Sechs Lehren aus dem IQB-Bildungstrend 2015

Foto: Dennis Skley ("LEK mich doch 244/365“, CC BY-ND 2.0)

 

Johanna Wanka (CDU) war die erste. "Investitionen in Bildung zahlen sich aus!" verkündete die Bundesbildungsministerin, obwohl sie mit den Ergebnissen des am Freitag veröffentlichten Ländervergleichs am wenigsten zu tun hat. Investitionen, ein Stichwort, das der bildungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Özcan Mutlu, dennoch nur allzu gern aufgriff und wörtlich nahm: Angesichts der nachgewiesen ungleichen Bildungschancen "brauchen wir eine Bildungsoffensive, die flächendeckend ein inklusives und chancengerechtes Bildungssystem schafft." Dafür sei die Abschaffung des Kooperationsverbots notwendig, und dagegen solle Ministerin Wanka endlich ihren Widerstand aufgeben. Der Dauerbrenner also. Spiegel Online wiederum titelte: "Baden-Württemberg schmiert ab", und der Tagesspiegel wusste schon am Tag vor der Veröffentlichung: "Berlins Schulen fallen weiter zurück." Ganz anders Schleswig-Holstein: Die Neuntklässler im äußersten Norden "gehören zur Spitzengruppe der besten drei Länder", frohlockte Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). "Ich freue mich riesig über das beeindruckende Ergebnis."

Schauen wir nun nochmal mit einem Wochenende Abstand auf den Ländervergleich, den das eigens zu diesem Zweck gegründete Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) verantwortet. Der Abstand hilft, nach dem Getöse all der eilig herausgeblasenen Pressemitteilungen und teilweise doch arg zugespitzten Zeitungsmeldungen die Frage zu beantworten, welche Schlussfolgerungen sich denn nun wirklich aus den Ergebnissen ziehen lassen. Eine Bilanz des "IQB-Bildungstrends 2015" in sechs Punkten. 

1. Das Messinstrument ist akzeptiert
Eine Erkenntnis, die am Freitag keiner mehr für erwähnenswert gehalten hat, und doch ist sie bei genauerem Hinsehen alles Andere als trivial. In der erziehungswissenschaftlichen Debatte haben die Angriffe auf das Kompetenz-Paradigma, das seit Pisa die Bildungspolitik bestimmt, zuletzt wieder zugenommen. In der ZEIT vom vergangenen Donnerstag etwa schimpfte Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes: Statt sich um eklatante Fehler zu kümmern, weicht die Politik auf Kompetenzen-Gewäsch aus." Die Schüler, so lautet der gängige Vorwurf, hätten enorme Wissenslücken, aber in den Bildungsstandards sei dann von der "Identifikation von Verstehensbarrieren" (das aktuelle Beispiel von Josef Kraus) als zu erlangende Kompetenzen die Rede. Doch ändern solche Vorwürfe nichts daran, dass der Konsens in der Bildungspolitik, mithilfe externer Vergleichsarbeiten den Leistungsstand an den deutschen Schulen zu erheben und zu vergleichen, nie so ausgeprägt war wie heute. 37.000 Neuntklässler aus 1714 Schulen in allen 16 Bundesländern haben diesmal an den repräsentativem Vergleich teilgenommen, getestet wurden das Hör- und Leseverstehen in Deutsch und Englisch, dazu die Rechtschreibung in Deutsch. Einige Länder haben zusätzlich noch das Hör- und Leseverstehen im Fach Französisch ermitteln lassen. Und die Ergebnisse werden von der Politik akzeptiert, sie stellt nicht die Erhebungsmethoden in Frage – selbst wenn einige Länder sich ein besseres Abschneiden ihrer Schüler gewünscht hätten. Denn bei allen (berechtigten) Fragen an den Kompetenzbegriff: Er ist der beste Indikator, den wir haben, um Schulen in ihre Leistungsfähigkeit vergleichen zu können, und die Ergebnisse sind zumindest so valide, dass die Missstände und die Stärken unseres Schulsystems heute viel transparenter aufscheinen als vor 15 oder 20 Jahren. Mit der Transparenz schließlich hat der Druck auf die Bildungspolitik zugenommen, etwas an den Schwächen zu ändern. Was sich wiederum in den vergangenen Jahren in den besseren Pisa-Ergebnissen widergespiegelt hat. 

