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Für wen ist der Drops denn nun gelutscht?

Franziska Giffey tritt als Familienministerin zurück. Ist die politisch-wissenschaftliche Affäre um ihre Doktorarbeit damit ausgestanden?

FRANZISKA GIFFEY ist von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurückgetreten. Sie stehe weiterhin zu ihrer Aussage, dass sie ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben habe, teilte sie mit. "Ich bedauere, wenn mir dabei Fehler unterlaufen sind."

Ein Schuldeingeständnis? Irgendwie ja, irgendwie aber auch nicht. In jedem Fall ist Giffeys heutige Bitte an Bundeskanzlerin Merkel, sie aus dem Amt zu entlassen, in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Zuerst unabhängig von den besonderen Umständen ihres persönlichen Falles: Einer Politikerin wird wissenschaftliches Fehlverhalten im Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit vorgeworfen, und sie tritt zurück, nachdem die Untersuchungskommission zu dem Ergebnis kommt, dass die Vorwürfe berechtigt sind. Das ist konsequent und aus Achtung vor der Wissenschaft und den Wählern unvermeidlich.

Wenn man den konkreten Ablauf der Causa Giffey in die Betrachtung hineinnimmt, wird ihre heutige Entscheidung noch bemerkenswerter. Neulich erst hatte sie im Tagesspiegel-Podcast "Eine Runde Berlin" gesagt, das Thema Doktortitel sei für sie durch. "Für mich kann man mal sagen, der Drops ist gelutscht." Allerdings sagte sie da auch, sie wolle SPD-Spitzenkandidatin bei der Abgeordnetenhauswahl im September bleiben, denn dazu sei sie gewählt worden, "wo klar war, dass es nochmal eine Neuaufrollung gibt." Nun sehe sie sich in der Verantwortung, "dieses Versprechen einzulösen".

Familienministerin: nein. Regierende Bürgermeisterin: ja?

Giffey unterscheidet also: Eine Familienministerin, die ins Amt kam, als noch nicht von Plagiatsvorwürfen die Rede war, muss zurücktreten, wenn diese sich bestätigen. Eine Politikerin, die Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will, kann ihre Ambitionen weiter verfolgen, weil die Affäre schon älter ist als die Kandidatur.

Das kann man so machen. Ein bisschen konstruiert ist es freilich schon, zumindest wenn man der Auffassung ist, dass Integrität ein absoluter Wert ist und nicht davon abhängt, zu welchem Zeitpunkt sie in Frage gestellt wird.

Dass Giffey jetzt so schnell handelt, noch bevor die Entscheidung der Untersuchungskommission offiziell bekanntgegeben wurde, ist ebenfalls auffällig. Man sollte es freilich nicht als von Verantwortungsbewusstsein getriebene Flucht nach vorn verstehen, sondern als nüchternes Kalkül: Je früher der Rummel um ihren Rücktritt kommt, desto schneller ist er auch wieder vorbei – und begleitet sie nicht mehr bis kurz vor der Wahl.

Trotzdem werden die Zweifel in den nächsten Tagen und Wochen laut werden. Der Druck, sich doch noch auch von der Spitzenkandidatur zurückzuziehen, wird gewaltig sein – und von den übrigen Parteien maximal verstärkt werden. Nicht, weil die sich Gedanken um die Folgen für die Wissenschaft machen, sondern weil dies so eine gute Gelegenheit ist, eine beliebte und starke Konkurrentin auf der Zielgeraden loszuwerden.


Und genau an dieser Stelle muss sich auch die Freie Universität, die das Verfahren geführt hat, Vorwürfe gefallen lassen. Und zwar schwerwiegende. Nicht nur, weil sie die Untersuchung von Giffeys Fehlverhalten Ende 2019 im ersten Anlauf so gründlich an die Wand gefahren hatte, dass sie ein Jahr später selbst nicht mehr anders konnte, als eine erneute Überprüfung der Doktorarbeit durch eine neue Kommission anzukündigen.

