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Diskussion über Nahostkonflikt an Hochschulen: Drei Viertel der Forschenden berichten von Selbstzensur

Seit dem Hamas-Angriff auf Israel hat sich die Diskussionskultur an deutschen Hochschulen massiv verändert. In einer Umfrage berichten Forschende von Selbstzensur, Anfeindung und einer bedrohten Wissenschaftsfreiheit.
Eine Gruppe von vier jungen Menschen hält sich leere Sprechblasen vor das Gesicht.

Symbolbild: Freepik.

PROPALÄSTINENSISCHE PROTESTCAMPS werden von der Polizei geräumt; gegen israelische Wissenschaftsinstitutionen wird zum Boykott aufgerufen; der Auftritt der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese an der Freien Universität Berlin wird heftig kritisiert: Deutschlands Hochschulen und Wissenschaft stecken mitten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Israels militärisches Vorgehen im Gazastreifen nach den Hamas-Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023.

Eine bundesweite Studie von Forschenden der FU Berlin, die am 14. September online erschienen ist, zeigt nun, wie stark diese Konflikte den wissenschaftlichen Alltag verändern: Knapp 85 Prozent der Befragten gaben an, die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit habe seit dem 7. Oktober zugenommen, drei Viertel berichten von Selbstzensur, fast ein Viertel fühlt sich nicht frei, die eigene Meinung offen zu äußern.

Gefühl der Bedrohung

"Die Einschätzung der Befragten ist fast durch die Bank, dass sich das Debattenklima negativ entwickelt hat", sagt Projektleiter Jannis Julien Grimm. "Man fühlt sich bedroht und betreibt deshalb in hohem Maße Selbstzensur." Die Studie beruht allerdings nicht auf einer repräsentativen Zufallsauswahl, sondern auf einem gezielten Sample von Wissenschaftler:innen, die zu Israel oder Palästina forschen oder lehren. Eingeladen zur Online-Befragung wurden über 2100 Personen, 477 nahmen teil – eine Rücklaufquote von knapp 22 Prozent. "Das heißt, systematische Verzerrungen sind nicht ausgeschlossen, weil sich womöglich besonders Betroffene beteiligt haben", räumt Grimm ein. Gleichwohl sei die Heterogenität der Antworten groß, und die Befunde deckten sich stark mit Referenzstudien aus den USA.

Schere im Kopf

Berücksichtigt wurden Forschende aus Disziplinen wie Arabistik und Islamwissenschaft, Kultur- und Politikwissenschaft, Jüdischen Studien, Migrations- und Rassismusforschung, Publizistik sowie der Friedens- und Konfliktforschung, sofern ein klarer Bezug zu Israel/Palästina oder zur MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) bestand. Ausgeschlossen blieben Personen mit nur randständigem thematischem Bezug sowie Studierende und Hilfskräfte ohne eigene wissenschaftliche Tätigkeit.

Die Schere im Kopf sei dabei zwar kein einseitiges Phänomen, sagt Grimm: Manche vermieden Kritik an Israel, andere übten Zurückhaltung bei Unterstützungsbekundungen für die israelische Politik. Allerdings zeige die Studie schon eine gewisse Schieflage. "Das Bedürfnis zur Selbstzensur ist eindeutig dort am größten, wo es um Kritik an Israel und Solidarität mit Palästina geht, obwohl die Mehrzahl diesen Protesten positiv gegenübersteht."

Keine vorschnellen Diagnosen

Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick, nicht an der Studie beteiligt, sagt, methodisch habe die Umfrage zwar Grenzen, worauf die Autoren auch selbst hinwiesen. Ihre "sorgsam ausgewiesenen" Ergebnisse böten aber eine gute Gelegenheit, um die Hintergründe der Selbstzensur an Hochschulen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu diskutieren und zu erkunden. "Vorschnelle Diagnosen und die Meinung, dass sich das beruhigt, sind nach den Daten der falsche Weg."

Ähnlich urteilt der ebenfalls nicht an der Studie beteiligte FU-Politikwissenschaftler Heiko Giebler: Die Studie gebe Hinweise auf ein Stimmungsbild, doch die Stichprobe sei selbst für die angestrebte Zielgruppe nicht repräsentativ.

Hinzu komme die grundsätzliche Problematik retrospektiver Umfragen: "Die Erinnerung an die Zeit vor dem 7. Oktober wird immer von verzerrten Erinnerungen und der heutigen Wahrnehmung überlagert sein. Umgekehrt gilt: Wenn Dreiviertel der Befragten von einer Selbstzensur berichten und 85 Prozent sagen, die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit habe zugenommen, dann ist das ein Hinweis, den man ernst nehmen sollte."

