Der gesellschaftliche Aufstieg scheitert nicht am Kopftuch
Statt sinnfreien Debatten über Verbote zu führen, sollte die Politik lieber schärfer gegen die Diskriminierung in der Arbeitswelt vorgehen.
WERDEN MUSLIMISCHE MÄDCHEN freier, sobald es ein gesetzliches Kopftuchverbot für Minderjährige gibt? Mit Macht ist die Debatte aus Österreich zu uns hinübergeschwappt. In der WELT erschien neulich der, wie ich finde, äußerst passende Essay eines Berliner Lehrers. Rainer Werner hat an einer Gesamtschule gearbeitet. Dort sei ihm ausgefallen, schreibt er, wie benachteiligt vor allem die muslimischen Mädchen waren, wie sie sich, "die Haare oft unter dem Kopftuch verborgen", in sich zurückzogen. Klare Sache also? Nicht ganz. Denn später unterrichtete Werner an einem Gymnasium und beobachtete, dass ausgerechnet die muslimischen Mädchen besonders engagiert seien. "Auch wenn sie durch das Kopftuch ihre religiöse oder kulturelle Prägung signalisierten, taten sie alles, um durch gute Leistungen zu glänzen."
Offenbar entscheidet nicht das Kopftuch, sondern die soziale Herkunft der Mädchen. Um nochmal Rainer Werner zu zitieren: "In Deutschland ist ein türkischer Mittelstand entstanden, der leistungs- und aufstiegsorientiert eingestellt ist und auch die Kinder in dieser Haltung erzieht." >>
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>> Dass Mädchen die Bildungsgewinner schlechthin sind – wenn man sie denn lässt! – ist ein hinlänglich erforschtes Phänomen. In den 60er Jahren prägte Ralf Dahrendorf den Begriff der "katholischen Arbeitertochter vom Land", deren Bildungsbenachteiligung gleich eine mehrfache war. Dass dieses Stereotyp kaum noch einer kennt, zeigt, wie erfolgreich die Politik darin war, neue Chancen zu schaffen, und wie großartig die Mädchen, wenn auch vorrangig die aus der Mittelschicht, sie genutzt haben. Die muslimischen Töchter aus der Stadt folgen ihren Vorgängerinnen von einst, und obgleich das (noch) wenig an der Situation muslimischer Mädchen aus weniger liberalen Familien ändert, werden sie so doch zu den dringend nötigen Rollenvorbildern.
Es ist eine Geschichte von Emanzipation und hochfliegenden Plänen, aber sie endet allzu oft, sobald die Schule aus ist. Und das hat nichts mit mangelndem Willen oder vermeintlicher Engstirnigkeit von Muslimen zu tun: 2016 hat eine Studie einer Wissenschaftlerin der Universität Linz ergeben, dass deutsche Unternehmen Bewerberinnen mit türkischen Namen bei der Vergabe von Bewerbungsgesprächen systematisch benachteiligen. Bei sonst identischer (fiktiver) Bewerbung und Foto erhielt "Sandra Bauer" in 18,8 Prozent der Fälle eine Einladung, "Meryem Öztürk" kam nur auf 13,5 Prozent. Trug Meryem Öztürk ein Kopftuch auf dem Bild, wollten nur noch 4,2 Prozent der potenziellen Arbeitgeber sie treffen. Was, möchte man fragen, nützt der schönste Bildungsaufstieg, wenn die muslimischen Mädchen dann an den Vorurteilen unserer Gesellschaft scheitern?
Anstatt sinnfreie Debatten um ein Kopftuchverbot fortzusetzen, sollte die Politik sich an anderer Stelle verdient machen. Zum Beispiel, indem sie den Unternehmen verbietet, in Bewerbungsschreiben Namen, Alter, Religion und Foto einzufordern. So jedenfalls würde es eine Gesellschaft tun, die wirklich über Leistung reden will und nicht über Herkunft.
Dieser Beitrag erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
Kommentare
#1 - "Was, möchte man fragen, nützt der schönste…
Kein größeres Unternehmen wird sich auf Dauer leisten können einen großen Teil der qualifizierten Bewerber einseitig zu ignorieren. Je besser diese Bewerber sind, desto teurer wird die Diskriminierung die Unternehmen zu stehen kommen.
"Zum Beispiel, indem sie den Unternehmen verbietet, in Bewerbungsschreiben Namen, Alter, Religion und Foto einzufordern."
Das wäre wünschenswert und ist in einigen Branchen ja sowieso schon üblich. Dass die Innen - äh Heimatpolitiker sich darauf verständigen scheint leider unwahrscheinlich.
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