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Die große Lücke

Bis 2030 könnten Zehntausende Berufsschullehrer fehlen, warnt die Bertelsmann-Stiftung. Hat die KMK das Problem mal wieder unterschätzt?

MAN KANN SICH vorstellen, wie heute Morgen im Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK) wieder die Augenbrauen hochgehen. Wie in den Bildungsministerien der Länder der eine oder andere Fluch zu hören ist. Der Grund: Die Bertelsmann-Stiftung hat es schon wieder getan. Eine Prognose zum Lehrerbedarf veröffentlicht. Noch dazu eine, die den KMK-Erwartungen widerspricht. Sie – mal wieder – als zu optimistisch erscheinen lässt. 

 

Das Medienecho wird diesmal nicht so groß sein, weil es um die Lehrer an Berufsschulen geht und nicht an den Grundschulen. Was die Sache nicht besser macht. Denn dass laut Bertelsmann-Stiftung bis 2030 mehr als jede zweite Berufsschullehrer-Stelle nicht adäquat besetzt werden kann, ist alarmierend – wenn es denn stimmt. 

52.500 Pädagogen müssen die Berufsschulen der Studie zufolge zwischen 2018 und 2030 einstellen, um ihren Bedarf zu decken. Der sei so hoch, weil seit 2015 die Geburtenrate (und damit mittelfristig die Zahl der Schüler) steige und bis 2030 fast 50 Prozent der Berufsschullehrer in den Ruhestand gehen. Doch stünden im gleichen Zeitraum nur 26.000 fachlich passende Hochschulabsolventen zur Verfügung, warnt die Bertelsmann-Stiftung.

 

Die KMK-Prognose vor zwei Wochen lautete anders. Demnach werden bis 2030 nur 47.000 Berufsschullehrer benötigt, und es sei mit knapp 38.000 zur Berufsanfänger zu rechnen, teilten die Kultusminister mit. Womit die Lücke nur bei 9000 läge – ein Drittel der 26.500, die die Bertelsmann-Stiftung erwartet. 

 

Die Abweichung beider Prognosen ist derart krass, dass Studienautor Klaus Klemm sich absehbar auf Widerspruch der Bildungsministerien gefasst machen kann. Worauf sich Bertelsmann in seiner Pressemitteilung schon mal rhetorisch vorbereitet: Die Unterschiede zu den Zahlen der KMK könnten unter anderem daran liegen, dass die KMK offenbar den Einstellungsbedarf ab 2025 lediglich fortgeschrieben und nicht weiter berechnet habe.

 

Bis 2025 lägen die Bedarfsdaten seiner Prognose und die der KMK dicht beieinander, erläutert der Essener Bildungsforscher Klemm auf meine Nachfrage. Danach seien zum Teil kräftige Abweichungen zu sehen. Außerdem, fügt Klemm hinzu, erwarte er ausgehend von der gegenwärtigen Situation eine deutlich niedrigere Zahl an Absolventen.  

 

Am Ende zeigt die Bertelsmann-Prognose vor allem zweierlei.

 

Erstens: Die KMK tut gut daran, ihre eigenen Bedarfsberechnungen endlich verlässlicher und in sich stimmig zu machen. Die Inkonsistenzen in ihren Tabellen sind schon auf den ersten Blick zu erkennen. Was die Kultusminister auf ihrer vergangenen Sitzung übrigens selbst so sahen und deshalb eine grundlegende Reform bei der Bildungsstatistik beschlossen haben. Jetzt müssen sie liefern. 

 

Zweitens: Dem viel gelobten dualen Ausbildungssystem droht, sollten sich Klemms Berechnungen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung  als richtig erweisen, eine Verschärfung seiner ohnehin schon tiefen Krise. Viele Lehrberufe sind zu wenig attraktiv, Stellen bleiben leer, immer mehr junge Menschen ziehen ein Studium vor. Das kann man den Hochschulen nicht vorwerfen, die Rede von der vermeintlichen "Überakademisierung" geht fehl. Wie aber sollen die Ausbildungsberufe im Wettbewerb um die Schulabsolventen in den nächsten Jahren Boden gut machen, wenn ihre Qualität auf lange Zeit auch unter dem massiven Lehrermangel leidet?

 

Genau dies wird die Frage sein, die die Bildungsminister jetzt beantworten müssen. Möglichst in Zusammenarbeit mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die kaum eine Gelegenheit auslässt, um die Bedeutung der beruflichen Bildung zu loben. Es gibt viel zu tun. Und, wie Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, betont: Es gibt zum Glück auch noch die Zeit zum Reagieren, weil die Berufsschulen erst relativ spät in der Bildungskette dran sind. 

 

Am besten wäre es deshalb, wenn sich die Landesminister heute zur Abwechslung mal die Scharmützel mit der Bertelsmann-Stiftung sparen und sich auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren. Zum Beispiel, indem sie die Prognose von Klemm sehr ernst nehmen. 


ZUM SCHLUSS NOCH EIN WENIG KLEINGEDRUCKTES:

In ihrer Pressemitteilung kommuniziert die Stiftung heute übrigens die griffigere Zahl von "60.000 neuen Berufsschullehrern", die bis 2030 benötigt würden. Doch ist diese Zahl nicht vergleichbar mit der KMK-Prognose, weil sie früher als diese (schon 2016/17 versus 2018) ansetzt. In Rücksprache mit Klaus Klemm habe ich daher die Zahl 52.500 als Referenzwert gewählt, die den gleichen Prognosezeitraum abdeckt wie die KMK-Modellrechnung von vor zwei Wochen. 


Foto: Romantiker: "Stuhl.jpg", CC BY-SA 3.0.

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