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Blick zurück (12): Die Elite wird erwachsen

Seit über 20 Jahren beschäftigte ich mich mit Hochschulen, Bildung und Wissenschaft. Viel ist passiert in dieser Zeit, vieles davon durfte ich als Journalist begleiten. Der Blick zurück zeigt, wie aktuell einige meiner Themen von einst geblieben sind – obwohl sich fast alles verändert hat. Machmal allerdings auch, weil sich fast gar nichts verändert hat. Der 12. Teil einer Serie.

Die Elite wird erwachsen

Der neue Weg zur Professur: Die Stipendiaten des Emmy-Noether-Programms arbeiten selbständiger als andere Habilitanden

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 10. August 1999)

 

MORGEN KOMMEN DIE Möbelpacker. Sie werden Kiras Holzente in eine Kiste stecken, die Bauklötze dazu und alles andere, was jetzt noch fein säuberlich verstreut vor dem roten Sofa liegt. Auf dem Sofa sitzt Kiras Mutter und erzählt von London. Von Kneipen und Großstadtrummel, von Fernweh und Teilchenbeschleunigern. Letztere sind der Hauptgrund, weswegen Holzente und Bauklötze morgen auf Reisen gehen. "Das ist eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen sollte", sagt Silke Petzold.

 

Kiras Mutter ist Physikern, erst 29 Jahre alt und schon promoviert. Das ist in den Naturwissenschaften durchaus eine Leistung. Silke zählt zu dem Kreis jener Nachwuchswissenschaftler, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft für "besonders qualifiziert" hält und daher in ihr neues Emmy-Noether-Programm aufgenommen hat. Bei der Auswahl der ersten 53 Stipendiaten waren vor allem zwei Kriterien ausschlaggebend: eine mit herausragendem Ergebnis abgeschlossene Promotion sowie ein Alter von maximal 30 Jahren. Beide Kriterien hat die Hamburgerin erfüllt, und trotzdem ist sie nur bedingt glücklich mit ihrer Aufnahme ins Programm: "Ich weiß nicht, ob sich beides miteinander vereinbaren läßt – Karriere und Privatleben."

 

Oliver Huck hat sich diese Frage ebenfalls gestellt und seine Antwort gefunden: "Mobilität ist dem Beruf des Wissenschaftlers zwingend einbeschrieben", sagt er ein wenig gestelzt, wie es seine Art ist. "Eine Mobilität, bei der das Privatleben oft nicht mithalten kann." Zur Zeit ist der 29-Jährige noch Mitglied eines Münchner Graduiertenkollegs, sein Fachbereich: Musikwissenschaft. Als einer von drei Geisteswissenschaftlern wird er innerhalb des überwiegend mit Naturwissenschaftlern besetzten Programms zu den Ausnahmen gehören.

 

Wissenschaft als Suchtstoff

 

Ein winziges Zimmer unterm Dach nennt Oliver sein eigen, stickig und heiß an einem Sommertag wie heute. Kochnische, Schrank, Bett und Schreibtisch – das ist schon alles. "Das klassische Assistentenschließfach", sagt er und lächelt zufrieden: "Der Arbeitsplatz eines Geisteswissenschaftlers passt in eine Laptoptasche." Für seinen Computer hat Oliver den schönsten Platz des Apartments reserviert – vor dem Fenster, mit Blick auf Schwabing. In ein paar Wochen wird er Laptoptasche und ein paar Habseligkeiten an sich nehmen und seiner Dachwohnung den Rücken kehren – gen Italien.

 

Das Emmy-Noether-Programm sieht in der ersten Phase einen zweijährigen Auslandsaufenthalt vor, und den wird Oliver wie seine Hamburger Mitstipendiatin in diesem Herbst antreten. In Florenz und Rom will er Musik-Handschriften aus dem 14. Jahrhundert studieren, im Original, in "Autopsie", wie er es nennt. "Es gibt Codices, die sind zweimal beschrieben. Mich interessiert die erste Schicht, die erkennt man nur im Original. Wenn überhaupt." Olivers Forschungsgebiet ist die Musik des Trescento, einer Epoche, in der in Italien erstmals weltliche Musik komponiert wurde. "Und das ohne vorhergehende Tradition", sagt er mit der Faszination eines Entdeckers.

 

Eine Faszination, die auch Silke Petzold ergreift, wenn sie von der "schwachen Wechselwirkung zwischen Elementarteilchen" spricht. "Es gibt da ein Standardmodell, und seit den sechziger Jahren überprüfen Physiker, ob das nun stimmt oder nicht." Grundlagenforschung nennt man das. Wie viele ihrer Kollegen kämpft Silke seit Jahren mit diesem einen Problem, dessen Lösung mit Hilfe endloser Experimente und computergestützter Auswertung doch niemals gefunden und lediglich eingegrenzt werden kann.

