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Blick zurück (22)

Gute Ausrede, um zu sparen

An deutschen Schulen sollen bald mehr als 80.000 Lehrerstellen unbesetzt sein. Verfehlte Personalpolitik der meisten Bundesländer, nennt das der Bildungsforscher Klemm – erschienen in der ZEIT am 17. Juni 2009.

Es ist eine besorgniserregende Rechnung, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm aufstellt: Die gegenwärtig anlaufende Pensionswelle unter Lehrern werde dazu führen, dass allein bis 2015 an deutschen Schulen mehr als 80.000 Pädagogenstellen unbesetzt sein werden. Anstatt kontinuierlich Junglehrer einzustellen, hätten die Bundesländer oft bis zum letzten Moment gewartet, um Kosten zu sparen – und so den seit Jahrzehnten bekannten Wechsel zwischen bitterer Lehrerarbeitslosigkeit und eklatantem Mangel für die Zukunft zementiert.

 

Klemms Rechnung verwirrt allerdings auch ein wenig – hat doch derselbe Wissenschaftler früher über Jahre prognostiziert, dass sämtliche Szenarien einer drohenden Pädagogenknappheit übertrieben seien: Es werde zu einem zumindest quantitativen Ausgleich zwischen Lehrerstellen und Bewerbern kommen, so lautete seine Vorhersage. Was ist passiert?

 

Im Grunde gar nichts. Klemm steht nämlich zu seiner alten Prognose. Der einzige Unterschied ist, dass er einmal etwas getan hat, was Bildungsforscher sonst meist bewusst unterlassen: Er hat sich in seinen neuen Berechnungen auf die Versprechungen der Politik gestützt  – speziell auf jene, die Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten der Länder vergangenen Herbst auf dem Dresdner Bildungsgipfel gemacht haben.


Seit 25 Jahren beschäftigte ich mich mit Hochschulen, Bildung und Wissenschaft. Viel ist passiert in dieser Zeit, vieles davon durfte ich als Journalist begleiten. Der Blick zurück zeigt, wie aktuell einige meiner Themen von einst geblieben sind – obwohl sich fast alles verändert hat. Machmal allerdings auch, weil sich fast gar nichts verändert hat. Der 21. Teil einer Serie. Einen Überblick über die gesamte Serie "Blick zurück" finden Sie hier


Die mutige wie notwendige Zusage damals: Man wolle die sogenannte demografische Rendite größtenteils im System belassen. In normalem Deutsch formuliert bedeutet das: Die Schülerzahlen gehen derzeit zwar zurück, doch um eine bessere Betreuungsrelation zu erreichen, soll die Zahl der Lehrer in etwa stabil gehalten werden. Ein Versprechen, das enorme Folgen für die Lehrerbedarfsprognosen hat, denn so fehlen plötzlich bis 2015 nicht maximal 1000 Lehrer, sondern 12.000 – und zwar Jahr für Jahr.

 

Vielleicht verfluchen die Ministerpräsidenten ja angesichts der enormen Steuerausfälle mittlerweile ihre eigene Courage von damals. Umso wichtiger ist es, dass Bildungsforscher Klemm sie mit seiner aktualisierten Prognose an ihre Selbstverpflichtung erinnert. Womöglich aber sind die Landespolitiker auch gar nicht so unglücklich über die neuen Zahlen, liefert der absehbare Lehrermangel ihnen doch die perfekte Ausrede: Angesichts der gegenwärtigen Absolventenzahlen wird es ihnen faktisch unmöglich sein, ihre Zusagen zu erfüllen – zu ihrem großen Bedauern, versteht sich.

 

So könnte Klemms ursprüngliche Vorhersage von einem Ausgleich zwischen Stellen und Bewerbern ironischerweise doch noch Wirklichkeit werden. 

 

Wahr ist allerdings auch: Trotz stärkstem Lehrermangel werden nicht alle Absolventen einen Job finden. Ihre berufliche Zukunft hängt von ihrer Fächerkombination ab und der studierten Schulform. So werden es Mathe- und Physiklehrer auf jeden Fall viel leichter haben als etwa Studienräte für Deutsch und Geschichte. Dabei spielt keine Rolle, ob nun 1000 Lehrstellen im Jahr unbesetzt bleiben – oder doch 12.000.

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