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Der kühle Blick

Hamburgs Schulsystem war lange ein Sorgenkind, seit einigen Jahren aber geht es steil bergauf. Das hat viel mit Bildungssenator Ties Rabe zu tun – und seinem Glauben an die Macht der Daten.

Ties Rabe. Foto: Michael Zapf.
Ties Rabe. Foto: Michael Zapf.

AM 21. MÄRZ setzte Ties Rabe einen Tweet ab, seinen einzigen in den letzten vier Monaten. Er lautete: "Sieben Jahre Schulsenator und seit heute bin ich dienstältester Schulminister Deutschlands." Ein Bildungspolitiker in Angeberlaune? Nicht ganz, denn dann folgte Rabes eigentliche Botschaft: "Kein Grund zu triumphieren - denn es tut Schulen nicht gut, wenn alle zwei Jahre der Minister wechselt und das Ministerium alles neu erfindet." Rabes Philosophie, in 280 Zeichen.

 

Seit 2011 ist Ties Rabe Bildungssenator in Hamburg, eine halbe Ewigkeit in diesem Amt: In zehn der 16 Bundesländer ist das Schulministerium in den letzten zwei Jahren neu besetzt worden. Seit drei Jahren ist Rabe zusätzlich Sprecher aller SPD-Kultusminister. Er gilt als mächtigster Bildungspolitiker, den die Sozialdemokraten zurzeit haben. Und mit Sicherheit als der erfolgreichste, seit die Hansestadt in den nationalen Bildungsvergleichen nach oben drängt. Er ist der Mann, der neben Bundesbildungsministerin Anja Karliczek in den Pressekonferenzen sitzt, wenn Bund und Länder ihre gemeinsamen Bildungsinitiativen diskutieren, vom Digitalpakt bis zum geplanten Bildungsrat. Meist muss er nur ein paar Sätze sagen und schon gehen alle schwierigen Journalistenfragen an ihn. Denn kaum ein Minister kennt sich so gut aus wie er. Dabei begreift der Mann mit der schwarz umrandeten Brille und den stets korrekt sitzenden Krawatten sich selbst vor allem als eines: als Lehrer. Als Studienrat für Deutsch, Geschichte und Religion.

 

Dass an den Schulen der Hansestadt etwas Bemerkenswertes vor sich geht, beobachten Bildungsforscher schon länger. Trotzdem waren viele überrascht, als beim letzten Bundesländervergleich herauskam, dass die Viertklässler überall schlechter lesen konnten als fünf Jahre zuvor - nur in Schleswig-Holstein und Hamburg nicht. Die Hamburger Neuntklässler, früher auf ähnlich schwachem Niveau wie ihre Altersgenossen aus Berlin oder Bremen, haben es in Deutsch ins Mittelfeld geschafft und liegen bei Englisch bundesweit sogar auf Platz zwei.

 

Baden-Württemberg lernt von Hamburg:
Vor Jahren wäre das noch undenkbar gewesen

 

Es sei "bemerkenswert, wie gut Hamburg sich insgesamt entwickelt hat", sagt Petra Stanat, die Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Inzwischen setze sich die Hanse-metropole immer deutlicher von den anderen beiden Stadtstaaten ab, obwohl diese eine ähnliche Schülerschaft hätten. Plötzlich fragen sogar Schulpolitiker aus dem Süden der Republik im Norden nach, wie sie das hinbekommen haben. Baden-Württemberg lernt von Hamburg: Vor Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

 

Natürlich wäre es zu einfach, Hamburgs erstaunlichen Aufstieg allein mit seinem Bildungssenator zu erklären. Denn der hat auch schlicht Glück gehabt. Die schwarz-grüne Vorgängerregierung hatte die sechsjährige Primarschule einführen wollen, was zu einem Entrüstungssturm im Bildungsbürgertum führte und 2010 zu einer verlorenen Volksabstimmung. Wenig später zerbrach die Koalition - und die Wahlen brachten eine SPD-Alleinregierung ins Amt. Das Wort der Stunde hieß "Schulfrieden", und der neue Regierungschef Olaf Scholz spendierte über die Jahre mehr als 2,5 Milliarden Euro für Schulsanierungen und 2500 zusätzliche Lehrerstellen, die Rabe für kleinere Klassen sowie den Ausbau von Ganztag und Inklusion nutzte.

 

Andere wichtige Weichenstellungen haben bereits Rabes Vorgänger vorgenommen: etwa das, was Forscherin Stanat die "Etablierung eines Systems der Qualitätsentwicklung" nennt, das jetzt "Früchte getragen" habe. Dass die Bundesländer den Lernstand ihrer Dritt- und zumeist auch Achtklässler in Vergleichsarbeiten erheben, ist inzwischen bundesweit Standard. Doch in seiner stoischen Gradlinigkeit und mit einem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Daten hat Rabe das System der Standardtests zu einem Grad ausgebaut, der deutschlandweit seinesgleichen sucht.

 

In Hamburg müssen die Schüler zusätzlich in den Klassen zwei, fünf, sieben und neun zu landesweiten Vergleichsarbeiten antreten. Die Behörde sammelt weitere Leistungsdaten der Schulen, den Unterrichtsausfall etwa oder die Zahl der Schulabbrecher. Doch entscheidend, sagt der Senator, seien nicht nur die Daten, sondern das, was man damit mache: kein medientaugliches Schulranking, sondern eine Rückmeldung für jede Schule und jeden Lehrer. "Wir schauen genau hin, stellen die Schulen nicht an den Pranger, aber lassen sie auch nicht allein", sagt Rabe, der sein System "freundliche Belagerung" nennt. Spätestens alle zwei Jahre schauen externe Experten für eine Schulinspektion vorbei.

