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Die Mehrheit der Normalos ist liberal

Die Rechtsextremen und Populisten wollen eine Diktatur der Mehrheit. Doch die will das gar nicht. Ein Essay am Vorabend der US-Präsidentschaftswahlen.

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Artikelbild: Die Mehrheit der Normalos ist liberal

Symbolbild, KI-generiert.

IRGENDWO LAS ICH neulich den Satz, dass man heute fast schon Extremist ist, sobald man sich öffentlich ein Deutschland wünscht, das seine Vielfalt zelebriert. Ein Deutschland, das nicht als erstes zwischen erwünschten und unerwünschten Einwanderern unterscheidet, das den Klimaschutz als ökonomische Riesenchance begreift und das die geschlechtliche Selbstbestimmung als Menschenrecht und nicht als woke Bedrohung sieht.

Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass viele Menschen in Deutschland genau so oder ähnlich denken und fühlen. Dass die liberale Demokratie allerdings von dem Geschrei all derjenigen, die sich zu den wahren Demokraten hochstilisieren, immer stärker übertönt wird. So stark, dass vielen Politikern und Medien bei der Interpretation von Wahlergebnissen und Umfragen ein kapitaler Fehler unterläuft.

Bei der jüngsten Sonntagsfrage der Forschungsgruppe Wahlen fürs ZDF-Politbarometer etwa erreichte die AfD 18 Prozent, das BSW acht Prozent. Ist das nun die Nachricht – oder womöglich doch viel eher, dass trotz der dramatischen Polarisierung von Rechts immer noch deutlich mehr Menschen, 30 Prozent, für die Ampelparteien stimmen würden? Trotz des erbärmlichen Zustands, den sie als Koalition erreicht haben?

Und dass, nimmt man Union und Linke dazu, knapp zwei Drittel aller Befragten Parteien bevorzugen, die von AfD und BSW bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Repräsentanten des abgehalfterten Systems gebrandmarkt werden? Nein, das sind längst nicht alles Menschen, die bei Einwanderung, Klimaschutz oder geschlechtlicher Selbstbestimmung "Hurra" schreien, auch wenn neulich etwa eine Umfrage zum Thema Energiewende eindeutige Ergebnisse brachte. Aber all das sind Menschen, die zu schlau sind und sich ganz bewusst nicht von AfD und BSW in dieses angebliche "Wir" gegen die "Altparteien" hineinziehen lassen.

Hier liegt der kapitale Fehler vieler Politiker und Medien

Und genau hier liegt der kapitale Fehler vieler Politiker und Medien, der sich abhängig vom Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl noch verschärfen dürfte: Sie verwechseln das Geschrei mit einer Scheinmehrheit abseits des traditionellen demokratischen Mainstreams und verschieben aus Angst davor, tatsächlich aber ohne Not, den öffentlichen Diskurs immer weiter nach rechts. Nein, nicht die Politiker von AfD oder BSW sind dafür verantwortlich, sondern die Angehörigen der übrigen Parteien.

Sie gehen dabei dem Narrativ auf dem Leim, das Neurechte verbreiten und das überhaupt erst dieses Gerede, AfD und BSW seien die wahren Verteidiger der Demokratie, ermöglicht. Das Narrativ geht ungefähr so: Die meisten Menschen sind doch "ganz normal", sie sind weder Asylanten noch Einwanderer noch schwul oder trans oder "linksgrünversifft", und diesen – noch dazu hart arbeitenden – Menschen wird vom System eine Ideologie übergestülpt, die sie als Fremde im eigenen Land fühlen lässt. Weil die Allparteien all die Unnormalen lieber mögen und den Normalen gegenüber bevorzugen. Und so werden dann Regenbogenfahnen, Gendern im Fernsehen oder Berichte über schweinefleischloses Kitaessen zur ernsthaften kulturellen Bedrohung.

Hinter all dem steht in letzter Konsequenz die neurechte Verschwörungstheorie des Großen Austausches, dessen Ziel angeblich darin besteht, die traditionelle (und weiße, christliche) Bevölkerung der westlichen Welt durch muslimische und nichtweiße Einwanderer zu ersetzen.

Ich habe an dieser Stelle keine Lust, weiter auf den "Großen Austausch" und seine kruden Hintergründe einzugehen, aber das machtvolle Wirken dieser Verschwörungstheorie im Hintergrund darf nicht ignoriert werden, wenn nun Rechte sich als die wahren Demokraten feiern, weil sie behaupten, die Rechte der "ganz normalen" Bevölkerung zu vertreten, die – noch – in der Mehrheit sei.

Wo ist das machtvolle Narrativ der liberalen Demokratie?