 

2. Gute Schulen sind keine Frage der Himmelsrichtung mehr – höchstens ein bisschen
Noch vor zehn, zwölf Jahren war die Sache ziemlich einfach: Je weiter man gen Süden ging, desto leistungsstärker wurden die Schüler, und in der ersten Reihe hockten immer die Bayern und Baden-Württemberger. Dass die Wirklichkeit etwas komplexer ist, wurde spätestens beim ersten IQB-Ländervergleich 2010 deutlich, in dem sich die ostdeutschen Bundesländer, allen voran Sachsen und Thüringen, gegenüber früheren Vergleichen nach vorn schoben. Umso überraschender, dass alle so überrascht taten am Freitag angesichts des Ausmaßes, in dem Baden-Württembergs Neuntklässler abgerutscht sind – war der Südweststaat doch schon seit dem ersten Ländervergleich vor 15 Jahren ganz allmählich, aber stetig nach hinten durchgereicht worden. Dass Schleswig-Holstein es diesmal beim Lesen und Hörverstehen jeweils in Deutsch und Englisch unter die Top 3 schafft, war hingegen wirklich so nicht vorhersehbar und ist eine großartige Steigerung. Gute Schulen sind also keine Frage der Himmelsrichtung (mehr)  – selbst der vielgelobte Osten offenbart die gewohnten Schwächen: Zwar liegen sämtliche ostdeutsche Bundesländer bis auf Sachsen-Anhalt bei Deutsch in der ersten Tabellenhälfte. Doch das umgekehrte Bild bietet sich beim Hörverstehen in Englisch, hier macht der Osten die letzten Plätze unter sich aus, auch wenn die Kultusminister zu Recht den Aufwärtstrend bei den Englischkompetenzen in den neuen Bundesländern loben. Keine Frage der Himmelsrichtung, sehr wohl aber eine von Stadt versus Land: Die Stadtstaaten Berlin und Bremen sind in praktisch allen Leistungsbereichen (bis aufs Hörverstehen Englisch) extrem schwach. Dass es anders geht, zeigt Hamburg, das es bei Deutsch ins Mittelfeld schafft und bei Englisch sogar auf Platz zwei liegt. Womit  die an sich richtige Schlussfolgerung von Özcan Mutlu etwas relativiert wird. "Länder, in denen viele Kinder mit Migrationshintergrund unterrichtet werden, liegen auf den hinteren Rängen", sagt der grüne Bildungssprecher zu Recht. Wer das im Hinterkopf behält, kann die Ergebnisse der Hansestadt gar nicht hoch genug bewerten. 


3. Zweigliedrigkeit, Dreigliedrigkeit: Es kommt nicht darauf an
Wenn die Vergleichstests eines deutlich machen, dann dieses: Es spricht nichts dagegen, das traditionelle dreigliedrige Schulsystem durch ein Zweigliedriges zu ersetzen, wie es in den allermeisten Bundesländern mittlerweile passiert ist. Allerdings, zumindest beim Blick auf die Schülerleistungen, auch nicht wirklich etwas dafür: Während Bayern noch Hauptschulen hat (und diese zum Teil nur anders nennt), hat Schleswig-Holstein längst umgestellt, und Baden-Württemberg wiederum befindet gerade erst im Prozess der Umstellung, was die schlechten Ergebnisse (noch) nicht verursacht haben kann. Insofern, weil es so viel Unruhe ins System bringe, ruft IQB-Chefin Petra Stanat die Bundesländer auf, sich solche grundlegenden Veränderungen sehr gut zu überlegen. Und dennoch, wenn Manuel Hagel, Generalsekretär der baden-württembergischen CDU, in der Südwestpresse von "einem Armutszeugnis für fünf Jahre rot-grüne Bildungspolitik", spricht, handelt er gleich doppelt vorschnell. Zum einen, weil sich der baden-württembergische Abwärtstrend wie gesagt seit vielen Jahren andeutete. Zum anderen, weil im Irrtum ist, wer die aktuellen Ergebnisse allein als Spiegel von vor kurzem getroffenen bildungspolitischen Entscheidungen betrachtet. Die Leistungen der Neuntklässler sind vielmehr die Summe der Schulwirklichkeit der vergangenen zehn Jahre. Anstatt sich also ständig über Strukturfragen zu streiten (inklusive der leidigen G8-/G9-Debatte), sollte sich die Schulpolitik und sollten sich die Lehrer selbst lieber mit der Frage auseinandersetzen, welche Voraussetzungen guter Unterricht sonst noch hat. Keine neue Erkenntnis, aber doch eine, die allmählich mal verfangen sollte. 