 

Apropos vorbeischauen: Jeden Freitag besucht der Senator selbst eine Schule, setzt sich in den Unterricht, trifft sich mit der Schulleitung zum Vieraugengespräch und mit dem ganzen Kollegium zur Konferenz. "Manchmal wünschte ich mir, dass einige Lehrkräfte dabei noch etwas offener in ihrer Kritik wären", sagt Rabe.

 

Dass sie es nicht sind, hat allerdings auch mit der Persönlichkeit des Senators zu tun. Er ist nicht gerade der Typ Menschenfänger. Seine Kultusministerkollegen sagen, er sei "extrem kenntnisreich" und "analytisch stark", "vermutlich der klügste unter uns". Sie sagen aber auch, dass Rabe distanziert herüberkomme und besserwisserisch. "Ich finde ihn ein bisschen komisch", gesteht einer gar. "Rabe ist Pragmatiker, ideologiefrei bis zur Visionslosigkeit", schrieb 2014 die ZEIT und befand: "Gemessen an den öffentlichen Anfeindungen dürfte Ties Rabe im Rennen um den Titel des unbeliebtesten Politikers der Stadt weit vorne liegen."

 

"Ich wollte immer Lehrer werden", sagt Rabe, "und musste doch warten, bis ich 46 war."

 

Der Vorwurf der Ideologiefreiheit stört ihn nicht. "Das heißt doch übersetzt, dass wir in Hamburg einfach nicht jeden Blödsinn mitmachen", sagt Rabe. Mit "Blödsinn" meint er etwa schreiben lernen nach Gehör. Bei der Methode verfassen Grundschüler früh eigene Texte, ohne dass die Lehrkraft ihre Fehler verbessert. Nachdem er Senator wurde, hat Rabe das von der Vorgängerregierung verhängte Verbot von Diktaten und Vokabeltests aufgehoben, für ihn eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Sogar die meisten in seiner Behörde seien dagegen gewesen, schätzt er und wirkt nicht unglücklich dabei.

 

Rabe gilt unter den Kultusministern als derjenige, der sich mit am stärksten für die bundesweit gültigen Bildungsstandards einsetzt und auch für ein über Ländergrenzen hinweg vergleichbares Abitur. Gerüchten zufolge war Rabe sogar der einzige Landesminister, der die Aufgaben aus dem erstmals 2017 eingesetzten bundesweiten Abiturpool an den Hamburger Schulen unredigiert ließ - während anderswo am Aufgabentext teilweise umfangreiche Anpassungen vorgenommen wurde. Was er seinen Kollegen gern aufs Brot schmiert.

 

Wer den Senator mal weniger oberlehrerhaft erleben will, muss ihn ausgerechnet auf seinen Lehrerberuf ansprechen. "Das waren meine glücklichsten Jahre", sagt er. Dabei waren es nur viereinhalb. Denn als er mit dem Studium fertig war, halfen ihm weder Einser-Abi noch zwei Einser-Staatsexamen und auch kein drittes Studienfach: Er kam in die große Lehrerarbeitslosigkeit Ende der 1980er-Jahre hinein. Er spielte in einer Tanzband, war Korrekturleser bei einem Anzeigenblatt, machte Karriere als Redaktionsleiter. Bei einem Interview lernte er Olaf Scholz kennen und wurde 2002 Landesgeschäftsführer der SPD. Als ein parteiinterner Machtkampf 2006 zu seiner Entlassung führte, stand er erneut vor dem Nichts.

 

Doch plötzlich war da diese Stelle an einem Gymnasium in Hamburg-Bergedorf. "Ich wollte immer Lehrer werden, und ich musste doch warten, bis ich 46 war", sagt Rabe. Im Rückblick sehe das wie das Happy End eines interessanten Werdegangs aus. "Was man nicht sieht, sind die Phasen banger Ratlosigkeit zwischendurch und dieses Fragen, wie es jetzt bloß noch weitergehen soll." Als Lehrer in Bergedorf habe er zeigen wollen, was er alles gelernt habe, sagt Rabe. "Ich hoffe, das ist mir gelungen", sagt er, hält inne und sagt leise: "Ja, doch, ich glaube, ich war ein guter Lehrer."

 

Warum hat er dann Ja gesagt, als Scholz ihm das Senatorenamt anbot? "Weil ich als Lehrer immer darüber nachgedacht habe, wie Schulen durch das Ministerium geführt werden müssten, damit sie besser werden."

 

Der Satz klingt zurechtgelegt, Rabe drückt den Rücken durch und ist rhetorisch wieder auf Kurs. Berichtet, wie er jetzt auch die Mathedefizite angehen will. Denn so strahlend die Hansestadt bei den letzten Leistungstests daherkam, bei einer Probeklausur mit am bundesweiten Abi-Aufgabenpool orientierten Fragen schnitten Hamburgs Schüler 2017 unterirdisch ab. Rabe beorderte die Mathelehrer zu Fortbildungen und richtete eine Expertenkommission ein. Hamburgs Wiederaufstieg in Mathe soll jetzt sein Meisterstück werden: Von den Experten erhoffe er sich mutige und unbequeme Hinweise, sagt er. Mal schauen, ob sie sich trauen. Wie gesagt: Rabe kann unbequem werden.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung

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