Nida-Rümelin und der Akademisierungswahn: Er meint es ja gar nicht so 

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) berichtet von einem Treffen zweier Philosophen auf der Bildungsmesse didacta vor zwei Wochen. Der eine heißt Julian Nida-Rümelin und hält seit zwei Jahre mit regelmäßigen Wortmeldungen die Debatte vom "Akademisierungswahn" geschickt am Köcheln. Seine Kernthese: Zu viele Jugendliche wählen aus den falschen, ihnen von einer fehlgeleiteten Bildungspolitik eingeredeten Gründen ein Studium – mit dem Ergebnis, dass sie nicht zurechtkommen und gleichzeitig die Ausbildungsberufe unter Nachwuchsmangel leiden. Nida-Rümelins Gesprächspartner war Holger Burckhart, Rektor der Universität Siegen und als Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) für den Bereich Lehre zuständig.

 

Mein SZ-Kollege Johann Osel hat den beiden zugeschaut, und weil sie sich offenbar kaum gestritten haben, attestierte Osel Burckhart im Anschluss "eine wohltuend andere Rhetorik als die offiziellen Beschlüsse der Rektoren". Die offiziellen Beschlüsse und Verlautbarungen, das sind die, die eine Überakademisierung bestreiten und davor warnen, Studium und Ausbildung gegeneinander auszuspielen. Es gibt sie in unterschiedlichen Ausprägungen nicht nur von der HRK, sondern auch von der Bildungsgewerkschaft GEW, von den Arbeitgeberverbänden und von zahlreichen Bildungsexperten. 

Osels Schlussfolgerung nach dem Gespräch der beiden Philosophen: "Die Sorge über den Akademisierungswahn scheint den Status als Außenseitermeinung zu verlieren und langsam Konsens zu werden."

 

Eine gewagte These, die nur vor dem Hintergrund von Osels eigener Position zu erklären ist, die er ebenfalls seit geraumer Zeit mal explizit, mal implizit, aber immer hinlänglich eindeutig zu Protokoll gibt. Es ist wie so oft, wenn man sich seiner Sache allzu sicher ist (und ich selbst kenne das gut): Diejenigen, die sich im Sinne der eigenen Position äußern, sagen natürlich die Wahrheit. Diejenigen, deren Meinung davon abweicht, trauen sich nur nicht, die Schweigespirale zu überwinden und jenseits der "offiziellen Beschlüsse" Klartext zu sprechen. Der Konsens, den Osel beschreibt, ist einer solchen Logik folgend dann natürlich unwiderlegbar. 

Stärker als das Auszählen vermeintlicher Mehr- oder Minderheiten interessiert mich freilich etwas Anderes: Wie kann es sein, dass sich kluge Leute Gedanken gemacht haben um die vermeintliche oder tatsächliche Abschreckungswirkung von Studiengebühren und nicht erkennen, dass eine Debatte über Sinn und Unsinn des Studiums die viel krasseren Folgen für die Studienneigung junger Menschen aus Nicht-Akademikerhaushalten hat? Daran ändert auch nichts, dass Holger Burckhart laut SZ-Artikel Nida-Rümelin von allen Abschreckung-Absichten freispricht und sagt, als Befürworter einer "Abschottung" der akademischen Kaste habe er den Münchner Professor nie verstanden.

 

Burckhart fordert, man dürfe die Schüler „nicht mit Informationen füttern, füttern, füttern“, sondern müsse sie Interessen und Stärken entdecken lassen.  SZ-Autor Osel kommentiert: "Das heißt auch, dass Akademikerkinder nicht studieren, wenn ihnen eine Berufsausbildung besser liegt."

