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Was die Kultusminister verbockt haben und was nicht

Die GEW wirft den Ländern vor, zu lange am Präsenzunterricht festgehalten zu haben – als wären die Schulschließungen die Quittung dafür. Objektive Belege dafür gibt es nicht. Ein Kommentar.

IN DAS STATEMENT der GEW-Bundesvorsitzenden mischte sich ein gönnerhafter Unterton. Die Vereinbarung von Bund und Ländern, Schulen und Kitas weitgehend zu schließen, sei eine "harte, aber richtige Entscheidung", kommentierte Marlis Tepe gestern per Pressemitteilung. "Die Länder müssen sich vorwerfen lassen, zu lange am Präsenzunterricht festgehalten zu haben, ohne ausreichend für den notwendigen Gesundheits- und Infektionsschutz an Schulen und Kitas gesorgt zu haben. Dennoch müssen wir jetzt nach vorne schauen und Lösungen finden." 

 

Moment! Will Tepe damit sagen, Kitas und Schulen hätten nicht in den Lockdown gehen müssen, wenn die Länder nicht, wie sie es formuliert, "zu lange am Präsenzunterricht festgehalten" hätten? Will sie ausdrücken, die Schulschließungen seien die Quittung für die Versäumnisse der Kultusminister? Und dass die GEW jetzt trotz dieser Versäumnisse ein Auge zudrücken will – den Schülern, Eltern und Lehrkräften zuliebe?

 

All das würde zwar zum seit Monaten erzählten Narrativ vieler Lehrerverbände passen, hielte aber wohl kaum einer objektiven Betrachtung statt. Oder glaubt Tepe ernsthaft, die Regierungschefs hätten Restaurants, Friseure und Einzelhandel in den Zwangsurlaub geschickt, sie hätten die Kontaktsperren weiter verschärft und Ausgangsbeschränkungen in Hochinzidenz-Gebieten angekündigt, um dann Schulen unbehelligt zu lassen – nur weil die Kultusminister der GEW folgend Millionen Schüler schon Wochen oder Monate vorher freiwillig in den teilweisen Fernunterricht geschickt hätten? Denn genau darauf wäre die geforderte Einführung der Abstandsregel in den Schulen zwangsläufig hinausgelaufen.

 

Und was ist mit dem angeblich unzureichenden
Gesundheits- und Hygieneschutz?

 

Nein, der Lockdown wäre jetzt so oder so für die Schulen gekommen – und deshalb war es richtig, dass die Kultusminister so lange wie möglich versucht haben, den Präsenzunterricht möglichst vollständig aufrechtzuerhalten.

 

Übrigens ist auch Tepes Darstellung des angeblich nicht ausreichenden Gesundheits- und Infektionsschutz an Schulen und Kitas durchaus zu hinterfragen. Nicht hinsichtlich der einzelnen Maßnahmen, von denen es sicherlich andere und mehr hätte geben können. Sondern hinsichtlich der Auswirkung auf die Gesundheit von Schülern und Lehrkräften.

 

Die Kultusministerkonferenz (KMK) trägt neuerdings Woche für Woche die behördlich gemeldeten Infektionszahlen an den Schulen zusammen. Für den Zeitraum 30. November bis 6. Dezember gibt sie den Anteil aktuell infizierter Lehrkräfte mit 0,35 Prozent an. Zum Vergleich: Am 6. Dezember meldete das Robert-Koch-Institut insgesamt 306.600 aktive Corona-Fälle – umgerechnet auf den Durchschnitt der 30- bis 65-jährigen Bevölkerung (also der Altersspanne der meisten Lehrkräfte) ergibt das einen Anteil von: 0,37 Prozent. Eine erhöhte Infektionsrate unter Lehrkräften lässt sich daraus nicht ableiten. Und die Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen, absolut auf niedrigem (0 bis 9 Jahre) bis sehr hohem Niveau (15 bis 19 Jahre ), nehmen langsamer zu als im Schnitt der Bevölkerung.

 

Selbst auf dem bisherigen Höhepunkt der zweiten Welle befanden sich nicht mehr als zwei, drei Prozent der Schüler bundesweit gleichzeitig in Quarantäne, und der Anteil der Schulen im Vollbetrieb lag zuletzt bei 86 Prozent.

 

In der Gesamtschau gehört es insofern zu den Verdiensten der Kultusminister, dass sie es trotz enormer Widerstände geschafft haben, den allermeisten Kindern und Jugendlichen bis zum jetzigen Zeitpunkt ein fast vollständiges Schuljahr zu ermöglichen. Die Entschlossenheit und Geschlossenheit ihrer sonst so oft so zahnlos wirkenden Kultusministerkonferenz war etwas, mit dem selbst viele Bildungspolitiker vor der Krise nicht gerechnet hatten – wodurch sich auch ihr manchmal überdreht-unangemessenes Eigenlob der vergangenen Wochen erklärte.

