seit 2001 – und noch dazu unter die symbolträchtige Marke von 500.000. So hat es vergangene Woche das Statistische Bundesamt mitgeteilt, und gleich raunen manche: Oho, Trendwende?

In Wirklichkeit ist die Erklärung relativ simpel. Erst stiegen die Absolventenzahlen jahrelang sprunghaft an, weil die Bolognareform mit Bachelor und Master plötzlich zwei Abschlüsse pro Student zum Normalfall machte.

Als nächstes kam hinzu, dass plötzlich viel mehr Schulabgänger sich für ein Studium einschrieben. Aus gestiegener "Studierneigung", wie Hochschulforscher das nennen, und weil die Schulzeit um ein Jahr verkürzt wurde und die Wehrpflicht wegfiel. All das trieb die Zahl der Studienanfänger massiv hoch und, mit ein paar Jahren Verzögerung, die der Absolventen.

Die Treiber für immer höhere Anfängerzahlen sind weg

Inzwischen sind die Bologna-Studiengänge längst der Normalfall, auch die Einmaleffekte von Schulzeitverkürzung und Wehrpflicht sind durch. Weswegen erst die Treiber für die Anfängerzahlen wegfielen und dann, wiederum mit ein paar Jahren Verzögerung, für die Zahl der Abschlüsse.

Das eigentlich Erstaunliche – das, was die meisten Experten und Politiker sich in den 2000er Jahren nie hätten träumen lassen – ist jedoch, dass aus dem vermeintlich vorübergehenden Studentenberg ein Dauerhoch wurde. Dass die Anfängerzahlen nur leicht abbröckelten, zuletzt sogar wieder anstiegen. Weshalb auch die Zahl der Absolventen nur homöopathisch sinkt. Erklärbar ist all dies nur damit, dass die Begeisterung für ein Studium weiter anhält, die "Studierneigung" also weiter auf Rekordniveau liegt.

Sogar dass jetzt ausgerechnet die so dringend benötigten MINT-Absolventen mit je nach Fächergruppe bis zu zwei Prozent den stärksten Rückgang zu verzeichnen hatten, ist kein Grund zur Panik – sie hatten in den Jahren zuvor auch mit die stärksten Zuwächse vermeldet.

Beim genaueren Hinschauen liefert die aktuelle Statistik also hervorragende Nachrichten – und das wird auch so bleiben, selbst wenn die Absolventen als weiteres Echo der Anfängerzahlen absehbar noch ein paar weniger werden dürften. Eine Trendwende ist das nicht, mehr ein statistisch-demografischer Automatismus.

Die Begehrlichkeiten, Studieninteressierte in eine Ausbildung umzulenken, bleiben

Am erfreulichsten an alldem ist, dass das jahrelange Gerede von einer angeblichen "Überakademisierung" die jungen Menschen nicht ins Bockshorn getrieben hat. Tatsächlich sprechen die geringe Arbeitslosigkeit und die im Schnitt hohen Gehälter weiter fürs Studium.

Doch die Begehrlichkeiten, die politischen Versuche, mehr Studieninteressierte umzulenken, bleiben. Das hat zu tun mit einer zweiten Statistik, die vergangene Woche veröffentlicht wurde: die "Ausbildungsmarktbilanz 2018/19". 572.000 Lehrstellen meldete die Bundesagentur für Arbeit – aber nur 511.000 Bewerber und Ende September noch gut 53.000 unbesetzte Stellen. Die Entwicklung zum Bewerbermarkt setze sich fort, sagte Agenturchef Detlef Scheele.

Klar, in welche Richtung viele Betriebe in den nächsten Jahren schielen werden – und dass sie bei den Angeboten, mit denen sie potenzielle Studienanfänger für sich gewinnen wollen, noch eine Schippe drauflegen werden.

Die eigentlich spannende Frage für die kommenden Jahre ist, wie beides gelingen kann: die Zahl der Hochschulabsolventen hochzuhalten und zugleich die berufliche Bildung zu stabilisieren. Dass die Zahl der Schüler – ebenfalls entgegen langjähriger Prognosen – nicht so stark schrumpft, je nach Bundesland sogar wieder kräftig steigt, wird helfen. Noch mehr würde helfen, wenn die Hochschulen endlich in der Lage wären, die teilweise sehr hohen Abbrecherquoten in den Griff zu bekommen.

