Stefan Kühl: Ich bin Teil-Befürworter von Bologna

Gestern meldete sich Stefan Kühl bei mir. Sie wissen: Das ist der Organisationssoziologe von der Universität Bielefeld, der mit am ausdauerndsten, aber auch am klügsten gegen die Bologna-Studienreform anschreibt. Zum Beispiel mit seinem Buch "Der Sudoku-Effekt", in dem er die Überbürokratisierung der Hochschullehre beklagt. In meinem ZEIT-Artikel vom vergangenen Donnerstag hatte ich ihn als "eine Art Chefideologen der Bologna-Gegner" bezeichnet. So lobt ihn zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister und bekennender Diplom-Fan Mathias Brodkorb für seinen "klaren Blick" und die „große Leistung, das Bologna-Problem mal vernünftig aufzudröseln“. Stefan Kühl schreibt mir nun, die Lektüre meines Artikels habe ihn zum Nachdenken gebracht. Eigentlich sei er ja ein "(Teil-)Befürworter" der Reform. Ein erstaunliches Bekenntnis. Und ganz sicher einen Gastbeitrag wert. Herr Kühl hat mir erlaubt, seine Mail hier zu veröffentlichen. 

 


Begriffsschimäre Bologna?
Von Stefan Kühl

 

Könnte es sein, dass Bologna inzwischen zu einer Begriffsschimäre verkommen ist auf die alles mögliche gute und schlechte zugerechnet wird? Personen die sich zur Hochschulpolitik äußern, werden dann entweder den Bologna Gegnern oder den Bologna Befürwortern zugerechnet (oder rechnen sich selbst den Bologna-Gegnern oder den Bologna-Befürwortern zu).

 

Würde es nicht Sinn machen, die ganze Diskussion in Bezug auf Bologna breit aufzufächern? So lässt sich die Bologna Reform (oder das was unter dem Label der Bologna Reform diskutiert wird) in drei verschiedene Aspekte unterteileln:

1. Vergabe eines ersten Studienabschlusses nach drei oder vier Jahren (also zu einem Zeitpunkt, bei dem bei den Master- und Diplomstudiengängen bisher lediglich eine Zwischenprüfung stand)

2. Einführung eines Berechnungssystems zur Studiengangsplanung und zur Studiengangsgestaltung.

3.Ausrichtung des ersten Studienabschnitts auf eine Berufsorientierung. 

 

Diese verschiedenen Aspekte werden in der Diskussion über Bologna häufig zu schnell miteinander vermischt. Meine Vermutung ist, dass die positiven Effekte der Bologna-Reform (höhere Abschlussquote, höhere Mobilität der Studierenden) fast ausschließlich auf die Einführung eines ersten Studienabschnitts nach drei oder vier Jahren zurückzuführen ist, während die negativen Effekte wie Verschulung und Bürokratisierung ungewollte Nebenfolgen der ECTS-Punkte sind (Berufsorientierung lassen wir mal weg, der Gedanke war so pauschal immer naiv). 

 

Diese Differenzierung könnte erklären, weswegen in dem Zeitartikel von den Gesprächspartnern so unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Aussagen zur Bologna Reform abgegeben wurden: Irgendwie findet man vieles nicht gut, aber mag auch nicht gegen die ganze Reform sein.

 

Was bedeutet das konkret? Es macht vermutlich keinen Sinn, die Beteiligten an der hochschulpolitischen Debatte in Bologna-Befürworter und Bologna-Kritiker einzuteilen. Mein Vorschlag wäre stattdessen eine Differenzierung anhand der drei zentralen Komponenten der Bologna Griff vorzunehmen. 

 

Was käme dabei heraus? Ich bin (Teil-)Bologna-Befürworter, der jedoch bei den Bologna-Euphorikern kritisiert, dass sie nicht erkennen, dass sie eine gute Idee (ein Zwischen-Studienabschnitt) mit einer schlechten Idee (ECTS-Punkte) konterkarieren.

Haben Sie Lust, mit Stefan Kühl und mir über die Studienreform zu diskutieren? Kann man (Teil-)Befürworter von Bologna sein, wenn man Kreditpunkte und Module ablehnt? Und ist die Debatte über die Studienreform unnötig polarisierend? Schreiben Sie Ihre Meinung!

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Kommentare: 2
  • #1

    Christian Maxwill (Mittwoch, 22 Juni 2016 20:39)

    Ich gebe Stefan Kühl recht: die Aufteilung in Bologna-Gegner und –Befürworter sollte man langsam hinter sich lassen. Dafür steht „Bologna“ für viel zu vieles und droht dadurch, zur leeren Worthülse zu werden. Auch die Dreiteilung von ihm reicht mir da bei weitem noch nicht aus. Es scheinen mir nicht nur die ECTS-Punkte Ursache für die Überbürokratisierung zu sein, da gibt es noch andere Beispiele.

    Aber ich fange mit den ECTS-Punkten an: die Idee, Transparenz für Studierende zu schaffen und Studiengangs-Entwickler aufzufordern, sich mit dem Thema „Workload“ auseinanderzusetzen ist gut. Die ungewollten bürokratischen Nebeneffekte beschreibt Stefan Kühl mit seinem Sudoku-Effekt.