 

Die Digitalisierung der Schulen wurde in den vergangenen
10 Jahren verpennt, nicht in den vergangenen 10 Monaten

 

Ihre Leistung wird auch dadurch nicht geschmälert, dass sich die Kultusminister zuletzt durch die Verweigerung eines eigenen Beschlusses zu den bevorstehenden Schulschließungen dann doch noch unnötigerweise selbst aus dem politischen Spiel genommen haben

 

Das unbedingte Festhalten der Kultusminister am Regelunterricht hatte zwei Gründe, einer davon ist für sie weniger schmeichelhaft. Er lautet: Die Politiker wussten, dass die Schulen immer noch nicht zu ihrem größeren Teil, geschweige denn flächendeckend auf Digitalformate als vollwertigen Ersatz für den Präsenzunterricht vorbereitet sind. Diese Misere wird so richtig deutlich werden, wenn aus den paar Tagen Schulschließung doch ein paar Wochen werden sollten.

 

Und genau hier, und nicht bei den Hygienekonzepten, ist die Politik gescheitert. Nicht in den vergangenen 10 Monaten seit Beginn der Corona-Krise, sondern in den vergangenen 10, 20 Jahren, in denen die Digitalisierung der Schulen technisch und didaktisch verpennt – oder sogar aktiv verhindert wurde. Dass seit den Sommerferien nicht überall die Endgeräte aufgetaucht sind, nicht die nötigen Datenleitungen entstanden, dass sich die Lernplattformen noch im Aufbau befinden und viele Lehrer nicht rechtzeitig fortgebildet werden konnten, kann man demgegenüber populistisch beklagen – oder einfach wenig überrascht anerkennen, dass ein solch schneller Kraftakt noch nie in der bundesdeutschen föderalen Verwaltungsstruktur funktioniert hat. Freilich kann man Bund und Ländern vorwerfen, hier über die diversen (und sinnvollen!) Digital-Sonderprogramme zwischenzeitlich andere Erwartungen geweckt zu haben. 

 

Der zweite Grund für die Präsenz-um-jeden-Preis-Haltung der Kultusminister hat dagegen mit einem Erfahrungswert zu tun. Sie haben im Frühjahr gelernt: Sind die Schulen erstmal zu, machen sie eben nicht nach ein paar Tagen wieder auf. Im Frühjahr vergingen laut OECD 17 Wochen, bevor der Regelunterricht zurückkehrte. Und das lag nicht an den Kultusministern, das lag an ihren Regierungschefs, die ganze andere Prioritäten (erstmal Einzelhandel, Autohäuser oder Friseure auf) setzten. 

 

Wie war das noch mit dem
Versprechen offener Schulen?

 

Zwar hat Kanzleramts-Chef Helge Braun (CDU) heute Morgen in der Sendung "Frühstart" von RTL/ntv versprochen, dass Schulen und Kitas nach einem Ende des Lockdowns als Erstes wieder geöffnet würden, berichtet die Nachrichtenagentur dpa und zitiert ihn wie folgt: "Das haben wir immer gesagt. Das ist das Letzte, was wir schließen und das Erste, was wir öffnen. Bildung hat Priorität, und dabei bleibt es auch."

 

Doch stört an an dem Statement die verzerrte Wahrnehmung, die ihr zugrunde liegt. Die Schulen sind vielen Bundesländern schon seit heute nicht mehr im Regelbetrieb (siehe die ZEIT-Übersicht), vielerorts wurden die Eltern schon gestern Abend aufgefordert, ihre Kinder möglichst von heute an zu Hause zu lassen. Eltern berichten von einer überstürzten, teilweise chaotischen Kommunikation durch die Schulen, die wiederum durch Ministerien ausgelöst wurde, die anfangs offenbar selbst nicht wussten, wie die seltsam verdrucksten Bund-Länder-Beschlüsse zu den Bildungseinrichtungen zu interpretieren waren. Das gleiche gilt für die Kitas – die zwar offiziell in vielen Ländern offenbleiben sollen, doch der soziale Druck auf alle Eltern, die irgendwie können, sie ab sofort nicht mehr in Anspruch zu nehmen, ist gewaltig.

 

Währenddessen hat kein einziges Bundesland (mit Ausnahme des ohnehin schon im Lockdown befindlichen Sachsens) die für Mittwoch geplante Schließung des Einzelhandels auf heute vorgezogen – im Gegenteil, in den Einkaufszentren und Einkaufsstraßen ist es voll wie nie.  Wo also schließen die Schulen als letztes? Und was bedeutet Brauns verzerrte Wahrnehmung für seine Aussage, dass die Bildungseinrichtungen als erstes wieder öffnen würden? Was den Gesamt-Lockdown angeht, machte der Kanzleramtsminister übrigens wenig Hoffnung auf weitreichende Lockerungen zu Beginn des neuen Jahres, berichtet die dpa weiter. Welch Glück, dass die Kultusminister so lange am Präsenzunterricht festgehalten haben. 

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