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War das unvermeidbar?

Bundestag und Bundesrat stehen sich in Sachen Grundgesetz-Änderung unversöhnlich gegenüber. Welche Fehler und Irrtümer dazu geführt haben.

DIE SPANNENDSTE FRAGE des Tages lautet: Ist eigentlich überhaupt noch irgendein Land für die Grundgesetz-Änderung? Am Freitag hatten sich, was viele noch gar nicht mitbekommen haben, die Länder mit SPD-Ministerpräsidenten plus Thüringen (die sogenannten "A-Länder") darauf verständigt, der Bundestagsvorlage nicht zuzustimmen. Schon am vergangenen Dienstag hatte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), eigentlich Befürworter der Reform, angekündigt, dass sein Land sie in der aktuellen Form nicht mittragen könne – wegen der im letzten Moment eingefügten Ergänzungen. Am Sonntag teilten dann fünf Unions-Ministerpräsidenten per Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit: Auch sie werden Nein sagen. Das war größtenteils schon länger bekannt, aber die große Geste, mit der Baden-Württemberg, Bayern, NRW, Sachsen und Hessen jetzt dem Bund Contra geben, ist das eigentlich Erstaunliche. Dazu später mehr. 

 

In der Gesamtschau ist das, was wir gerade erleben, ein politisches Desaster. Und zwar unabhängig davon, ob man mehr Mitwirkung des Bundes in der Bildungspolitik grundsätzlich befürwortet oder nicht. Das Desaster geht auch weit über die Tatsache hinaus, dass der seit über zwei Jahren diskutierte Digitalpakt, das 5,5-Milliarden-Paket für die IT-Ertüchtigung der Schulen, jetzt aller Voraussicht nach nicht zum 1. Januar wird starten können. Das eigentlich Niederschmetternde ist: Viele Bürger werden sich erneut bestätigt fühlen. Dass der Föderalismus nicht funktioniert (was so pauschal natürlich Unsinn ist). Dass "die Politiker" den Blick fürs Wesentliche verloren haben (stimmt in der Gesamtheit natürlich auch nicht). Dass Deutschland mehr und mehr veränderungsunfähig und in Sachen Digitalisierung abgehängt wird (das denke ich manchmal schon auch, nur ist der aktuelle Fall, meine ich, kein gutes Beispiel dafür). Kurzum: Die Politikverdrossenheit dürfte neue Nahrung bekommen. 

 

Es werden Schuldige gesucht und schnell gefunden werden. Lange Zeit war das Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der zusammen mit seiner CDU-Bildungsministerin und entgegen der Linie der Bundesgrünen die Reform des Bildungsföderalismus ablehnte. Nur taugt Kretschmann jetzt nicht mehr so richtig zum Buhmann, nachdem er, der FAS-Beitrag demonstriert es, Meinungsführer eines Clubs mächtiger Ministerpräsidenten geworden ist. Viele werden auch Eckhardt Rehberg verantwortlich machen. Das ist der CDU-Bundestagsabgeordnete und Chefhaushälter, den außerhalb des Bundestages bislang kaum einer kennt, der aber als Drahtzieher hinter den Last-Minute-Änderungen der Grundgesetz-Änderungen gilt. FDP-Chef Christian Lindner äußerte sich diesbezüglich bereits, ohne allerdings den Namen Rehbergs zu nennen. Dessen SPD-Kollege Johannes Kahrs springt Rehberg zur Seite und verweist auf entsprechende "Vorgaben" des Bundesrechnungshofs, die mit allen Parteien im Bundestag besprochen worden seien. 

 

