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Definiert PISA, was Bildung ist?

Der Soziologe Richard Münch skizziert in seinem neuen Buch einen "bildungsindustrielle Komplex", im Fokus seiner Kritik: die OECD und PISA-Chef Andreas Schleicher. Der reagiert im Streitgespräch mit Münch.

Foto: pxhere – cco.

Herr Münch, in Ihrem neuen Buch warnen Sie vor einem "globalen bildungsindustriellen Komplex." Klingt gefährlich und weckt Assoziationen. Was genau meinen Sie mit diesem Begriff?

 

Münch: Wir hatten über viele Jahre eine funktionierende Kultusbürokratie, die unser Bildungssystem gesteuert hat, und zwar mit demokratischer Legitimation. Zu dieser Kultusbürokratie gehörten viele ehemalige Lehrer, so dass es Brücken gab zwischen der Bildungspolitik und der Lehrerprofession und den Lehrerverbänden. Aus diesem engen Zusammenhang entstanden zahlreiche Bildungsreformen, und zwar von innen heraus. Das Problem ist, dass diese national orientierte Bildungspolitik immer stärker unter Beobachtung gerät und unter den Druck global agierender Agenturen und Unternehmen.

 

Wozu führt dieser Druck von außen?

 

Münch: Die nationale Bildungspolitik wird davon abgehalten, nach ihrer bisherigen Logik zu arbeiten. An ihre Stelle tritt eine komplett andere Logik, die ganz woanders, außerhalb des deutschen Bildungssystems, entstanden ist.

 

Als maßgebliche Treiber dieses Paradigmenwechsels nennen Sie den Industriestaaten-Club OECD und dessen Bildungsdirektor, Andreas Schleicher.

 

Münch: Über die OECD ist ein globales Netzwerk gewachsen, in dessen Zentrum sich Herr Schleicher, der Ökonom Eric Hanushek und der ehemalige Blair-Berater Michael Barber befinden. Die drei vereint ihr Engagement für den internationalen Vergleichstest PISA: Schleicher in seiner Rolle als Bildungsdirektor, Barber war viele Jahre bei Pearson, dem weltweit umsatzstärksten Bildungskonzern, der maßgeblich den PISA-Test konzipiert. Hanushek wiederum hat zahlreiche PISA-Auswertungen veröffentlicht, teilweise direkt im Auftrag der OECD, und unterstützt so die dahinterliegende Agenda.


Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Vorher war er viele Jahre lang Professor für Soziologie in Bamberg. Sein Buch "Der bildungsindustrielle Komplex" ist bei Beltz erschienen. Mit PISA und der OECD hat er sich bereits zuvor in seinem 2009 erschienenen Buch "Globale Eliten, lokale Autoritäten" auseinandergesetzt.  Foto: privat.

Andreas Schleicher ist Statistiker, und Bildungsforscher. Er leitet die Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat für Bildung der OECD und ist internationaler Koordinator des Programm for International Student Assessment , besser bekannt als "PISA", das seit 2000 alle drei Jahre durchgeführt wird, inzwischen nehmen weltweit rund 80 Staaten teil. Die Ergebnisse von PISA 2018 werden am 03. Dezember 2019 veröffentlicht, die nationale Projektleitung hat die Bildungsforscherin Kristina Reiss von der Technischen Universität München. Der Schwerpunkt liegt diesmal auf der Lesekompetenz. Foto: privat.



 

Wenn Sie von einem Netzwerk sprechen, klingt das weit weniger bedrohlich als das plakative Schlagwort vom "bildungsindustriellen Komplex". Dass der Diskurs um die Schulbildung heute internationaler verläuft als vor 20 Jahren, bestreitet keiner.

 

Münch: In dem entstandenen internationalen Netzwerk konzentriert sich die Macht. Um die drei Protagonisten herum gruppieren sich andere Akteure, organisiert im sogenannten PISA-Konsortium. Das sind die Agenturen und Unternehmen hinter dem Test, neben Pearson zum Beispiel die größte Testfirma der Welt, der Educational Testing Service (ETS). Aber auch staatliche finanzierte Einrichtungen sind dabei wie der australische Council for Educational Research oder in Deutschland das DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Es geht um die Beantwortung der Frage nach dem Wesen von Bildung, das anhand eines angloamerikanischen Modells von Basiskompetenzen beschrieben und mithilfe von eigens entwickelten Tests abgeprüft wird.

