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Sind wir als Gesellschaft reif genug?

In den USA gerät die Affirmative Action unter Druck. Das sollte uns zu denken geben.

Wer darf hier durch? Eingangspforte der Harvard University in Boston. Wally Gobetz: "Cambridge - Harvard Square: Harvard University - Johnston Gate", CC BY-NC-ND 2.0.

NEULICH TRAF ICH in München eine aufgebrachte Studentin. Knapp 20, 3. Jurasemester. Dieses ständige Gerede von der Bildungsbenachteiligung gehe ihr gehörig auf die Nerven, schimpfte sie. Keine Schule, keine Universität habe ein Wärterhäuschen vor der Tür, kein Lehrer, kein Professor frage zu Beginn der Stunde nach, wessen Eltern studiert haben und wessen nicht. "In Deutschland kann jeder alles schaffen, wenn er nur will." Dazu gehöre aber auch, sich nicht ständig zu beklagen, sondern sich einfach mal auf den Hosenboden zu setzen.

 

Ich glaube, dass viele Leute so denken. Für sie bedeutet Bildungsgerechtigkeit: Der Staat behandelt alle gleich, und für den Rest ist jeder selbst verantwortlich. Es ist ja auch eine Logik, die nicht ohne Weiteres eingängig ist: dass manchmal  gleiche Chancen erst dadurch entstehen, dass man Menschen ungleich behandelt. Indem man manchen mehr Unterstützung gewährt als anderen.

 

In den USA gerät gerade mal wieder die Jahrzehnte alte Tradition der Affirmative Action unter Druck. Affirmative Action bedeutet kurzgefasst, dass zum Beispiel die Harvard Universität versucht, den Anteil der Schwarzen, Latinos und der amerikanischen Ureinwohner unter ihren Studenten systematisch zu erhöhen. Weil diese Minderheiten in der Gesellschaft systematisch benachteiligt werden. Bedeutet das eine ungerechte Bevorzugung, ist es Rassismus, wenn dadurch weniger Weiße und weniger Amerikaner asiatischer Abstammung einen Studienplatz bekommen? So argumentiert die Klage eines konservativen Aktivisten vor einem Bostoner Bundesgericht.

 

Harvard wehrt sich: Die Hochschulzulassung entscheide sich an einer Vielzahl an Kriterien, worunter die "Rasse" nur eine sei. Fest steht: Würde man allein auf die akademische Leistung schauen, wären Asian Americans in Harvard und anderswo im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung noch stärker überrepräsentiert, als sie ohnehin schon sind.

 

Ich habe versucht, der Münchner Studentin zu erklären, dass wir alle von zu Hause unterschiedlich gut aufs Lernen vorbereitet werden. Dass die einen Eltern haben, die sie pushen und ihnen helfen, und die anderen sich alles selbst erarbeiten müssen. Weshalb bei letzteren eine Drei vielleicht genauso viel wert ist wie eine Eins bei ersteren. Und dass die Drei deshalb noch nichts über das Potenzial aussagt. Meine Eltern zum Beispiel waren Akademiker in der vierten Generation, das hat mich nicht klüger gemacht, aber ich habe mich auf dem Gymnasium und an der Uni nie gefragt, ob ich da hingehöre oder nicht. War doch klar irgendwie.

 

Die Aufgabe eines gerechten Bildungssystems ist nicht, dumme Menschen zu höheren Abschlüssen durchzuschleusen. Im Gegenteil. Es geht darum, den Einfluss der Herkunft zurückzudrängen. Damit am Ende alle das leisten können, wozu sie von ihrer Intelligenz her in der Lage sind. Und ja, das könnte bedeuten, dass einige der nicht ganz so schlauen Akademikerkinder nicht mehr ganz so automatisch durch Schulen und Hochschulen schreiten.

 

Noch ein Gedanke. Bund und Länder planen ein Programm, das "Schulen in benachteiligten sozialen Lagen", so der politisch-korrekte Begriff, besondere Aufmerksamkeit gewähren soll. Was dazu führen wird, dass eine Schule mit vielen armen Kindern mehr Geld, mehr Personal, mehr Unterstützung erhält als eine mit vorrangig bürgerlicher Demografie. Das Motto lautet auch hier: Ungleiches ungleich behandeln. In Berlin und in Hamburg zum Beispiel passiert das in Ansätzen schon heute.