Natürlich wird bei der Frage nach den Verantwortlichen auch Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) genannt werden, der – kritisieren viele – das Handling der Föderalismus-Reform vollends entglitten zu sein scheint. Ein Name dagegen taucht in der Liste bislang eher selten auf. Dabei gehört er eigentlich ganz nach oben. Es ist der von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Die Federführung für die Verhandlungen mit den Bundestagsfraktionen von FDP und Grünen, die am Ende besagten Kompromiss produzierte, lag bei ihm. Anja Karliczek hatte damit, wenn man ehrlich ist, recht wenig zu tun. Scholz muss sich den Kardinalfehler vorwerfen lassen: Die Verhandlungen um die Grundgesetz-Änderungen haben viel zu spät begonnen. Erst in der zweiten Oktoberhälfte gingen er und sein Ministerium in ernsthafte Gespräche mit der Opposition. Warum? Hat er das Thema in seiner Wichtigkeit und Explosivität derart unterschätzt? Man stelle sich vor, Scholz hätte, wie viele von ihm gefordert hatten, direkt nach der Sommerpause Anfang/Mitte September begonnen, sechs Wochen früher. Das hätte vermutlich die jetzige Patt-Situation nicht verhindert. Aber sie wäre sechs Wochen früher passiert, wir würden jetzt noch Oktober schreiben, und es wäre noch Zeit. Genug Zeit für eine Einigung bis zum Jahresende. 

 

Wer sich indes fragen lassen muss, ob sie ein faires Spiel spielen, sind einige der Autoren des FAS-Gastbeitrages vom Sonntag. Dass für den Digitalpakt das Grundgesetz geändert werden soll, steht bereits so im GroKo-Koalitionsvertrag vom Frühjahr, den die unterzeichnenden Unions-Ministerpräsidenten teilweise mit ausgehandelt haben. Wie kann es also sein, dass sie in der FAS nun unisono befinden: "Eine Änderung des Grundgesetzes brauchen wir dafür nicht"?

 

Es ist wenige nur Monate her, da gab es im Bundesrat schon einmal einen entsprechenden Vorstoß – den Digitalpakt ohne Grundgesetz zu beschließen –  durch das Land Baden-Württemberg. Der scheiterte schon im Vorfeld, weil alle anderen 15 Länder signalisierten: Du stehst allein, Kretschmann. 

 

Es ist nachvollziehbar, wenn die A-Länder oder auch Schleswig-Holstein den Vermittlungsausschuss anrufen wollen, weil sie verärgert sind über das erst verspätet bekannt gewordene Kleingedruckte der Bundestags-Einigung vom Freitag vorgegangener Woche. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn man wie vier der fünf FAS-Länder einen Zug erst mit Karacho losrasen lässt, um dann im letzten Augenblick "aus grundsätzlichen Erwägungen" einen Riesenfels auf die Strecke zu legen.

 

Ja, es stimmt: Armin Laschet, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und sein Kollege Michael Kretschmer aus Sachsen können sich zumindest darauf berufen, dass sie bereits Mitte Oktober einen "Leitfaden" in die Konferenz der Ministerpräsidenten eingebracht haben, der fundamentale Änderungen an der "föderalen Finanzarchitektur" forderte. Aber hat Laschet selbst zuvor in den Koalitionsverhandlungen mitgemacht, wo eine Grundgesetz-Änderung verabredet wurde – nicht in der Form, wie sie jetzt vom Bundestag beschlossen wurde, aber im Grundsatz eben schon. Und der heutige Ministerpräsident Michael Kretschmer war bis September 2017 stellvertretender Vorsitzender der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion. Die Gelegenheit, die "Grundsätze des Föderalismus", die jetzt "über Bord" geworfen werden sollen (O-Ton aus dem FAS-Beitrag), vehement zu verteidigen (und man kann das ja aus durchaus guten Gründen so sehen), wäre für beide während der GroKo-Koalitionsverhandlungen gewesen. 

 

Doch wenn man so möchte, war dies der andere Kardinalfehler, der zur Misere führte, wie wir sie jetzt erleben: Ohne Not verknüpfte die GroKo die Grundgesetz-Änderung und den Digitalpakt, von dem die Bildungsminister von Bund und Ländern sich zuvor noch einig gewesen waren, er würde auch ohne Verfassungsreform gehen. So brachten Union und SPD überhaupt erst die FDP und die Grünen im Bundestag in die Position, der Regierung Zugeständnisse abringen zu können.

 

Immerhin: Auch die fünf FAS-Autoren deuten eine Form von Kompromiss an. "Unsere Verfassung sieht für die Lösung solcher Meinungsunterschiede zwischen Bund und Ländern den Vermittlungsausschuss als Konfliktlöser vor", schreiben sie. "Diese Chance sollten wir nutzen." Ihnen muss klar sein, dass damit die Grundgesetz-Änderung doch am Ende kommen wird. In anderer, in abgeschwächter Form, aber sie wird kommen. Doch das Wann ist offen. Nicht offen ist, siehe oben, der hohe Preis, den dieses Desaster die politische Kultur kostet.