Weniger bei den Abiturienten baggern, mehr an die übrigen Bewerber denken

Die sind übrigens bei den Ausbildungsbetrieben vielfach kaum niedriger, und die Unternehmen können noch etwas zweites tun: etwas weniger bei den Abiturienten baggern und dafür noch etwas mehr an die übrigen Bewerber denken. Denn trotz der 53.000 offenen Stellen gingen gut laut Arbeitsagentur rund 24.500 Bewerber vorerst leer aus. Die FDP fordert angesichts dieser Passungsprobleme seit längerem eine "Exzellenzinititiative Berufliche Bildung".

Noch besser wäre es, ein politisches Gesamtkonzept zu entwickeln, das Hochschul- und berufliche Bildung endlich richtig zusammendenkt. Von wem so etwas kommen könnte? Am ehesten von einem Nationalen Bildungsrat. Dessen Gründung aber neuerdings wieder extrem auf der Kippe steht.

Vielleicht wäre dieses aktuelle Drama des Bildungsföderalismus und seine Konsequenzen ja etwas, worüber sich mal ein paar mehr Leute Sorgen machen sollten. Die sinkende Zahl der Hochschulabschlüsse ist es jedenfalls nicht.

Dieser Kommentar erschien in gekürzter Fassung zuerst im ZEITWissen3 Brief.

Kommentare

#1 -

Joachim Ruth | Do., 07.11.2019 - 11:50
Einverstanden mit den Schlussfolgerungen. Bei der Lage auf dem Ausbildungsmarkt beschreiben Sie aber nur die veröffentlichte Spitze des Eisbergs: zu den 24.000 Unversorgten müssen mindestens noch die mangels passender Ausbildungsstelle 49.000 alternativ Verbliebenen gezählt werden. Damit verändert sich auch das Verhältnis von offenen Stellen und noch Suchenden (53.000) zum Stichtag.

#2 -

Thomas Hoffmeister | Do., 07.11.2019 - 18:25
Lieber Jan-Martin, wieder viele gute Gedanken in diesem Beitrag. Trotzdem zwei Punkte.
1. Eine universitäre Bildung führt schon heute zu besseren beruflichen Aussichten inkl. besserer Beschäftigtenquote als die Berufsausbildung. Wie wird das mit volatiler werdenden Berufsbildern? Vermutlich noch deutlicher. Das Werben für die Berufsausbildung und gegen die akademische Bildung hat nicht die Auszubildenden im Fokus, sondern ganz andere ökonomische Interessen.
2. Warum wird die Abbrecherquote unter Studierenden so dramatisiert? Zum einen zeigen Analysen der Erwerbsbiographien, dass auch Studienabbrecher prima Karrieren hinlegen. Was ist bei den immer länger werdenden Erwerbsbiographien gegen Orientierung und Umorientierung einzuwenden? Verstehen wir Menschen, die sich im Beruf umorientieren als Berufsabbrecher? Meine Meinung dazu: wir sind Abschluss-fixiert statt Bildungs-fixiert zu sein. Dieser Fokussierung gebe ich nur noch begrenzte Zukunft. Kompetenzen - und davon reden wir doch dauernd - werden auch in unvollständigen Studiengängen erworben. Vielleicht braucht die Zukunft Personen, die sich Kompetenzen aus verschiedenen Fachkulturen strategisch zusammenstellen.

#3 -

tmg | Fr., 08.11.2019 - 09:14
@Thomas Hoffmeister:
Sie schreiben
''Vielleicht braucht die Zukunft Personen, die sich Kompetenzen aus verschiedenen Fachkulturen strategisch zusammenstellen''
Tolle Idee. Und vielleicht ist es am besten, wenn die Personen, sich den Erwerb all dieser sog. Kompetenzen dann auch gleich noch selbst bescheinigen. Und am allerbesten führen wir dann auch noch die brandneue Kompetenz, sich selbst strategisch Kompetenzen zusammenzustellen, ein.
Bemerkung am Rande: 'die Zukunft' braucht gar nichts. Sie kommt auch so.

#4 -

Karlchen Mühsam | Fr., 08.11.2019 - 15:00
Muss man sich um den leichten Rückgang bei den Absolventen insb. im MINT-Bereich nicht vielleicht doch Sorgen machen? Der Rückgang fällt in eine Zeit gleichbleibend hoher Studierendenzahlen. Überdies unternehmen alle Hochschulen nach eigenem Bekunden enorme Anstrengungen, den Studienerfolg zu verbessern. Vielleicht zeigen die Zahlen, dass die bisherigen Maßnahmen unzureichend sind. M.E. braucht es hier mehr politischer Steuerung. Ich erlebe es leider täglich, dass kapazitär und rechtlich mögliche Curricularreformen an den autonomen Hochschulen vorrangig von den Hochschullehrern blockiert werden.

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