 

Ein richtige, eine wichtige Initiative. Die Frage: Sind wir als Gesellschaft dafür reif genug?

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.

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Kommentare: 3
  • #1

    Christian (Dienstag, 06 November 2018 14:52)

    Meine Erfahrung: gutsituierte und Normalos können sich die Fremdheit der anderen schlichtweg nicht vorstellen. Die Gestresstheit mit der man dann bestenfalls an der Uni aufschlägt, nach bereits in jungen Jahren langwierigen Erfahrungen, alles irgendwie "trotzdem" zu machen und nicht "wegen". Der Bildungskanon selbstverständlicher Akademiker ist eine nicht nur formale Reihung von charakterbildenden Massnahmen, zu denen auch bestimmte Freizeitinteressen, Austauschjahre, aufwändige Gap Years usw. gehören. Der Unterschied zwischen einem solchen bestärkten jungen Geist und einem, der weiss wie Alkoholismus und verdreckte Wohnblocks aussehen, und der statt einer Backpacking-Sause für die Miete (nicht das MacBook) arbeiten war, den sieht man schon im Gesicht wenn man genau hinguckt. Tut man aber nicht. Man sähe dann, dass grosse Träume, ein bestimmtes Selbstbild, die Gewissheit auf gar keinen Fall eine untergeordnete Tätigkeit ausüben zu müssen und "Talent" alles Begriffe aus einer ganz bestimmten Schicht sind. Ich wusste schon mit 19, dass ich NIEMALS die Sorte Auftreten haben werde um bei irgendwelchen Prestigemedien für Reisedokus oder meine genau richtige Meinung (viel) Geld zu bekommen, dass ich kein geiles Studentenleben in einem teuren Innenstadt-WG Zimmer haben werde, dass ich mir ein Praktikum in London nicht leisten kann. Dass es diese ganz realen Vorsortierungen tatsächlich gibt, und die Betroffenen nicht nur aus Zaghaftigkeit, sondern ZU RECHT lieber unstrittigere Wege gehen, ist ein riesen Tabu in unserer "Leistungsgesellschaft".

    Ob Affirmative Action nun was bringt... ich bezweifle es, denn dazu gehört im Grunde auch der extracurricular Vorlauf, den in den USA die Highschools übernehmen, während in Deutschland alles nach Schulschluss Elternsache ist.

    Der bessere Weg wäre, erstmal zu einer Ehrlichkeit zu kommen. Reine Leistungsparameter gibt es nicht, sie sind immer in weiche Faktoren eingebettet. Mehr Klassenbewusstsein ist der erste Schritt, gerade auch bei den bessergestellten, die sich dann endlich ehrlich machen müssen.

  • #2

    Jana (Mittwoch, 07 November 2018 16:10)