4. Die Politik akzeptiert die Ergebnisse, übt sich aber immer noch in Ausreden
So, wie es Unsinn ist, wenn Lehrerverbände die Schulstruktur oder den Kompetenzbegriff für schlechte Schülerleistungen verantwortlich machen, so täte die Politik gut daran, ihrerseits nicht nach allzu durchsichtigen Ausreden zu suchen. Exemplarisch lässt sich das am Taktieren von Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) festmachen. Schon im Vorfeld der Veröffentlichung war klar, dass Berlin wieder schwach abschneiden würde, und so verfügte Scheeres einen Tag vorher noch rasch die Veröffentlichung der unter Verschluss gehaltenen Ergebnisse eines anderen Vergleichstests – Vera 8 aus dem Jahr 2014 – der ebenfalls äußerst mau ausfiel. Zwei schlechte Testergebnisse zum Preis einer Empörung, so lautete ihr allzu offensichtliches Kalkül. Und dann appellierte Scheeres laut Tagesspiegel auch noch an die Lehrer, sie sollten aus den schlechten Ergebnissen mehr Konsequenzen für die gezieltere Förderung der Schüler ziehen. Die implizite Botschaft: Die Lehrer sind schuld, nicht die Politik. Dass zum neuen Schuljahr fast jeder dritte in Berlin neu eingestellte Lehrer keine volle Pädagogenausbildung absolviert hat und dass an den Grundschulen 28 Prozent der neuen Lehrer Studienräte sind: kein Wort dazu von Scheeres. Dabei liegt genau hier einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den Bundesländern: Ob die Zahl der ausgebildeten Lehrer, ein vernünftig aufgebautes Lehramtsstudium, ein reichhaltiges Fortbildungsangebot, eine angemessene personelle Ausstattung und die Freiheit der Schulen, ihre eigenen Konzepte auszuprobieren: Das sind Bildungsforschern zu Folge die Faktoren, die über die Unterrichtsqualität entscheiden. Nicht in allen Punkten schneidet Berlin schlecht ab, in einigen sogar überraschend gut. Doch die Politik sollte aufhören, sich in Ausreden zu üben. It's the Rahmenbedingungen, stupid. Immerhin: In einer Pressemitteilung vom Freitag hörte sich Scheeres schon anders an als am Tag zuvor: "Allen voran müssen natürlich die Rahmenbedingungen in den Schulen weiter verbessert werden. Das beginnt bereits bei den Schulgebäuden und umfasst insbesondere die Ausstattung der Schulen mit ausreichend Lehrkräften." Na, dann mal los.  

