Ansporn und Warnung
Der Erfolg des Forscherpaares Şahin/Türeci zeigt, was möglich wäre, wenn dieses Land endlich all seine Talente unabhängig von ihrer Herkunft fördern würde. Ein Kommentar.
Biontech-Firmenzentrale in Mainz. Foto: By Epizentrum - Own work, CC BY-SA 4.0.
ES GEHT UM DIE RETTUNG der Menschheit vor dem Coronavirus. Und um eine gehörige Portion Nationalstolz. Als am Montag die Nachricht eines möglichen Impfstoff-Durchbruchs die Runde machte, bejubelten amerikanische Medien den US-Konzern Pfizer. Während die deutschen vor allem das Mainzer Startup Biontech hochleben ließen.
In jedem Fall haben die Partner Pfizer und Biontech mit ihren Angaben einer 90-prozentigen Wirksamkeit die Erwartungen diesseits und jenseits des Atlantiks hochgejazzt. Erfüllen sie sich, es wäre die größte Erfolgsgeschichte der Forschung seit langer Zeit. Sollten sie sich als voreilig erweisen, wäre der Schaden für das Ansehen der Wissenschaft von derselben Dimension.
Was einmal mehr die Bedeutung überlegter Wissenschaftskommunikation zeigt, doch das nur nebenbei bemerkt. Viel wichtiger: Viele werden im Erfolgsfall die Lebensgeschichten der Biontech-Chefs Uğur Şahin und Özlem Türeci als Beleg dafür zitieren, dass in der Bundesrepublik auch Einwanderern und deren Kindern alle Möglichkeiten und Karrierewege offenstehen, speziell in der Wissenschaft. Der amerikanische Traum in seiner deutschen Variante.
Şahin wurde in der Türkei geboren, mit vier kam er nach Deutschland, weil sein Vater in der Kölner Ford-Fabrik arbeitete. Seine Frau Türeci, wie er angesehene Krebsforscherin, kam in Deutschland als Tochter eines türkischen Chirurgen zur Welt.
Welche Türen den beiden in Deutschland geöffnet wurden und welche verschlossen blieben, können nur sie selbst beantworten. Fest steht: Die beiden sind nicht nur seit vielen Jahren Professor bzw. Privatdozentin am Mainzer Uniklinikum, sie waren auch schon vor der Gründung von Biontech erfolgreiche Unternehmer. Und jetzt erhält Biontech allein vom Bundesforschungsministerium bis zu 375 Millionen Euro Förderung.
Fest steht auch: Viele der immer noch wenigen Einwanderer und Einwandererkinder, die es auf Professuren oder andere Spitzenjobs in der Wissenschaft schaffen, haben dies einzig und allein ihrem außergewöhnlichen Talent und einem enormen Durchhaltewillen zu verdanken. Sie mussten immer etwas besser sein als die anderen. Man könnte sogar sagen: Sie haben es nicht dank der Offenheit von Gesellschaft und Wissenschaftssystem geschafft, sondern trotz deren Beschränktheiten.
Der (hoffentlich!) große Erfolg des Forscher- und Unternehmerpaares Şahin/Türeci sollte uns Inspiration und Ansporn sein, was erst alles möglich wäre, wenn dieses Land tatsächlich all seine Talente unabhängig von ihrer Herkunft angemessen fördern würde. In Kitas, Schulen und Hochschulen. Und zugleich eine Warnung, wieviel Potenzial wir als Gesellschaft über Jahrzehnte durch unser ungerechtes Bildungssystem vergeudet haben.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst im Newsletter ZEITWissen3.
Kommentare
#1 - Es war zu erwarten, daß diese Argumente in dem…
kommen. Man sollte aber ergänzen, daß Ausnahmetalente
nun mal rar gesät sind. Es gehört auch das entsprechende
Durchsetzungsvermögen dazu. Das hat dann nur bedingt
mit Ungerechtigkeiten in der hiesigen Bildung zu tun.
#2 - Ja, die Argumentation im Artikel ist löchrig, was das…
#3 - Ausnahmetalente sind in der Tat rar gesät. Und genau aus…
#4 - @Edith Riedel:Was für eine Dramatik! ''Menschen, die aus…
Was für eine Dramatik! ''Menschen, die aus einer bildungsfernen Umgebung kommen und sich mit ihrem Durchsetzungsvermögen jeden einzelnen Tag erkämpfen müssen, was für andere selbstverständlich ist''.
Wovon ist hier bloss die Rede. Ich unterrichte seit über 20 Jahren Mathematik an deutschen Universitäten. Hier muss nur eine Sache erkämpft werden von den Studierenden, nämlich das Verständnis des mathematischen Stoffes. Das muss in der Tat täglich erkämpft werden, aber es hilft dabei gar nichts, wenn man aus einer ''gut vernetzten Akademikerfamilie'' kommt. Es hilft nur Talent und selbständige, harte, disziplinierte Arbeit am fachlichen Stoff. Das gilt für alle Studierenden, ganz gleich aus welcher sozialen Schicht sie kommen. ''Durchsetzungsvermögen'' ist dabei irrelevant. Es zählen alleine korrekte Lösungen. Das war im übrigen schon vor dreissig Jahren so, als ich selbst studiert habe und ich komme selbst aus einer bildungsfernen Familie.
Hier werden Stereotype gepflegt, die längst überholt sind.
#5 - Ich kann die Kritik an diesem Artikel nicht nachvollziehen.…
Da gerade die Mathematik – mein Fach – hier im Gespräch ist: Ich verstehe gar nicht, welche Schlussfolgerungen daraus folgern sollen, dass alle Mathe-Studis an der Uni mit dem gleichen Maßstab gemessen werden: denn gerade in der Mathematik muss so viel in der Schulbildung genau richtig verlaufen, damit man überhaupt ein Mathe-Studium aufnimmt – und da hat das Akademiker-Kind tatsächlich deutlich bessere Ausgangschancen. Wie kein anderes Fach hängt das Erlebnis der Schulmathematik von der Eignung – fachlich, didaktisch und pädagogisch – der Lehrkraft ab: eine schlechte Lehrkraft kann jede Zugneigung zur Mathematik kaputt machen. Während tmg vor 30 Jahre als Arbeiterkind Mathe studierte – alle Achtung, übrigens –, verdanke ich meinem Cambridge-Studium vor 35 Jahren eindeutig den hervorragenden Lehrern am Privatgymnasium. Von dieser Starthilfe zehre ich immer noch.
Als langfristige Investition müsste Deutschland jene Schulen besonders unterstützen, die viele Kinder aus sozialschwachem Hintergrund haben: mehr Personal, und wirksame Anreize damit gute Lehrkräfte freiwillig dort hingehen. Und man müsste dringend die Schulmathematik reformieren: weniger Schmalspur-Mathestudium, weniger Tafelwerk und Solve-Knopf, und mehr Bereitstellung von gutem Erdboden, sowohl für das Leben als auch für das Studium.
#6 - Eigenartig: Zu diesem Beitrag äußern sich vor allem…
Wer vor mehr als 30 Jahren die Talenteförderung (vor allem auf dem Gebiet der Mathematik) in der DDR
mitgemacht hat, weiß, wie es ohne Bevorzugung der Herkunft im Schulbereich gehen kann. Nicht umsonst gehört dies zu den wenigen Dingen, die man zum Teil übernommen hat. Man muß aber aus seinem Talent schon selbst etwas machen. Dies habe ich nach nunmehr 40
Jahren an deutschen Unis intensiv erlebt.
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