    Die Bildungsgerechtigkeit gäbe es tatsächlich nur, wenn alle Kinder mit normaler Begabung (also mdst. 95% aller Kinder) am Ende ihrer Grundschulzeit des Lesens, Schreibens und Rechnens (zumindest bei den Grundrechenarten) mächtig wären. Dem ist nachweislich nicht so. Erhebliche Defizite tauchen auch bei Kindern nach dem Übergang auf die Gymnasien auf, die von ca. 40 bis 50% der Kinder besucht werden. Die Defizite liegen demzufolge erst recht bei fast allen Kindern (den anderen 50 bis 60%) der anderen Schulzweige vor. Und immer wieder gibt es auch Berichte über klagende Hochschullehrer angesichts der fehlenden Grundfertigkeiten ihrer Studenten. Ich gehe davon aus, dass jedes normal begabte Kind das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen kann und auch muss, um überhaupt Bildungschancen im weiteren Leben zu haben. Voraussetzung ist, dass die Unterrichts- und Lehrmethoden der Grundschulen dafür geeignet sind und das Lehren und Lernen nicht nach Hause verlagert wird. Beides ist derzeit nicht gegeben. Die Defizite werden auch nicht durch unechte Ganztagsgrundschulen beseitigt. Eine Vermutung ist, dass die Anzahl der Mütter und Väter, die das Defizit der Grundschulen zu Hause ausgleichen, kleiner geworden ist, da insbesondere Mütter mehr und länger arbeiten als früher. Es gibt auf der anderen Seite sehr viele (i. d. R.) Grundschullehrerinnen, die aufgrund ihres Beamtenstatus auch problemlos 10 Jahre aus ihrem Beruf aussteigen können und konnten, um ihre eigenen Kinder durch die Grundschulzeit zu begleiten, ohne dabei Angst vor anschließender Arbeitslosigkeit oder zu niedriger Rente haben zu müssen. Diese Gruppe hat kein Verständnis für die Lebensumstände anderer Familien und ist daher auch nicht bereit, Unterrichts- und Lehrkonzepte an diese Umstände anzupassen und somit Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Schlimm ist, wenn diese Lehrerinnen auch noch die Einstellung haben, dass nur 3 bis 4 Kinder auf das Gymnasium gehören. Genau die Gruppe, die Chancengleichheit schaffen soll und kann, verhindert diese dann bewusst (das sind nachweisliche und ganz persönliche Erfahrungen). Hoffentlich handelt es sich dabei nur um Ausnahmen (allerdings gleich drei an einer einzigen Grundschule). Bei dieser Entwicklung müsste sich der sogenannte Bildungstrichter aber bald ändern zugunsten der Kinder von Nichtakademikern, da der Ausgleich der Defizite zu Hause in allen Schichten immer mehr ausbleibt. Allerdings haben wir dann zwar Bildungsgerechtigkeit, aber auf niedrigstem Bildungsniveau. Schön wäre Bildungsgerechtigkeit bei gleichzeitig hohem Bildungsniveau.

  • #3

    Christian (Sonntag, 11 November 2018 21:26)

    @Jana
    Dieser Aspekt der Bildungsgerechtigkeit ist sehr relevant. Es wird zwar thematisiert, dass zu viele Jugendliche mit mangelhaften Fertigkeiten aus der Schule (egal welche) entlassen werden. Dabei wird aber kaum einmal klipp und klar ausgesprochen dass dies einen Vorlauf hat, nämlich ein kontinuierliches Knapp- oder Nichterreichen des Klassenziels über Jahre. Und hier sind wir bei der von Ihnen angesprochenen Bräsigkeit des Systems. Es gibt deratig viele Möglichkeiten, den Kindern und deren Umfeld oder institutionellen Dritten die Verantwortung zu übergeben - die frühe Trennung in Schulzweige, Auslagern in verschiedene Sonderförderungen, Sonderschulen...und alles wird gern genutzt. Nun sind solche angepassten Angebote an sich ja ein Zeichen von Differenzierung und somit etwas positives. Diese positive Wirkung ist aber nur dann gegeben, wenn man sie für die wirklich darauf angewiesene Minderheit begrenzt. Es gibt schlicht zuviele im Normalbereich begabte Kinder, die keine sicheren Fähigkeiten erlangen. Daran ist dann immer sonstwas schuld - die Faulheit, das Elternhaus, Diagnosen, pipapo - nur eins kommt nicht zur Sprache, nämlich dass es in Ländern mit durchgängig guten Bildungserfolgen die Norm darstellt, jedes Kind zum Klassenziel zu führen und die Verantwortung dafür beim Lehrkörper zu platzieren. Ausnahmen bezüglich Begabung/Lernfähigkeit, sozialer Umstände usw. sind dort genau das: Ausnahmen.

    All dies hat durchaus etwas mit dem beruflichen Selbstbild und dem Bewusstseinsniveau von insbesondere Grundschullehrern zu tun. Mit dem Ehrgeiz, das Klassenziel durchzusetzen, fängt die Bildungsgerechtigkeit an. Jede/r Lehrer/in der der Versuchung erliegt, sich als Sortierer (offiziell nach Begabung, de facto meist nach Elternhaus) zu betätigen, untergräbt das. Und ja, dazu gehört auch das Berufsverständnis von Leuten die für viele Jahre in die eigene Kindererziehung abtauchen.