Die liberale Demokratie hat zurzeit kein vergleichbar machtvolles Narrativ zum Dagegenstellen. Stattdessen schneidet sie sich in verzweifelten Versuchen der Selbsterhaltung immer größere Stücke der neurechten Ideologie ab und inetgriert sie in ihre eigenen Debatten, um auf diese Weise irgendwie ihren Kern zu bewahren und zu schützen.

Am Ende dieser Entwicklung steht jedoch keine Demokratie mehr, sondern eine Diktatur der Mehrheit. Und dann geschähe genau das, was die Rechte den Liberalen zu Unrecht vorwerfen: In einem solchen Gesellschaftssystem bestimmen dann nämlich tatsächlich jene, die sich als "normal" definieren, was unnormal ist, und drängen alle, deren Herkunft oder Lebensweise sie dafür halten, an den Rand. Das Höchste, was es für das "Unnormale" dann noch gibt, ist Toleranz, ein Aushalten bestenfalls, aber keine Akzeptanz. Teil dieses Toleranzverständnisses ist dann zum Beispiel, dass man schwul sein darf, solange man es im stillen Kämmerlein ist. Und Einwanderer dürfen bestenfalls dann hierbleiben, wenn sie nicht negativ auffallen. Was das heißt, bestimmt wiederum die Mehrheitsgesellschaft.

Nochmal: Ich bin der festen Überzeugung, dass die tatsächliche Mehrheit der Gesellschaft, links, liberal oder konservativ, hetero, schwul, biodeutsch oder mit Migrationshintergrund, diese Diktatur der Mehrheit nicht will. Weil sie sehr wohl spürt, dass konstitutiv für eine echte Demokratie vor allem und zuerst der Schutz der Minderheiten ist. Denn man glaube es nicht: Jeder ist in einer Demokratie mal Mehrheit, mal Minderheit. Je nach Frage und Lebenssituation.

Überspitzt formuliert ist es das vielleicht größte Paradoxon der gegenwärtigen politischen Lage: AfD- und BSW-Wähler sind eine Minderheit und erhalten einen diskursiven Minderheitenschutz, der sie fast schon als Mehrheit erscheinen lässt.

Drei zentrale Botschaften für den Umschwung

Was aber könnte nun, unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen, das machtvolle Narrativ der liberalen Demokratie sein, das den Umschwung schafft, bevor es zu spät ist? Für mich würde es zurzeit drei zentrale Botschaften enthalten.

Erstens: Wir liberalen Demokraten sind tatsächlich die Mehrheit. Wir müssen es uns selbst und den anderen immer wieder selbstbewusst sagen und, Stichwort Demonstrationen, zeigen. Nicht stoppen lassen dürfen wir uns an der Stelle durch einen falsch verstandenen Minderheitenschutz. Sollen doch die AfD- und BSW-Wähler sich nicht akzeptiert, nicht angenommen und unter Druck gesetzt fühlen. Sie sind und werden nicht diejenigen sein, die bestimmen, was "normal" ist und was nicht.

Zweitens: Liberale Demokratien sind wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreicher: die USA, Kanada, die skandinavischen Länder, die Niederlande. Und nein, dass viele dieser Länder ebenfalls nach rechts gekippt sind oder zu kippen drohen, ist kein Widerspruch. Denn ihren Aufstieg verdanken sie den Zeiten, in denen sie offen waren – nach innen und außen.

Drittens und am wichtigsten: Nur Gesellschaften, die nicht der Angst nachgeben, haben Mut und Lust auf Zukunft. Wir können uns als Gesellschaft bei allen Problemen und Krisen vom Klimawandel über die digitale Transformation bis zum weltweiten Migrationsdruck für das Bejahen der Herausforderungen und das Gestalten von Lösungen entscheiden. Und das fordert zu allererst eine politische Führung, die Erzählungen von Zukunft und nicht der Bedrohung entwickelt – und diese strategisch und finanziell kraftvoll unterlegt. Vor allem mit Investitionen, die helfen, den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik durch neue Innovationen zu beschleunigen. In Zeiten knapper Kassen geht das nur durch das Priorisieren. Dazu hat sich gerade das Bundesverfassungsgericht in einem BAföG-Beschluss in, wie ich finde, richtungsweisender Art geäußert. Denn mal ehrlich: Wofür, wenn nicht dafür, werden Regierungen gewählt?