 

Sowohl die Forderung als auch ihre Kommentierung sind, gelinde gesagt, blauäugig. Die Studierneigung unter Akademikerkindern mit Abitur liegt zehn bis 15 Prozentpunkte über der von Nicht-Akademikern mit Abitur. Genau hier liegt doch das Kernkonflikt: Gehen wir von einer Normalverteilung von Intelligenz und Begabung aus, studieren schon jetzt zu viele nicht ausreichend begabte Akademikerkinder. Warum sie trotzdem an der Unis zurechtkommen, besser als ihre vielleicht sogar schlaueren Kommilitonen ohne denselben Bildungshintergrund? Weil sie das mitbringen, was meine alte Lateinlehrerin das "nötige Bildungshandtäschchen" nannte. Das übrigens größtenteils mit dem schon als Kind erlernten Bildungshabitus gefüllt ist. Anders formuliert: Man weiß, wie man sich zu verhalten hat, um in Akademikerkreisen Anerkennung zu finden.

 

Bringen wir es doch mal auf den Punkt: Es fehlen Azubis. Und das obwohl jedes Jahr zehntausende Jugendliche zur Verfügung stünden, würden sie nicht als "nicht ausbildungsreif" durchs Raster fallen. Es kann, es darf kein Ersatz sein, einfach die Lücke von der Abiturientenseite her zu füllen.


Nichts gegen Leistungsorientierung an den Hochschulen. Eine echte Leistungsorientierung wird jedoch zunächst einmal die akademischen Startnachteile in den Blick nehmen. Eine echte Leistungsorientierung wird umgekehrt dadurch ad absurdum geführt, dass man durch das Gerede von Akademisierungswahn noch mehr Nicht-Akademiker vom Studium abhält, während ihre Mit-Abiturienten, deren Mütter und Väter studiert haben, natürlich auch weiter wie selbstverständlich weiter an die Hochschulen strömen. Da kann man einem Nida-Rümelin noch so oft bescheinigen, er habe es ja gar nicht so gemeint. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Reinhard Kreckel (Samstag, 08 Oktober 2016 13:26)

    Lieber Herr Wiarda,
    man kann nur bekräftigen, was Sie sagen: Die "Begabungsreserven" liegen bei den Kindern aus bildungsfernen Haushalten. Im Umkehrschluss heißt das, falls es gelingt, da Abhilfe zu schaffen (wie es in Österreich der Fall zu sein scheint, was Sie in einem anderen Blog schön dokumentiert haben), dann dürfte die Abiturienten- und Studierendenquote in Deutschland noch weiter wachsen. Damit läge man allerdings weltweit im Trend, wie ein kurzer Blick in "Education at a Glance" der OECD eindrucksvoll belegt: In allen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern wird tertiäre Bildung zunehmend zum Bestandteil der Normalbiografie junger Menschen; Deutschland ist da keineswegs der Spitzenreiter. Diesen Trend kann man gar nicht aufhalten, selbst wenn man ihn als "Wahn" abstempeln möchte.
    Selbstverständlich gerät das deutsche Duale Berufsbildungssystem dadurch unter Druck, auch wenn man es noch so sehr idealisieren mag, wie Nida-Rümelin das tut. Man kann nicht dorthin zurückkehren. Man kann allenfalls versuchen, Elemente davon ins Hochschulsystem zu überführen, wie es an Berufsakademien, Dualen Hochschulen und Fachhochschulen bereits versucht wird.
    In einem kleinen Aufsatz habe ich einmal einige Argumente zusammengetragen, die in diese Richtung zielen(www.researchgate.net/profile/Reinhard_Kreckel2/publication/301217565_Akademisierungswahn_Anmerkungen_zur_Aktualitat_einer_immer_wiederkehrenden_Kontroverse_aus_der_Sicht_der_Hochschulforschung/links/570cf4a608aec783ddcda30f.pdf).
    Beachten Sie dort auch die etwas versteckte Fußnote 2, in der sich ein kleiner Hinweis auf einen recht dubiosen historischen Vorläufer der Akademiserungswahn-These findet.
    Herzliche Grüße,
    Reinhard Kreckel

  • #2

    GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:23)

    1