 

In London will sie in einem Team von 300 Physikern ihre Untersuchungen am Teilchenbeschleuniger fortsetzen. "Die Forschungsarbeit finde ich außerordentlich spannend", sagt sie, doch ist das allein genug? Viele Kollegen, erzählt sie, lasse die Elementarphysik gar keine Ruhe mehr. "Die schlagen sich die Nächte um die Ohren und nehmen ihren Urlaub nicht in Anspruch." Der Suchtstoff: "Es geht immer weiter. Kein Ergebnis ist endgültig. Jede Antwort bedeutet eine neue Fragestellung." Im Treppenhaus rumort ihr Freund Stephan, schleppt Lampen, Stereoanlage und Küchenstühle nach draußen. Drinnen sitzt Silke in einer Wohnung, die allmählich ungemütlich wird, und brütet vor sich hin. "Ich arbeite gerne, aber ich finde, dass acht Stunden am Tag genug sind. Andererseits konkurriere ich mit Leuten, die zwölf, dreizehn Stunden am Tag forschen."

 

Anfänger mit eigenem Team

 

Morgen geht es los. Dann verstauen die Möbelpacker auch einen Lebensabschnitt in ihren Kisten. Hier in Hamburg hat Silke ihren Freund kennen gelernt, wie sie promovierter Physiker und bis vor kurzem mit dem gleichen Projekt am Forschungsinstitut DESY beschäftigt. Jetzt wagt er in London einen Neuanfang, nimmt Abschied von der Wissenschaft und wird Investmentbanker. Das hört sich nach einem krassen Bruch an, ist aber keiner. "Im Investmentbereich geht es um ähnliche Rechenoperationen wie in der Elementarphysik", erklärt Silke. "Da sind Physiker gefragt." Auch für sie ist das eine Option, dazu eine mit Acht-Stunden-Tag, doch kann sie sich nicht entscheiden. Noch nicht. Bis Oktober nimmt sie sich Zeit. "Inzwischen werde ich genug damit zu tun haben, die Wohnung in London einzurichten und eine Krabbelgruppe für Kira zu finden."

 

Gedanken macht Silke sich vor allem um die zweite Phase des Emmy-Noether-Programms. Denn dann schlösse sich ein dreijähriges Engagement an einer deutschen Hochschule an, mit Forschung und mit Lehrtätigkeit. "Es wird schwierig werden, hier eine Stadt wie London zu finden, die für Stephan und mich gleichermaßen geeignet ist."

 

Oliver Huck hingegen hat keinerlei Zweifel daran, dass er auch die zweite Phase beantragen wird. Vier junge Wissenschaftler sollen dann nach Olivers Vorgaben als eine sogenannte Nachwuchsgruppe arbeiten. Ein Modell, das bisher ausschließlich in den Biowissenschaften vorkam, wird damit auch auf die Geisteswissenschaften übertragen: "Möglicherweise verfüge ich dann über mehr Forschungsgelder als mancher Hochschullehrer", sagt er. "Das kann auch Neid und Missgunst auslösen."

 

Die Nachwuchsgruppe anzuleiten, mit dem bereits im Ausland erworbenen Kenntnissen das Forschungsprojekt im Team voranzubringen, ist jedoch laut Deutscher Forschungsgemeinschaft von zentraler Bedeutung für die Ausbildung junger Wissenschaftler. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) nennt das Emmy-Noether-Programm einen "ersten wichtigen Meilenstein bei der Entstehung einer Postdoc-Kultur" und verspricht: "Die der Habilitation zugeschriebenen Funktionen werden besser, effizienter und zugleich in freiheitlicheren Strukturen verwirklicht werden als mit dem herkömmlichen Verfahren."

 

Genug Freiheit für eine Familie?

 

Mehr Freiheit, mehr Unabhängigkeit auf dem Weg zum Lehrstuhl – das Ziel des Programms und auch sein ganz persönliches, meint Oliver Huck, wenn er auch nur ungern über Qualifikationen redet, die er noch erbringen muß. Und Kiras Mutter? "Ja, das würde mir schon gefallen", sagt sie vorsichtig und blickt zu dem riesigen Plüschlöwen hinauf, der über ihr an der Stuckdecke baumelt. Karriere oder Familie, Karriere und Familie – um diese Alternativen kreist im Augenblick ihr Denken. Eines steht für Silke Petzold, die "besonders hoch qualifizierte Nachwuchswissenschaftlerin" und Stipendiatin, jedoch schon heute fest: "Ein Hausmütterchen, das bin ich mit Sicherheit nicht."


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