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Kommentare

#1 -

Franka Listersen | Mo., 04.11.2024 - 09:50
Komisch, mir fällt bei "all derjenigen, die sich zu den wahren Demokraten hochstilisieren", nicht die politische Rechte, sondern die Linke ein. Aber so sind nun mal die unterschiedlichen Wahrnehmungen. Dass aber zu einem "vielfältigen" politischen Pluralismus sowohl Links als auch Rechts gehören, hätte man schon erwähnen sollen.

#2 -

Jan-Martin Wiard | Mo., 04.11.2024 - 09:59
Vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich habe die demokratischen Meinungen rechts von der Mitte tatsächlich genauso mitgemeint wie die demokratischen Meinungen links von der Mitte. Daher unter anderem dieser Satz: "Nein, das sind längst nicht alles Menschen, die bei Einwanderung, Klimaschutz oder geschlechtlicher Selbstbestimmung "Hurra" schreien, auch wenn neulich etwa eine Umfrage zum Thema Energiewende eindeutige Ergebnisse brachte. Aber all das sind Menschen, die zu schlau sind, sich von AfD und BSW in dieses angebliche "Wir" gegen die "Altparteien" hineinziehen zu lassen."

Und auch diesen: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die tatsächliche Mehrheit der Gesellschaft, links, liberal oder konservativ, hetero, schwul, biodeutsch oder mit Migrationshintergrund, diese Diktatur der Mehrheit nicht will." Ich hätte hier auch "konservativ" durch "rechts" ersetzen können, das stimmt, aber der Begriff "rechts" ist meines Erachtens sehr von den Populisten besetzt und erobert worden, darum gebrauche ich ihn für Demokraten inzwischen vorsichtig. Vielleicht zu vorsichtig?

Beste Grüße
Ihr Jan-Martin Wiarda

#3 -

Joachim Datko | Mo., 04.11.2024 - 15:39
Die verantwortungsbewusste, konservative Partei AfD schwimmt auf einer Erfolgswelle!
Zitat: "Bei der jüngsten Sonntagsfrage der Forschungsgruppe Wahlen fürs ZDF-Politbarometer etwa erreichte die AfD 18 Prozent, das BSW acht Prozent."

Den Umfragen traue ich nicht, da wird scheinbar vom Verfassungsschutz und anderen manipuliert:

Haldenwang am 20. Juni 23 im ZDF-„Heute-Journal“ „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken."

Die Wahlergebnisse zeigen eine sehr starke AfD. Bei der Landtagswahl in Hessen und bei der Europawahl war sie zweitstärkste Partei. Bei den Landtagswahlen im Osten hat sie insgesamt 102 Sitze gewonnen, der nächste Konkurrent nur 76. Sie hat die anderen Parteien deklassiert.
Joachim Datko - Ingenieur, Physiker
PS: Ich bin gegen die finanziellen Anreize zur Einwanderung in das deutsche Sozialsystem

#4 -

Roman Spitzfindig | Mo., 04.11.2024 - 15:50
Sehr geehrter Herr Wiarda, Ihr Kommentar ist (für mich?)
nicht so einfach lesbar. Bei allen Problemen, die man derzeit
von Frau Zarenknecht-Lafonteine erlebt in der praktischen Politik in Thüringen etc., so wundere ich mich doch, daß
Sie (wiederholt) die AgD und BSW in einen Topf werfen.

#5 -

Lilly Berlin | Di., 05.11.2024 - 00:13
Ich denke nicht, dass die Mehrheit liberal ist, sondern die Mehrheit ist eher gleichgültig und passt sich einfach der jeweiligen Blase an. Da habe ich nicht viel Hoffnung. Kurzes Gedankenexperiment: in einem von Höcke/Wagenknecht werde ich von der Gestapo/Stasi abgeholt. Wer von meinen Nachbarn hält dagegen. Wen würde das überhaupt interessieren?

#7 -

Elisabeth | Mi., 06.11.2024 - 18:03
Ein Mann der Kirche hat einmal gewitzelt, die Ökumene sei eine wunderbare Sache, solange sie so laufe wie "wir Katholiken es uns vorstellen." Wo dieses Überheblichkeit die Kirche hingeführt hat, ist bekannt. Dem Linksliberalismus könnte es ähnlich ergehen. Er verliert seine Deutungshoheit, da seine Postulate immer öfter dort zerschellen, wo die Erfahrungswelt vieler Menschen beginnt. Wie eine Raumfahrzeug im falschen Eintrittwinkel.
Umfragen im US Wahlkampf haben gezeigt, dass für die Wähler:innen vor allem die Themen Inflation und Migration wichtig waren. Darauf haben sie von Trump Antworten erhalten, mit denen sie etwas anfangen konnten. Von Harris leider all jene nicht, die nicht in einer "left bubble" komfortabel leben.

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