    Ähnliches lässt sich etwa auch sagen über die Kompetenzorientierung: ein Instrument, das dazu anregen kann, über Studiengänge, die Rolle von Studierenden und Lehrenden anders nachzudenken und mit Kollegen über die Ziele des Studiums zu diskutieren. So passiert es auch im besten Fall. Aber was kommt in vielen Fachbereichen an und was ist häufig die erste Berührung mit dem Thema? Eine Auflage in einem Akkreditierungsverfahren, das die Lehrenden auffordert, ihre Module kompetenzorientiert zu beschreiben. Das wird dann zähneknirschend gemacht, die richtigen (kompetenzorientierten) Verben werden integriert und die in dem Prozess schlummernde Kreativität erstickt.

    Beispiel Programmakkreditierungsverfahren: der kritische Blick von Peers, Studierenden und Praktikern und die Diskussion mit ihnen werden von vielen Studiengangsleitern und Lehrenden geschätzt. Aber überlagert wird ein solches Verfahren von ärgerlich vielen Dokumentationspflichten, häufig blumiger Antragsprosa und dem Versuch, Mängel zu verschleiern.
    Das alles ließe sich unter dem Label „Bologna“ vereinen und hat im Kern gemein, dass gute Ideen zur Förderung von Qualitätsentwicklung auf ungewollte Nebeneffekte (Bürokratisierung) treffen.
    Und so finde ich Stefan Kühls Position, sowohl Bologna-Befürworter als auch Kritiker zu sein, absolut logisch. Vielleicht liegt darin ja die Chance, konstruktive Diskussionen über die Zukunft von Bologna zu führen.

  • #2

    Klaus Diepold (Freitag, 24 Juni 2016 17:14)

    Ich kann dem Beitrag von Stefan Kühl und den Ausführungen von Christian Maxwill weitgehend zustimmen. Ich freue mich, wenn die Diskussion um Bologna ein neues Level erreichen kann. Ich habe den Eindruck, dass zunehmend alles was in unserer Bildungslandschaft nicht passt Bologna in die Schuhe geschoben wird. Das bringt uns aber auch nicht vorwärts.

    Es gibt aber immer ein paar Punkte, wegen derer ich die leidenschaftliche Debatte der Vergangenheit, und auch der Gegenwart nicht verstehe. Ich greife mal die ECTS auf, die oft als das Kernstück der Bürokratisierung betrachtet wird. Aus meiner Sicht macht es perfekten Sinn diese neue Währung zur Berechnung eines Studienumfangs zu verwenden, insbesondere in Zeiten, wo engagierte Hochschullehrer neue Methoden des Lehrens einsetzten wollen. Das hat häufig zur Folge hat, dass Studierende ausserhalb des Hörsaals stärker beansprucht werden. Um diesen Veränderungen Rechnung zu tragen, sie zu ermöglichen, zu unterstützen oder gar zu ermutigen ist eine ECTS Rechnung sehr gut geeignet. Auch für die Einführung alternativer Methoden der Studienfortschrittskontrolle (als Ersatz für das Zählen/Beschränken von Wiederholungsprüfungen) oder aber vor allem für die Erleichterung der Anerkennungspraxis taugt ECTS deutlich besser als die Systeme der Zeit vor Bologna. Wenn Bürokratie mit ECTS verbunden wird, dann liegt das nach meinem Eindruck an der jeweiligen Interpretation und der lokalen Umsetzung in die Lehrpraxis und nicht an ECTS an sich.

    Auch bei der Frage der Kompetenzorientierung konnte ich seinerzeit (und häufig auch noch heute) feststellen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen damit schwer tun. Das liegt aber nicht daran, dass die Kompetenzorientierung an sich schlecht ist, sondern, dass der deutsche Professor in der Masse zu träge und zu unwillig ist, sich in Lehrangelegenheiten professionell zu verhalten und neue Dinge zu lernen und anzuwenden. Insbesondere die kreative Nutzung neuer Möglichkeiten und bestehender Freiheitsgrade für die Ausgestaltung neuer Studienkonzepte lässt zu wünschen übrig.

    Wenn im Kontext Bologna Fehler gemacht wurden, dann ist ein Punkte, dass es dazu keinen echten Veränderungsprozess gab und dass die Hochschullehrer sich von der Politik übergangen und weitgehend entmündigt fühlten. Die Politiker dachten durch strikte Vorgaben das renitente Kind (= Hochschullehrer) zu beugen und haben damit das Kind trotzig gemacht. Entsprechend dieser neuen Rolle haben dann viele Kolleginnen und Kollegen die im Grunde positiven Entwicklungen aus Bologna unterlaufen und dann schlecht geredet.

    Ich habe den Prozess an meiner Uni als Verantwortlicher meiner Fakultät im Detail durchlaufen und neuen Studiengänge gebaut. Viele Dinge sind noch verbesserungswürdig, keine Frage und ich hasse Bürokratie, vor allem in der Lehre. Aber ich bin auch für Transparenz dankbar und für den Willen zum konstruktiven Gestalten. Es gibt auch andere sehr spannende Aspekte von Bologna, die wir noch kaum genutzt haben, so z.B. die Schaffung völlig neuer Bildungsbiografien durch Studienfachwechsel beim Übergang von BSc zu MSc. Dazu muss die deutsche Hochschullandschaft noch einen großen Schritt machen. Mal sehen ...

    Zuletzt: Ein Zurück zum Diplom ist keine Alternative, sondern lediglich 68er Bildungsromantik.