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Wenn die Polizei auf dem Schulhof steht

Immer mehr Kinder und Jugendliche werden abgeschoben – selbst aus Klassenzimmern und Ausbildungsbetrieben. Wie sollen Lehrkräfte sich verhalten? Die GEW bietet ihnen einen Leitfaden, und die KMK hat nichts dagegen.
Schueler mit Rucksack sitzt auf einer Treppe, Kopf auf die Haende gestuetzt.

Symbolbild: freepik.

ES SIND GESCHICHTEN wie diese: In Frankfurt war die Familie des 16-jährigen Angad und seines 12-jährigen Bruders Gunit zu einem augenscheinlichen Routinetermin bei der Ausländerbehörde erschienen, berichtete die Frankfurter Rundschau. Doch dort wartete bereits die Polizei und nahm die beiden Jungen und ihre Eltern mit – und schob sie wenig später nach Indien ab. 

Oder diese: In Sachsen-Anhalt versuchten Beamte, eine 10-jährige Schülerin während des Sportunterrichts aus der Schule zu holen. Die Lehrkräfte begleiteten das verängstigte Kind nach draußen, wo Polizei und Ausländerbehörde warteten, um die Familie abzuschieben – ein Vorgehen, das laut WELT Empörung auslöste und später von der Landesregierung verteidigt wurde.

Die Linksfraktion im Bundestag hat im August nachgefragt: Im ersten Halbjahr 2025 wurden nach Angaben der Bundesregierung insgesamt 2.040 Kinder und Jugendliche abgeschoben, fast so viel wie im gesamten Jahr 2024 (2.316). Betroffen waren vor allem Minderjährige mit Wurzeln in Georgien (300), Nordmazedonien (228) und der Türkei (220), aber auch 167 syrische und 87 afghanische Kinder. Das entspricht einem Anteil von mehr als elf Prozent an allen Abschiebungen bundesweit.

Die Linksfraktion sprach von einer "besonders erschütternden Dimension" der Rückführungsoffensive. Die Antwort der Bundesregierung, verantwortet vom Innenministerium von Alexander Dobrindt (CSU), referiert nüchtern die Statistik. Doch gerade die hohe Zahl von Minderjährigen macht deutlich, dass Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen längst zur Regel gehören.

Dass die Behörden dabei offenbar nicht selten auch in Schulen auftauchen oder junge Auszubildende aus Betrieben abholen, ist kein Zufall: Außer zu Hause sind Kinder und Jugendliche nirgendwo sonst so sicher anzutreffen wie im Unterricht oder am Arbeitsplatz. Mit der Folge, kritisieren Bürgerrechtsorganisationen, dass es mitunter gerade die besonders gut Integrierten trifft. Nur: Wie verhalten sich Schulen und Lehrkräfte in solchen Fällen richtig? Gibt es dafür Leitfäden, herausgegeben von Bildungsministerien oder Kultusministerkonferenz?

Die KMK habe "keinen eigenen Leitfaden speziell zum Thema Abschiebungen aus Schulen oder Betrieben veröffentlicht", teilt ihr Sprecher Michael Reichmann mit. Allerdings gebe es seit Jahren verschiedene KMK-Leitfäden zu Kinderschutz, Gewaltprävention und Schutzkonzepten. "Darin wird die Rolle von Schulen als Schutzräume betont – insbesondere im Hinblick auf das Kindeswohl und die psychische Sicherheit von Schülerinnen und Schülern."

Lehrkräfte zwischen Polizeieinsatz und Schutzauftrag

Womöglich befinden sich die Bildungsministerien in einer Zwickmühle. Sie sind Teil der Exekutive in den Ländern – genau wie die Innenministerien, die für die Durchführung der Abschiebungen verantwortlich sind. In die Lücke springt seit Jahren die GEW Bayern mit ihrem "Leitfaden Abschiebungen aus Schulen und Betrieben", von dem jetzt eine aktualisierte Version erschienen ist. Der Leitfaden setzt da an, wo die Verunsicherung bei Schulleitungen, Lehrkräften und Ausbilder:innen besonders groß ist: "Was können sie in dieser Situation tun, wenn sie die Abschiebung nicht aktiv unterstützen wollen?", heißt es in der Mitteilung.

Eine Kernaussage: "Wenn von einer Abschiebung auch Kinder betroffen sind, ist das Kindeswohl gegenüber Regelungen des Ausländerrechts stets vorrangig." Ebenso wichtig: "Wenn Ausländerbehörden oder Polizei nach der Anwesenheit einer Schülerin fragen, müssen Schulleitung oder Lehrkräfte keine Auskunft darüber geben. Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind von einer Pflicht zur Weitergabe dieser Daten ausdrücklich ausgenommen." Und der Leitfaden stellt klar: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz werde "regelmäßig verletzt sein, wenn die Polizei eine Abschiebung aus der Schule, der Kita, der Universität, der Lehrwerkstätte oder aus dem Betrieb etc. vornimmt." 

