Wenn das Gymnasium zur Gesamtschule wird
Was bedeutet es für Deutschlands gegliedertes Schulsystem, wenn mehr als die Hälfte der Schüler eine Gymnasialempfehlung erhalten? Ein Essay.

Foto: Jan-Martin Wiarda
AUF DEN ERSTEN BLICK ist es eine erstaunliche Zahl. 51 Prozent der baden-württembergischen Grundschüler erhalten von ihren Lehrern eine Empfehlung fürs Gymnasium. So teilte es das Stuttgarter Kultusministerium auf der Grundlage einer stichprobenartigen Umfrage mit, die dem Spiegel eine Meldung wert war.
Sind wirklich die Hälfte der Kinder geeignet für die Schulform, die eigentlich, wie der Spiegel schreibt, der "Leistungsspitze" vorbehalten sein sollte? Tatsächlich überrascht die Zahl jedoch keineswegs, und die Frage ist falsch gestellt. Denn die Tradition des in Deutschland üblichen gegliederten Schulsystems hat immer weniger mit seiner gelebten Praxis zu tun.
Eigentlich, das ist die Tradition, steht das Gymnasium für ein bildungsbürgerliches Ideal, für ganzheitliche Bildung zur Vorbereitung eines akademischen Lebenswegs, für ein Verständnis von Begabungen, die sich nicht nur in ihrer Art unterscheiden, sondern auch nur in unterschiedlichen Schulformen angesprochen werden können. Und obgleich von Befürwortern dieser Gliederung gern betont wird, mit ihr sei keine Hierarchisierung gemeint, so bedeutet das gegliederte Schulsystem natürlich genau das: die Hierarchisierung der Schulformen mit dem Gymnasium in höchster Position.
Demgegenüber stehen die Verfechter des in den meisten Staaten weltweit üblichen Gesamtschulsystems, das sich in Deutschland aber nie hat durchsetzen können. Sie argumentieren, dass die im gegliederten System übliche Aufteilung der Schüler nach der Grundschule spätere kognitive Entwicklungen unterschätze und die Bildungschancen zugunsten von Kindern aus ohnehin schon privilegierten Kindern verteile.
Die Ergebnisse von Bildungsforschung und Bildungsmonitoring fallen ambivalent aus: Einerseits bescheinigen internationale Vergleichsstudien wie PISA, dass Deutschlands Schüler im Schnitt weit von der internationalen Leistungsspitze entfernt sind und die Abhängigkeit der Schülerleistungen von der sozialen Herkunft hierzulande besonders groß ausfällt. Das Gleiche gilt für die Bildungskarrieren: Laut Nationalem Bildungsbericht wechseln bei gleichen Noten in der Grundschule 58 Prozent der bessergestellten Kinder aufs Gymnasium, aber nur 44 Prozent der Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status. Anderseits produzieren im innerdeutschen Vergleich Länder mit besonders streng getrennten Schulformen (Bayern) oder Bildungsgängen (Sachsen) die besten Schülerleistungen.
Die Unangreifbarkeit der Institution Gymnasium
Doch sind solche bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse ohnehin weniger ausschlaggebend als die tiefe kulturell-gesellschaftliche Verankerung des Gymnasiums, die es als Institution unangreifbar macht. Eine Reform, das irgendwie zu seinen Lasten geht, es einschränkt? Auf keinen Fall, denn dafür müsste die Politik sich mit der bildungsbürgerlichen Lobby anlegen. Man denke an den 2010 krachend gescheiterten Versuch in Hamburg, die Grundschule auf sechs Jahre zu verlängern. So dass sich das politische Spektrum um des lieben Schulfriedens willen je nach Bundesland allenfalls auf eine Gliederung "light" verständigt hat – mit Gymnasien auf der einen und einer zweiten Oberschul-Form auf der anderen Seite.
Soweit die Macht der Tradition. In der gelebten Praxis haben dynamische Gesellschaften es jedoch an sich, dass sie sich – entsprechend vorhandener Hierarchisierungen – nach oben orientieren. Und dass diejenigen, die oben sind, dort gern bleiben wollen. Gleichzeitig, und das ist die andere Seite der Medaille, sind Institutionen grundsätzlich um die Expansion ihrer selbst bestrebt.
