Zivilcourage, bitte!
Kinder und Schulen haben Priorität bei den Corona-Öffnungen? Die Realität beweist gerade auf schmerzliche Weise das Gegenteil. Die Kultusminister müssen jetzt ihrer Verantwortung gerecht werden und von ihren Ministerpräsidenten die sofortige Rückkehr zum Präsenzunterricht für alle fordern.
Die Uhr tickt. Die Kultusminister müssen ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen erneut gerecht werden. Foto: Anemone123 / Pixabay.
AUSGERECHNET die vielgescholtenen Kultusminister. In der größten politischen Krise der vergangenen Jahrzehnte zeigten sie eine Konsequenz und eine Einigkeit, die man sonst so oft bei ihnen vermisst hatte. Im vergangenen Herbst war das: Die bundesweiten Corona-Inzidenzen kletterten unaufhörlich, übersprangen die 100, nahmen Kurs auf die 200. Die Rufe nach Schulschließungen wurden immer lauter, die Bildungspolitiker aber stemmten sich gemeinsam und öffentlich gegen den Druck. Sie pochten auf die im Sommer verabredete Priorität von Bildungseinrichtungen und Kindern in der Coronakrise und schafften es so, ihre Regierungschefs lange bei der Stange zu halten – und die Schulen inzidenzunabhängig offen.
Bis sie es nicht mehr schafften und Mitte Dezember der Lockdown dann doch kam. Fast skurril war, dass Ministerpräsidenten wie Markus Söder (Bayern), Peter Tschentscher (Hamburg) oder Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg), die eben noch ihre Kultusminister gestützt hatten, sich plötzlich als die Ober-Vorsichtigen gerierten und intern – manchmal auch in aller Öffentlichkeit – über die Kultusminister herzogen, die ja wohl den Ernst der Lage nicht erkannt hätten.
Kein Wunder, dass sich einige der Bildungspolitiker, mürbe von den ständigen Anfeindungen von Teilen der Lehrerverbände, Eltern und Medien und nun noch im Stich gelassen von den eigenen Regierungschefs, zurückzogen. Von "blutigen Nasen", die man sich geholt habe, war die Rede“, von "schweren Verwundungen" gar. Jedenfalls hielten die meisten Kultusminister kaum noch gegen, als aus den angekündigten wenigen Tagen viele Wochen komplett geschlossener Schulen wurden.
Doch spätestens jetzt wäre ihre erneute Zivilcourage wichtig wie nie. Die Inzidenzen sinken, die Ministerpräsidenten geraten in einen immer stärkeren Öffnungstaumel – nur die Schulen stellen sie zu oft hinten an. So teilte zum Beispiel Berlins Schulaufsicht vergangene Woche mit, dass "auch bei weiter sinkender Inzidenzzahl die bisher gültigen Regelungen in der Schulorganisation bis zum Ende des Schuljahres 20/21 bestehen bleiben", und Markus Söder wird mit dem Satz zitiert, es mache "keinen Sinn, die Schulen jetzt aufzumachen – ohne einen Plan zu haben".
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Aus Kalkül, damit mehr Spielraum für Wirtschaft und Gastronomie übrigbleibt? Weil Eltern und Familien nicht mehr können und ihre Proteste politisch weniger schmerzen als der Normalitätsdrang der Alten, der zu einem großen Teil bereits Geimpften?
Fest steht: Die meisten Kinder und Jugendlichen befinden sich seit fünf Monaten im Ausnahmezustand geschlossener und jetzt teilgeschlossener Schulen, verbotener Freizeitaktivitäten und untersagter sozialer Kontakte. Fest steht auch, dass nicht nur Bildungsforscher vor den Lernrückständen warnen, sondern Verbände der Kinder- und Jugendmediziner die psychosozialen Folgen der Schließungen für weitaus dramatischer halten als die sehr seltenen Fälle schwerer Erkrankungen unter Kitakindern und Schülern.
Es reicht. Die Kultusminister müssten gemeinsam aufstehen, und zwar sofort. Die Uhr tickt. Je nach Bundesland sind nur noch zwischen fünf Wochen und gut zwei Monaten bis zu den Sommerferien übrig. Die Kultusminister müssten in einer gemeinsamen Erklärung die sofortige Rückkehr zum vollen Präsenzunterricht für alle Altersgruppen fordern – überall dort, wo die 7-Tages-Inzidenz unter 100 liegt. Berufen können sie sich dabei ausgerechnet auf die angeblich so strenge Bundesnotbremse, die dies zulässt. Nur dass bislang kaum Bundesländer von der Möglichkeit Gebrauch machen – während die meisten täglichen Unterricht selbst bei einer Inzidenz von unter 50 und selbst für Grundschüler unterbinden. Warum? Weil unter anderem die Ministerpräsidenten es genauso wollen.