Ein Klima der Vorsicht

Die Studie zeigt ein Klima der Vorsicht. 75,6 Prozent der Befragten gaben an, sich bei Israel-Palästina-Themen in irgendeiner Form selbst zu zensieren. 23,9 Prozent sagen, dies sei oft der Fall. Von Letzteren berichten wiederum über 90 Prozent, sie hätten negative Erfahrungen gemacht, die sie auf ihre Arbeit zu Nahost-Themen zurückführen. "Ich kenne keine Kollegin, keinen Kollegen, die zu Themen mit Nahostbezug arbeiten, die nicht in irgendeiner Form betroffen sind – sei es durch Selbstbeschränkung, Hate-Mails, Einschüchterungen oder berufliche Nachteile", sagt Grimm. Nach seinen Worten ist die Bedrohung "disziplin- und statusgruppenübergreifend", wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Postdocs berichten mit 90,5 Prozent am häufigsten von einer Verschärfung der Bedrohungslage, auch Doktorandinnen und Doktoranden sind stark betroffen. "Die größte Bedrohung verspüren diejenigen, die am prekärsten beschäftigt sind und dadurch am meisten zu verlieren haben", sagt Grimm.

Angst vor Anfeindungen

In den Kulturwissenschaften sowie in Arabistik und Islamwissenschaft liegt die Selbstzensurquote bei über 75 Prozent. Doch auch in Jüdischen Studien, Antisemitismus- und Rassismusforschung zeigen sich hohe Werte. Die Gründe sind nicht einheitlich: Die meisten Befragten fürchten weniger direkte Gewalt, sondern den öffentlichen Umgang mit ihren Aussagen. Über 60 Prozent nannten "Sorge vor Missverständnissen oder Fehlinterpretationen" sowie "Sorge vor öffentlicher Anfeindung" als Hauptgründe für ihre Zurückhaltung. Deutlich seltener gaben sie die Reaktion von Studierenden (24,8 Prozent) oder Angst vor körperlicher Gewalt (21 Prozent) an. "Es sind vor allem die öffentliche Exposition und die Folgen davon, die den Befragten Sorgen bereiten", betont Grimm.

Über die Disziplinen hinweg gibt es an vielen Stellen größere Übereinstimmungen, als es die polarisierten öffentlichen Debatte es manchmal vermuten lassen. So sprachen sich über 90 Prozent für einen Waffenstillstand im Gazakrieg aus – unabhängig von ihrer Grundhaltung. Ebenso viele befürworteten den besonderen Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Ein akademischer Boykott Israels wird dagegen von über 80 Prozent abgelehnt. "Die Positionen sind häufig sehr viel differenzierter, als es dieses Lagerdenken insinuiert", sagt Grimm.

Empathie ungleich verteilt

Besonders nachdenklich stimmen auch Ergebnisse in der Umfrage, die Grimm als "Empathie-Gap" bezeichnet: Demzufolge schätzen Forschende, die stärkere persönliche Bezüge zu Palästina haben, die Bedrohung jüdischer Studierender geringer ein als jene mit starkem Bezug nach Israel. Oder sie finden gar, dass gerade jüdischen Studierenden sehr viel Empathie entgegengebracht wird im Gegensatz zu arabischen oder palästinensischen Studierenden. "Umgekehrt haben aber auch Israel-solidarische Personen die Erfahrungen palästinensischer Studierender nicht so im Blick und sind mitunter vor allem auf die mangelnde Empathie gegenüber jüdischen Studierenden fixiert", so Grimm.

Im Vergleich zu den USA, wo in ähnlichen Umfragen über 90 Prozent von Selbstzensur berichten, liegen die Ergebnisse der deutschen Befragung noch etwas niedriger. Grimm warnt dennoch: "Das Problem hat noch nicht die Dimensionen wie in den USA, aber wir nähern uns an."

Problem ernst nehmen

"Bevor man Lösungen findet, geht es erst mal darum, das Problem ernst zu nehmen“, sagt Grimm. Fachgesellschaften und Universitätsleitungen müssten "Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit in jeglicher Richtung entgegentreten". Als positives Beispiel nennt er die Freie Universität Berlin, die die Kritik an der Einladung von UN-Sonderberichterstatterin Albanese zu einem Konferenzworkshop vergangene Woche mit Verweis auf die Autonomie der Veranstalter zurückgewiesen und so den Dialog ausdrücklich zugelassen habe.

Auch konkrete Hilfen werden von den Befragten geschätzt: Über 70 Prozent bewerteten neue Beratungs- und Unterstützungsangebote – von psychologischer Hilfe über Trainings bis hin zu Dialogformaten – als hilfreich. Der Konfliktforscher Zick sieht darin erst den Anfang. "Die Studie könnte die Hochschulen motivieren, neue Räume und Formen der Bearbeitung dieser gefühlten Einschränkung zu schaffen – und für die Debatte um die Frage, wie politische Forschung angesichts der Weltlage sein kann oder sollte. Ansonsten bleibt es bei Polarisierungen, und die lauten und populistisch oder ideologisch getriebenen Kräfte dominieren die Stimmung an den Hochschulen."

Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.

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