Im Falle des bildungspolitisch unangreifbaren Gymnasiums ergab sich daraus in den vergangenen Jahrzehnten ein steter Drift: Mehr Leute wollten drauf, und die Gymnasien wollten wachsen, also mehr Schüler aufnehmen. Dadurch änderte sich natürlich zugleich das Bild der Gymnasien. Sie wurden von Elite- zu Masseninstitutionen. Man könnte auch sagen: In einem System ohne "Schule für alle" werden die Gymnasien allmählich zur "Schule für die meisten", und die übrigen Schulformen entwickeln sich zu Schulen für den umso stärker benachteiligten Rest.
45 Prozent aller Grundschüler kommen heute ans Gymnasium, rechnet wiederum der Nationale Bildungsbericht vor. Auf dem Land sind es oft weniger, in vielen Städten umso mehr. In Universitätsstädten wie Tübingen hat der Anteil der Gymnasiasten längst die 70 Prozent überschritten. Der bundesweite Trend ist eindeutig: Allein seit dem Jahr 2000 ist die Übergangsquote um acht Prozentpunkte gestiegen. Acht Prozent: So viele Schüler machten in den 60er Jahren insgesamt Abitur.
Die Grundschullehrer spiegeln die veränderte Wahrnehmung des Gymnasiums wider
Das hat auch Folgen dafür, wie Grundschullehrer aufs Gymnasium blicken. Wenn 51 Prozent der baden-württembergischen Grundschüler eine Empfehlung für den Gymnasialbesuch erhalten, dann nicht, weil ihre Lehrer wirklich der Meinung sind, sie alle seien besonders leistungsstark. Darum meine These am Anfang, die entsprechende Frage sei falsch gestellt. Sondern die Empfehlung der Lehrer spiegelt lediglich die Wahrnehmung wider, dass es heute reicht, eine im Mittelfeld liegende intellektuelle Begabung zu haben, um das Gymnasium zu besuchen.
Vor diesem Hintergrund überraschen auch die 51 Prozent nicht mehr. Die Lehrer geben der Hälfte ihrer Schüler die Empfehlung für das sogenannte "erweiterte Niveau", so die offizielle Bezeichnung, weil sie wissen, dass das erweiterte Niveau in Wirklichkeit heute die Norm ist. Für das offizielle "mittlere Niveau", also Real- oder Gemeinschaftsschule, empfehlen sie deshalb nur ein Viertel ihrer Schüler und ein weiteres Viertel für das grundlegende, das Hauptschul-Niveau.
Kurios in dem Zusammenhang ist, dass diejenigen in der baden-württembergischen Politik sich irren, die denken, die Abkehr vom seit 2012 geltenden Elternwillen als entscheidendes Kriterium für den Gymnasialbesuch werde wieder zu einem stärkeren zahlenmäßigen Ausgleich zwischen den Schulformen führen. Das wird es nicht, weil erstens laut Bildungsforschern bildungsferne Eltern im Zweifel sogar eher die gymnasiale Eignung ihrer Kinder unterschätzen als die Lehrkräfte. Und weil zweitens, siehe oben, die Lehrkräfte inzwischen besagtes anderes Verständnis der Funktion von Gymnasien haben.
Genau weil Baden-Württemberg die Grundschulempfehlung für die jetzigen Viertklässler wieder stärker von den Schulen anstatt von den Eltern abhängig machen will, gab es jetzt überhaupt diese Umfrage zur gegenwärtigen Empfehlungspraxis der Lehrkräfte.
Ist es aber nun der Einstieg in die totale Gleichmacherei, wenn die Schulform Gymnasien zur inoffiziellen neuen Regelschulform wird? Keineswegs, denn sonst würde ja in den Ländern, wo es offiziell nur eine weiterführende Schulform, die Gesamtschule gibt, in allen Schulen das gleiche Leistungsniveau herrschen. Tatsächlich unterscheiden sich dort aber unabhängig von ihrer Bezeichnung die Schulen ebenfalls erheblich. Oftmals, und das ist sehr kritisch zu bewerten, abhängig von der finanziellen Ausstattung des regionalen Schulträgers (in den USA etwa die School Boards).