Das Narrativ der Regierungschefs entkräften
Die meisten Kultusminister, davon kann man ausgehen, wollen das nicht. Aber viele von ihnen haben den Kopf eingezogen. Doch das geht jetzt nicht länger. Die Kultusminister müssen ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen erneut gerecht werden. Und das heißt: Sie müssen und können das auch von vielen Regierungschefs verbreitete Narrativ – dass Kinder und Jugendliche sich, Stichwort Virusmutationen, so viel häufiger ansteckten als früher und komplette Schulöffnungen daher undenkbar seien – gleich zweifach entkräften.
Indem sie darauf hinweisen, dass Schüler die einzige Altersgruppe sind, die zweimal in der Woche verpflichtend getestet werden, was die Dunkelziffer senkt und die offiziellen Meldezahlen hochtreibt. Und indem sie daran erinnern, dass es schon seit Februar von Wissenschaftlern, Verbänden und Bildungspraktikern gemeinsam erarbeitete, umfassende Hygiene-Richtlinien gibt, wie Unterricht abhängig vom Infektionsgeschehen möglichst sicher stattfinden kann. Richtlinien, wie sie vergleichbar übrigens für keinen anderen Lebensbereich außerhalb der Pflege existieren.
Schließlich könnten die Kultusminister auf Israel Großbritannien und andere Länder verweisen. Dort zeigt sich: Wann immer die Corona-Inzidenzen in der Gesamtbevölkerung stark sinken, tun sie dies auch bei den Schülern, komplett im Gleichschritt, selbst wenn diese noch nicht geimpft und die Schulen komplett offen sind. Was das neuerdings auch vom Ärztetag vertretene Argument, die volle Rückkehr zur Normalität könne es für Kinder und Jugendliche erst nach ihrer Impfung geben, so absurd wie gefährlich macht. Erst recht, wenn die Kultusminister für Risikofälle parallel die Präsenzpflicht aussetzen bzw. ausgesetzt lassen.
Auch Forderungen, in möglichst viele Klassenräume Luftfilter, Lüftungsanlagen oder ähnliches einzubauen, dürfen nicht plötzlich zu Voraussetzungen für Unterricht in voller Klassenstärke umgewandelt werden – zumal die Expertenmeinungen über Sinn und Nutzen solcher Maßnahmen weit auseinandergehen.
In der öffentlichen Debatte über die Rechte und Pflichten von Kindern und Jugendlichen in der Coronakrise ist, so scheint es, seit Dezember etwas gefährlich verrutscht. Die Kultusminister haben im vergangenen Herbst den Schülern zuliebe den Rücken gerade gemacht. Sie müssen es jetzt noch einmal tun.
Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Kommentare
#1 - Vielen Dank! Ich hoffe, Sie werden gehört!
#2 - Ich bin fassungslos. In Bremen müssen wir – wenn wir…
#3 - Hier wird endlich mal ein Punkt angesprochen. Zwar wird der…
Ich hoffe, dass den Kindern und Jugendlichen zukünftig ebenso eine solche Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie bisher in der Pandemie dem älteren Teil der Bevölkerung.
#4 - Danke für diesen Beitrag, der mir aus der Seele (und dem…
#5 - Leider werden auch von Ihnen einige Probleme nicht…
Das nächste Problem sind die weiterhin ungeimpften Lehrkräfte, deren Gesundheitsschutz in der gesamten Diskussion kaum eine Rolle spielte. An den Schulen treten zunehmend Fälle von Langzeitausfällen nach Corona-Infektionen bei den Lehrkräften auf. Das verschärft zudem die seit Jahren bestehende Personalproblematik.
Ferner hört es sich auch bei Ihnen so an, als wären die angepriesenen Hygienemaßnahmen überall problemlos umsetzbar. Leider wurde hier viel weniger unternommen und investiert, als die Öffentlichkeit glaubt. Abstände in den Klassenräumen lassen sich an vielen Schulen selbst bei halber Klassenstärke nicht sicherstellen, teilweise sind die Räume und Möbel dafür gar nicht geeignet.
Bleiben noch die Masken, die selbst Erwachsene häufig nicht einmal richtig tragen können, damit sie ihren Zweck erfüllen.
Ja, der Unterricht und, viel mehr noch, der soziale Kontakt in den Schulen sind sehr wichtig. Das Risiko für die Beteiligten sollte aber nicht ignoriert werden. Wenn nach Zivilcourage geschrien wird, dann bitte für alle Beteiligten.
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