5. Reform: Vom Trend- zum Schimpfwort
Mein Kollege Martin Spiewak schreibt in seiner klugen Analyse der IQB-Ergebnisse, der Grund für den Verfall der Leistungen in Baden-Württemberg liege am "bildungspolitischen Chaos", das nicht nur von einer politischen Partei zu verantworten sei: "Angefangen mit Annette Schavan (CDU) und ihrer überstürzten Schulzeitverkürzung" hätten alle Kultusminister der vergangenen Jahre durch erratische Entscheidungen zum Absturz beigetragen. Heike Schmoll kommt in der FAZ bezogen auf die gesamte Bundesrepublik zu einem ähnlichen Ergebnis: Weder politische Farben noch Schulstrukturen wie Mehrgliedrig- oder Zweigliedrigkeiten garantierten gute Ergebnisse. Während zum Beispiel Schleswig-Holstein seine Leistungen vor allem in Deutsch verbessert habe und sein zweigliedriges Schulsystem ruhig eingeführt habe, "ist der Wechsel in Berlin völlig misslungen." Mal abgesehen davon, dass IQB-Chefin Stanat erst neulich den Umbau des Berliner Schulsystems als "bemerkenswert ruhig" bezeichnet hat, hat Schmoll einen Punkt: "Bundesländer, die ihre Schulen von einer Reform zur nächsten treiben... , schwächen die Leistungsfähigkeit ihrer Schüler enorm." Wohl gemerkt: Sowohl Spiewak als auch Schmoll verurteilen nicht Reformen an sich, wogegen sie sich wenden, sind nicht durchdachte, übereilte und zu schnell aufeinander folgende Reformen. In der öffentlichen Debatte indes gehen solche Feinheiten schnell mal verloren, da heißt es dann schnell verkürzt, Reformen an sich brächten die Schulen aus dem inneren Gleichgewicht. Und tatsächlich: War der Begriff "Reformen" in den ersten Jahren nach dem so genannten Pisa-Schock von 2001 noch positiv besetzt, ist er jetzt fast ein Schimpfwort. "Bitte keine Experimente!" verlangt der Spiegel, und führt als Kronzeugen für seine Forderung den Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein an. Doch sagt, wenn man genau liest, auch Trautwein lediglich und zu Recht, Schulsysteme seien dann erfolgreich, "wenn die Verantwortlichen ambitionierte Ziele formulieren, den Unterricht in den Mittelpunkt stellen und überflüssige Reformen vermeiden." Kurzum; So, wie der Diskurs derzeit läuft, müssen wir aufpassen, dass das Wort "Reform" nicht vollends zum Unwort verkommt. Nichts ist schlimmer als ein Schulsystem, das nicht reformfähig ist, und schauen wir uns den erstaunlichen Aufstieg Deutschlands bei Pisa in den vergangenen 15 Jahren an, so hat das viel – eigentlich fast alles – mit irgendwelchen vorgenommenen Reformen zu tun. Das sollten wir ab und zu auch mal sagen – und nicht nur immer über die (zu vielen) Reformen klagen. Dass Reformen umgekehrt durchdacht sein sollten und ein Hin und Her alle zwei Jahre fatal ist, versteht sich von selbst. Dasselbe gilt für die von Spiewak angesprochene Schulzeitverkürzung: Sie mag überstürzt gewesen sein (ich bin da nicht mal so sicher), sie jetzt rückgängig zu machen, ist ganz sicher noch schlimmer. Die wichtigste Reform seit Pisa waren übrigens – siehe oben – die Vergleichstests an sich. 

6. Der neue alte Streit um Chancengerechtigkeit
"Nur die Hälfte deutscher Schüler erreicht Regelstandards", titelt die FAZ. Richtig, und doch: Wer behauptet, unsere Schulabgänger würden immer dümmer, wird durch die IQB-Ergebnisse mal wieder eines Besseren belehrt. Alle Bundesländer zusammengenommen verzeichnen die Bildungsforscher eine Stagnation bei den Leistungen in Deutsch und einen klaren Aufwärtstrend in Englisch. Sprich: Die Neuntklässler des Jahres 2015 können mehr als die Neuntklässler des Jahres 2009. All die Klagen über die immer schlechter werdenden Schulabgänger sind also unberechtigt, sie erklären sich ohnehin anders. Eine andere gefühlte Wahrheit des deutschen Schulsystems hat sich dagegen leider erneut als handfest erwiesen: Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schülerleistungen ist gegenüber 2009 insgesamt kaum geringer geworden. Wer gut gebildete Eltern hat, der lernt immer noch im Schnitt besser schreiben und lesen und Englisch verstehen. Heißt das, dass die Bildungspolitik nun die Bemühungen noch verstärken wird, die Schieflage zu beseitigen? Nicht zwangsläufig, denn im gleichen Maße, wie Baden-Württemberg abgestürzt ist, gibt es Druck von der anderen Seite. Formuliert hat ihn ausgerechnet die liberale Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar: Das mittlerweile zu viele Schüler aufs Gymnasium drängten, bestreite kaum jemand, kann man dort nachlesen. Zweifellos werde fortan der Fokus der Bildungspolitik nicht mehr "wie bei Grün-Rot auf dem Mitnehmen von schwächeren Schülern liegen, nicht mehr auf der Bildungsgerechtigkeit. Im Mittelpunkt wird eindeutig stehen: der Leistungsgedanke." Ein so verbreitetes wie fatales Missverständnis, denn Bildungsgerechtigkeit und Leistungsgedanke sind eben keine Gegensätze, sondern sie bedingen sich: Nur wenn gleiche Bildungschancen herrschen, können Schüler ihre Leistungen vollkommen entfalten. Und nur wenn Lehrer auf das Potenzial der einzelnen Schüler achten, profitieren die Starken wie die Schwachen. Ich fürchte jedoch, dass solche Argumente verhallen werden angesichts der Rufe, jetzt müssten endlich mal wieder die Leistungsstarken in den Vordergrund rücken. Es wäre – ganz in der Tradition jener, die jetzt "die Reformen" an sich zum Grund allen Übels erklären, eine weitere Rolle rückwärts.

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