Wenn der Name der Schulform nicht mehr entscheidend ist
Ähnliches sehen wir schon heute auch in Deutschland und werden es noch stärker in Zukunft sehen: Die Gymnasien differenzieren sich untereinander, so dass künftig immer weniger darauf ankommt, ob man ein Gymnasium besucht oder nicht, sondern welches Gymnasium man besucht. Und in welcher Stadt, in welchem Landkreis, welchem Bundesland: finanzstark oder kurz vor der Haushaltssperre. Nach genau demselben Muster schreitet die Differenzierung innerhalb der anderen Oberschulformen voran. Gleichzeitig gewinnen für alle, die sich sozial weiter von der "Masse" abheben wollen, die Privatschulen an Attraktivität, auch wenn diese, wie Studien zeigen, keinen systematischen Leistungsvorteil bringen.
Wenn, wie ebenfalls gerade bekannt wurde, im baden-württembergischen Leistungstest "Kompass 4" für Viertklässler, der in diesem Schuljahr erstmals lief, in Mathe nur sechs Prozent das Gymnasialniveau erreichten (in Deutsch immerhin 27 Prozent), waren die Fragen sicherlich zu schwer. Doch zeigen die Ergebnisse auch, dass die Leistungsdifferenzierung unter den Kindern, nur weil die Hälfte eine Gymnasialempfehlung hat, nicht weg ist.
Anstatt also die 51 Prozent zum Problem zu erklären, sollte man sich deshalb eher fragen, wie wir das Leistungsniveau unseres Schulsystems insgesamt so anheben, dass mehr Schüler in den Kompetenztests in die höchsten Stufen aufsteigen, egal, an welcher Schulform sie unterrichtet werden. Genau deshalb ist eine Schulfinanzierung nach der tatsächlichen Bedürftigkeit so wichtig: Das meiste Geld muss dort hingehen, wo die soziale Benachteiligung der Schüler am größten ist.
Gleichzeitig müssten sich allerdings auch die Gymnasien viel mehr als bisher auf die Förderung unterschiedlicher Begabungsprofile ausrichten, angehende Gymnasiallehrer in Studium und Referendariat viel stärker auf die Heterogenität vorbereitet werden, die in ihren Klassenräumen vielerorts längst angekommen ist. An der Stelle könnte unser Schulsystem viel von erfolgreichen Gesamtschulsystemen lernen.
Ein nur zwischenzeitlich gestoppter Trend zu Restschulen?
Eine Fehlentwicklung gilt es dabei unbedingt zu vermeiden: Wenn am Ende 60 oder 70 Prozent auf die Gymnasien gehen, drohen die übrigen Oberschulen wieder genau zu jene Restschulen zu werden, die der Umbau von drei auf zwei Schulformen und die großflächige Abschaffung der Hauptschulen stoppen oder gar umkehren sollte.
In Ansätzen hatten sie das sogar geschafft, denn in den vergangenen Jahren hat sich der Trend Richtung Gymnasium merklich verlangsamt. Sieben von acht Prozentpunkten beim Anstieg der oben erwähnten bundesweiten Wechselquote von der Grundschule aufs Gymnasium auf 45 Prozent geschahen zwischen 2000 und 2018 – und nur ein Prozentpunkt seitdem. Die nicht-gymnasialen Schulformen wurden wieder attraktiver, mehr Schüler mit Empfehlung für das erweiterte Niveau gingen dorthin, weil sie auch dort Abitur machen können.
Was sich wieder ändern könnte, nachdem die Fans der Gymnasien als jüngsten Erfolg in immer mehr Bundesländern die Rückkehr von zwölf auf 13 Jahren bis zum Abitur erreicht hat, in Baden-Württemberg ist dies vom Schuljahr 2025/2026 an geplant, der SWR berichtete von internen Prognosen, demzufolge dann der Anteil von Gymnasiasten auf 60 Prozent schießen und die beruflichen Gymnasien und die Realschulen "austrocknen" könnten.
Es wäre die womöglich größte Ironie im deutschen Bildungsföderalismus, sollte die gesellschaftliche Abstimmung mit den Füßen am Ende genau das nachvollziehen, was sich die Bildungspolitik nie getraut hat – Deutschlands Übergang zu einem Gesamtschulsystem. Nur dass die Gesamtschule dann Gymnasium hieße.