 

"Ich weiß nichts
von einem solchen Komplex"

 

Herr Schleicher, wie fühlt man sich als Zentralfigur des bildungsindustriellen Komplexes?

 

Schleicher: Ich weiß nichts von einem solchen Komplex. Und ich war von Anfang an bei PISA dabei. PISA wird geleitet und finanziert von den Bildungsministerien der Länder und die Entwicklung des PISA Tests geschieht unter der Leitung eines Gremiums führender Wissenschaftler, die von den teilnehmenden Staaten benannt werden. Um es konkret zu machen: Pearson war zu keinem Zeitpunkt an der Entwicklung des eigentlichen PISA Tests beteiligt, es hatte lediglich als Teil des PISA-Konsortiums für die Studien in den Jahren 2015 und 2018 einen Auftrag für die Entwicklung der Rahmenkonzeption der Tests, mit einem Volumen von einem Bruchteil eines Prozents der Gesamtaufwendungen für die Studie. Auch hat Herr Hanushek im Auftrag der OECD keine PISA-Auswertungen veröffentlicht. Die Bildungsministerien bestimmen, was wo wie gemessen wird. Niemand anders. Und ganz sicher nicht die Industrie. Selbst wir bei der OECD sind nur die Moderatoren des Austausches zwischen den Mitgliedstaaten.

 

Also alles ganz harmlos?

 

Schleicher: Natürlich kann man fragen: Warum machen die Ministerien das? Aber eines kann ich Ihnen versichern: Mit Macht oder Machtausübung hat das rein gar nichts zu tun. Es geht darum, die Bildungssysteme besser zu machen. Dieses Ziel ist im Übrigen viel wichtiger als die Länder-Rankings, die von den Medien gehypt werden.

 

Herr Münch sagt aber, die Kultusbürokratie habe das vorher auch gut hinbekommen ohne Einfluss von außen.

 

Schleicher: Das sehe ich anders, ich glaube nicht, dass die großen bildungspolitischen Veränderungen in Deutschland, denken Sie an bessere frühkindliche Förderung, die Ganztagsschule, oder der Fokus auf mehr Chancengerechtigkeit ohne die PISA Studie 2001 in Gang gekommen wären. Bildung ist meist nach innen gerichtet. Ein Lehrer weiß kaum, was der Lehrer im Nachbarklassenzimmer macht. Eine Schule erfährt oft nicht, was an der Nachbarschule los ist. Und der Blick aus einem Bildungssystem in ein anderes gelingt noch seltener. Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt von PISA. Es geht um den Vergleich, um den Blick von außen, um voneinander lernen zu können. Insofern ist das Netzwerk natürlich der richtige Ansatz. PISA sagt niemandem, was er tun soll. Es sagt aber jedem, was andere anders machen. 

 

Im Buch von Herrn Münch hört sich das anders an. PISA sei ein lukratives Geschäft für Pearson und McKinsey, steht dort: "Schleicher organisiert den PISA-Wettbewerb und wirbt in aller Herrenländer dafür, die Platzierung eines Landes in der PISA-Tabelle zum Maßstab für die Qualität seines Bildungssystems zu machen." Währenddessen entwickle Pearson die Tests und Fragebögen "und verkauft in der ganzen Welt genau diejenigen Lehr-, Lern- und Testmaterialien, die gezielt auf den PISA-Test vorbereiten."

 

Schleicher: Das hat keinerlei Sachgrundlage. Wenn wir die Beratung externer Wissenschaftler oder Firmen nutzen, handelt es sich um relativ kleine Verträge. Das sind dann mal ein paar hunderttausend Euro, die an eine Firma oder eine Gruppe von Wissenschaftlern gehen. Und noch einmal, Pearson hat die PISA Tests und Fragebögen nicht entwickelt.

 

Können Sie mal ein Beispiel dafür geben, wann Sie Firmen bezahlen?

 

Schleicher: Gern. Ihr Mobiltelefon basteln Sie auch nicht selbst. Das kaufen Sie, und genauso machen wir das auch: Wenn wir für die Testbearbeitung Tablets nutzen, müssen wir die irgendwo bestellen. Wir geben auch kleinere Aufträge für die technische Entwicklung. Der Kern, der eigentliche Wert von PISA liegt in der Arbeit und im Netzwerk der Wissenschaftler und Schulpraktiker in der ganzen Welt. In ihren Austausch geht das meiste Geld, ich schätze neun von zehn Euro. Soviel zum lukrativen Geschäft für die Industrie.