 

Heute beginnt übrigens der Digital-Gipfel der Bundesregierung. Und alle Beteiligten müssen sich fragen lassen: War es das wirklich wert?


ZWEI KURZE NACHTRÄGE

 

Erstens zu Armin Laschet, dem CDU-Ministerpräsident von NRW: Kann er eigentlich einfach so ein "Nein" im Bundesrat ankündigen? Was ist mit seinem Koalitionspartner FDP? Die Liberalen stellen die Bildungsministerin, und Yvonne Gebauer gilt als grundsätzliche Befürworterin der Verfassungsänderung. Ihr Parteikollege Andreas Pinkwart, Wissenschaftsminister im größten Bundesland, forderte heute per Twitter, Bund und Länder dürften den Digitalpakt nicht erneut vertagen. "Sie müssen sich beide einen Ruck geben: Bessere Qualität braucht nachhaltig mehr Geld vom Bund und gemeinsame Standards!"

 

Zweitens zu einer möglichen Notfall-Lösung für den Digitalpakt: Wann beginnt die Debatte in der KMK, das Bund-Länder-Programm doch wieder über den Artikel 91c laufen zu lassen, wie es vor der Bundestagswahl geplant war? Baden-Württembergs CDU-Bildungsministerin Susanne Eisenmann hatte die ganze Zeit dafür geworben. Bekommt Baden-Württemberg auch an der Stelle andere Länder herum?


AKTUALISIERUNG AM 04. DEZEMBER

 

Jetzt ist klar: Am Donnerstag wird es entgegen den Planungen keine Unterzeichnung der Digitalpakt-Vereinbarung in der Kultusministerkonferenz geben. Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) sagte, ihr Land stehe hinter dem Digitalpakt. "Doch die Vereinbarung werden wir erst unterzeichnen, wenn Einigkeit und Klarheit über die gesetzliche Grundlage besteht." Eisenmann, die zugleich die Arbeit der unionsgeführten Länder in der KMK koordiniert, ergänzte, diese Einschätzung werde von den anderen CDU-/CSU-Kultusminister geteilt. Auch wiederholte Eisenmann ihre Forderung, den bestehenden Verfassungsartikel 91c als Grundlage der Vereinbarung zu nutzen. "Digitalpakt ja, aber ohne Grundgesetzänderung."

 

Demgegenüber twitterte der digitalpolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Tankred Schipanski, der Artikel 91c als Rechtsgrundlage für den Digitalpakt sei "vom Verfassungsressort verworfen" worden. Vertreter des Bundesrates hätten in jeder Debatte im Bundestag "die Botschaft der Zusätzlichkeit der Mittel vernehmen" können.  Die Schuld an der aktuellen Eskalation liege daher bei den Ländern. 

 

Unterdessen ist unklar, ob Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) übermorgen wie geplant an der KMK-Sitzung teilnimmt, auch wenn der Digitalpakt nicht unterzeichnet wird. Es soll wohl eine Pressekonferenz geben, aber wer dort auf dem Podium sitzen wird, ist offenbar noch offen. Das neue Ziel der Kultusminister ist jetzt, zumindest bis zu Beginn des 2. Quartals mit dem Digitalpakt starten zu können. Nur liegen die Verhandlungen um die Grundgesetz-Änderung so gar nicht in ihren Händen. 

 

Konkreter Gesprächsbedarf besteht am Donnerstag noch an anderer Stelle. Einige Kultusminister wollen die Digitalpakt-Vereinbarung erneut aufmachen, um die zusätzlichen Möglichkeiten der vom Bundestag beschlossenen Grundgesetz-Änderung einzubauen, vor allem was die jetzt mögliche Finanzierung von Systemadministration und Schulungen angeht. Andere Ressortchefs lehnen das Anfassen des Vertrages ab, zumindest solange mit der Grundgesetz-Änderung dessen künftige Rechtsgrundlage noch verhandelt wird. Sie verweisen auf Möglichkeiten des "Nachsteuerns" unterhalb der Bund-Länder-Vereinbarung. 

 

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