Kommentare
#1 - Der Schlussabsatz steht sinngemäß auch am Ende einer…
https://www.zwd.info/oberstufe-wie-studium-fuer-moeglichst-alle.html
An Vorschlägen für Bildungsreformen mangelt es jedenfalls nicht.
#2 - Das Gesamtschulsystem hat sich in Deutschland nie…
#3 - Das Phänomen "alle gehen aufs Gymnasium" setzt sich ja…
Ob man das nun gut oder schlecht findet, bleibt jedem selbst überlassen.
#4 - Ein umschtiger Essay - jedenfalls nicht so reißerisch wie…
Ja, die Forschung kann keine eindeutigen Nachteile des gegliederten Schulsystems festmachen. Neueren Studien (Esser & Seuring 2020) zufolge ist die Bildungsungerechtigkeit in Bundesländern mit strikter Differenzierung nach Leistung (BY, SN, früher BW) sogar am kleinsten. Lohnt es sich also, bei der Systemfrage unsere Energien zu verpulvern?
Wichtig wäre vielmehr die Frage - und sie vermisse ich im Essay -, warum unsere Gymnasien überhaupt überlaufen werden können - in der Schweiz ist das bekanntlich anders. Die Antwort: Weil Zugang zum und Beurteilungen im anspruchvollsten Bildungsgang seit Jahrzehnten schleichend abgesenkt wurden. Das beginnt sich gerade erst zu ändern: Weil wir gemerkt haben, dass wir dicke Probleme kriegen, wenn alle nur Abi & Uni wollen - und viele das kaum oder gar nicht mal schaffen.
Als zweite Frage habe ich vermisst: Was könnte die bescheidenen Leistungen unserer Schüler denn ändern? Resümee in aller Kürze: bessere Rahmenbedingungen, vor allem personell; Mindestkundigkeit in der Unterrichtssprache; Inklusion nur bei hinreichender Förderqualität; höhere Anforderungen bzgl. Leistung & Verhalten; Lehrkräfteschulung in den Basisdimensionen der Unterrichtsqualität.
#5 - In Bayern gibt es dieses Grundschulabitur und eine Studie…
#6 - Der Forderung nach mehr Geld, der ich nicht widersprechen…
1) Anhebung des Leistungsniveaus lässt die Frage außer Acht, um welche Leistung es sich handelt. Das gegenwärtige System legt großen Wert auf erwartungsgerechte Leistungen in einem standardisierten Ansatz. Die Zeiten standardisierter Lösungen liegen aber langsam hinter uns und als Welt brauchen wir Schätze wie neuronale Diversität, Kreativität, mentale Wachstumsfähigkeit und Teamfähigkeit.
2) Auch Lehrende sind nur Menschen. Was diese an Zeit und Energie in standardisiertes Messen vorgegebener Leistungsparameter und gerichtsfeste Dokumentation stecken, das fehlt dann beim Umgang mit den Kindern. Könnte das Lehren und Lernen debürokratisiert werden?
#7 - Da Sachsen erwähnt wurde: Aktuell gehen dort ca. 60.000…
#8 - Zu #5: Sie erwähnen leider kein Argument, das darauf…
Warum geht denn das "individuelle Lernen" nicht schon im jetzigen System? Was hindert die lernfreudigen Schüler an einer Hauptschule, "individuell" Lesen und Schreiben zu lernen, nachdem sie doch vorher das schon in der (Gemeinschafts-)Grundschule mit dem individuellen Lernen hätten lernen sollen? Ganz zu schweigen von den Brennpunkt-Grundschulen. Verschwinden die einfach, wenn es keine Gymnasien mehr gibt? In Bayern sind die Testergebnisse beim Durchschnitt ALLER besser als in gesamtschulfreudigen Bundesländern, nicht nur die der Gymnasiasten. Siehe auch #4.
#9 - Zu #3: Gleichwohl hält die GEW Berlin bereits die dortigen…
https://www.gew-berlin.de/presse/detailseite/gew-berlin-kritisiert-auslese-beim-uebergang-auf-das-gymnasium
Das Wort "elitär" scheint seine Bedeutung verloren zu haben, es ist zu einem politischen Kampfbegriff degeneriert.
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