Sondern auch weil schon der erste Durchlauf acht Monate dauerte – um dann mit einem wissenschaftlich wie juristisch fragwürdigen Ergebnis (nur einer Rüge) zu enden. Hinzu kommt, dass auch das zweite Verfahren, angekündigt Mitte November 2020, sich entgegen erster Ankündigungen erneut über Monate dehnte – ja das neue Prüfungsgremium überhaupt erst Ende Januar zum ersten Mal tagte.

Nun kann man sagen: Recht geschieht es Franziska Giffey. Wer betrügt, muss die Konsequenzen tragen. Und wenn das bedeutet, dass man über zweieinhalb Jahre immer wieder mit seinen Verfehlungen konfrontiert wird. Dass man immer wieder denkt, die Sache sei ausgestanden, und dann kommt sie mit Macht wieder. Womöglich bis zur Wahl selbst. Nur geht es eben um noch mehr. Es geht um das Erscheinungsbild einer Universität und ihres Präsidiums, die einer wissenschaftlich-politischen Krise über lange Zeit nicht gewachsen schienen. Es geht um die Integrität der Wissenschaft, deren Qualitätsstandards durch jeden Plagiatsfall in Zweifel gezogen werden – umso mehr allerdings, wenn dann auch noch ihre Institutionen selbst so zögerlich-unprofessionell agieren. Und auch die politische Kultur hat wieder einmal Schaden genommen – übrigens egal, ob Giffey nun Berliner Spitzenkandidatin bleibt oder nicht.

All das wird so lange so sein, wie akademische Titel in unserer Gesellschaft als Statussymbole gelten, in Personalausweisen und auf Klingelschildern stehen. Und solange Politiker denken, es bringe ihnen einen Gewinn an Karriereoptionen oder Wählerstimmen, wenn auf ihrem Wahlplakat ein "Dr." vor ihrem Namen steht. Bei Doktortiteln sollte es allein um das Bescheinigen wissenschaftlicher Leistungen gehen (und im Zweifel, wenn die Qualität dazu nicht reicht, um deren Verweigerung) und nicht um das Öffnen irgendwelcher Türen außerhalb der Wissenschaft. Bislang ist diese Forderung allerdings nicht mehr als eine schöne Illusion.

Kommentare

#1 -

Th. Klein | Mi., 19.05.2021 - 20:56
"Nicht, weil die sich Gedanken um die Folgen für die Wissenschaft machen, sondern weil dies so eine gute Gelegenheit ist, eine beliebte und starke Konkurrentin auf der Zielgeraden loszuwerden."

Ja, die Gefahr ist real. Aber Fr. Giffey hat durch die aktuelle Situation auch die Möglichkeit sich vom Establishment abzusetzen, was ihrer Wählerklientel vielleicht sogar entgegenkommt.

#2 -

Nikolai Brodweb | Mi., 19.05.2021 - 22:31
Warum erfährt man von der FU Berlin eigentlich nichts
Selbstkritisches zur Vetter(innen)-Wirtschaft am Otto-Suhr Institut um die Doktor"mutter" Frau Börzel und Familie? Schade, daß der exzellente Mathematiker im Präsidenten-Amt sich nicht dagegen durchsetzt. Wozu gibt es denn diesen ganzen Wirbel um Exzellenz, wenn es im Detail so ausschaut.

#3 -

Andreas Eder | Mi., 19.05.2021 - 23:24
Sehr gelungener Kommentar, vor allem der letzte Absatz. Fehler passieren und zu einer guten Fehlerkultur gehört, dass sie konstruktiv für Korrekturen im Verfahrensablauf und für die Qualitätssicherung genutzt werden. Instrumente und Vorschläge dazu gibt es zuhauf. Ob die FU Berlin diese nutzt? Ich bin skeptisch.

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