Und der Leitfaden rät: "Öffentlichkeit kann schützen. Wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen, sollte auch Öffentlichkeit hergestellt werden." Dies beginne mit dem Informieren von Verwandten und Freunden, reiche über das Einschalten von Menschenrechtsorganisationen bis zur Einschaltung von Presse und dem Posten in Sozialen Medien. Die Botschaft der Gewerkschaft: Lehrkräfte und Schulen sollen und dürfen auf der Seite der Kinder stehen, nicht der Behörden.

Der Leitfaden wird nicht nur in Bayern genutzt, sondern auch in anderen Bundesländern, teils in überarbeiteter Form und oft in Kooperation mit den jeweiligen Flüchtlingsräten. Verfasst hat ihn der Münchner Jurist Hubert Heinhold, der ihn jetzt auch grundlegend aktualisiert hat. GEW-Landesvorsitzende Martina Borgendale betont die politische Dimension: "Bildungseinrichtungen müssen Schutzräume sein. Eine Abschiebung aus dem Klassenzimmer verunsichert alle anwesenden Schülerinnen und beschädigt das Vertrauen in die Lehrkraft und die Institution Schule." Deshalb fordert die GEW eine sichere Aufenthaltsperspektive für Jugendliche und junge Erwachsene – nicht nur bis zum Abschluss von Schule oder Ausbildung, sondern auch darüber hinaus.

KMK: Schulen sollen sichere Orte bleiben

Wem als Begründung dafür das Wohl der Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend, der findet auch eine handfeste wirtschaftliche Begründung: Parallel zur Abschiebung von Kindern und Jugendlichen wirbt Deutschland gezielt junge Erwachsene im Ausland an, um Azubis vor allem in Mangelberufen zu gewinnen. Zwischen 2013 und 2022 stieg die Zahl der Auszubildenden mit ausländischer Staatsangehörigkeit von rund 33.500 auf knapp 55.000, der Anteil an allen Azubis wuchs von 6,4 auf 11,7 Prozent. Besonders stark war der Zuwachs in Engpassberufen: Dort nahm die Zahl der neuen Ausbildungsverträge mit ausländischen Jugendlichen sogar um 126 Prozent zu. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft konnten ausländische Azubis damit knapp ein Viertel des Rückgangs bei deutschen Ausbildungsanfängern kompensieren.

Ein Beispiel dokumentiert die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Magazin Faktor A auf ihrer Website. Dort berichtet Anton Grauvogl, Ausbildungsleiter beim Maschinenbauer Horsch in der Oberpfalz, der durch das Projekt "El Salvador" Azubis aus dem Ausland rekrutiert. "Es ist definitiv eine Chance, dem Arbeits- und Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken." Grauvogls Betrieb wirbt gezielt Nachwuchskräfte aus Mittelamerika an – während zugleich in Deutschland integrierte Jugendliche abgeschoben werden.

Die vorhandenen Handreichungen der Kultusminister enthielten ebenfalls rechtliche Hinweise zur Verantwortung von Lehrkräften und Schulleitungen, "etwa im Umgang mit Behörden oder bei der Wahrung von Schutzinteressen“, sagt KMK-Sprecher Reichmann. "Insofern überschneiden sich einige Inhalte durchaus mit dem, was der GEW-Leitfaden aufgreift – wenn auch aus anderer Perspektive." Und er fügt hinzu, grundsätzlich begrüßten die Kultusminister Initiativen, "die Lehrkräften Orientierung in schwierigen Situationen geben." Die Frage, wie mit behördlichen Maßnahmen im schulischen Kontext umzugehen ist, berühre "komplexe rechtliche und ethische Aspekte", die in den Ländern unterschiedlich geregelt seien. Die KMK setze sich dafür ein, dass Schulen sichere Orte blieben – "gerade für Kinder und Jugendliche in besonders verletzlichen Lebenslagen".

Kommentare

#1 -

Siegfried Arnz | Mi., 24.09.2025 - 10:09

Danke für diesen wichtigen Bericht über dieses unerträgliche Vorgehen als Folge der gegenwärtigen politischen Linie der Bundesregierung zu Migration!

Schon 1999 war ich als Schulleiter ein Berliner Hauptschule mit einem solchen Vorgehen konfrontiert - und habe der Polizei Hausverbot erteilt - mit ziemlichem Echo   -    siehe dazu die TAZ:

https://taz.de/quotNun-kommt-einiges-in-Bewegungquot/!1305171/

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