 

"Die Agenturen und Unternehmen
verselbstständigen sich irgendwann"

 

Herr Münch, besteht das wahre lukrative – sprich: öffentlichkeitswirksames – Geschäft vielleicht darin, die Akteure hinter PISA zum bildungsindustriellen Komplex zu erklären?

 

Münch: Lukrativ ist als Zuschreibung für eine akademische Publikation sicherlich immer falsch. Außerdem habe ich den Komplex-Begriff gar nicht selbst erfunden.

 

Er steht aber in Ihrem Buch. 

 

Münch: Darauf kommt es jetzt gar nicht an. Herr Schleicher, Sie haben ja Recht: Natürlich braucht man für PISA Wissenschaftler, um die Fragen zu designen. Aber um den Test in der Breite umzusetzen, braucht es die Schlagkraft der Agenturen und Unternehmen, und deren Rolle verselbstständigt sich zwangsläufig irgendwann. Bis zu dem Punkt, an dem die Bildungsministerien nur noch die Daten entgegennehmen können – mitsamt den Empfehlungen, die daraus abgeleitet werden. Die OECD selbst schreibt auf ihrer Homepage, dass der PISA Governing Board der Teilnehmerländer - das sind lediglich die Aufsicht führenden Regierungsvertreter - das PISA-Konsortium aus international tätigen Agenturen beauftragt, den Test zu entwickeln und zu implementieren. Und dazu gehört gegenwärtig Pearson. Das Unternehmen berichtete 2014 selbst auf seiner Homepage wörtlich, dass es den PISA-Test 2018 für die OECD entwickelt. Im Beratungspanel von Pearson sitzen Michael Barber und Eric Hanushek.

 

Schleicher: Nochmal: Die PISA-Tests werden nicht von Unternehmen entwickelt, sondern von einer Expertengruppe, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sind, und da sitzt kein einziger Unternehmensvertreter, ich kann das bezeugen, denn ich sitze dabei. Technische Expertise wird später hereingeholt, um bestimmte Fragestellungen zu verfeinern, zu operationalisieren. Übrigens werden die Unternehmen, die da unterstützen, von den Mitgliedstaaten bestimmt und nicht von der OECD.

 

Münch: Herr Schleicher, Sie tun immer so, als seien Sie nur Moderator bei PISA und unterschlagen, dass Sie selbst zunehmend Empfehlungen über die Medien spielen. Die führen in den Ministerien dann zu Kurzschluss-Reaktionen.#

 

Welche Kurzschlussreaktionen meinen Sie?

 

Münch: Es fing damit an, dass die OECD aus PISA schlussfolgerte, die Merkmale wirklich erfolgreicher Bildungssysteme seien mehr Schulautonomie, eine starke Leitung und zentrale Leistungstests. Wenn solche Botschaften verbreitet werden, gerät die Politik natürlich unter Druck, das auch umzusetzen. Das Ergebnis sieht man paradigmatisch in den USA, wo die Schulen bei weitem nicht so erfolgreich sind wie in Ostasien. Und warum? Weil ähnliche Schulmodelle abhängig von den kulturellen Unterschieden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen. Als nächstes hat sich die OECD die "Lehrerkompetenz" vorgenommen. Es ist ja richtig, dass jede Schule von der Qualität ihrer Lehrkräfte lebt. Aber wie bekommt man die? Die PISA-Antwort: Durch das jährliche Messen von Lernfortschritten. Wenn Lehrer ständig beobachtet und kontrolliert werden, wenn man sie dazu noch nach den Ergebnissen der Messungen bezahlt, führt das aber zu einer Erosion der Grundlagen von Lehrerprofessionalität.

 

"Merken Sie, wie Sie sich 

selbst widersprechen?"

 

Schleicher: Merken Sie, wie Sie sich selbst widersprechen? Sie behaupten, die OECD propagiere das amerikanische Modell. Gleichzeitig betonen Sie, dass Amerikas Schulsystem in internationalen Vergleich nicht besonders gut abschneidet. Was wir aber erst durch PISA wissen. Seitdem wissen wir auch: Länder wie Finnland, Japan oder Portugal bekommen Schule besser hin. Und nein, die OECD hat auch keinem Land gesagt, es solle die Schulautonomie stärken. Aber offenbar ist das ein Faktor, der beispielsweise in Finnland wirkt. Das ist doch das Spannende, was PISA geschaffen hat: eine globale Plattform, eine globale Plattform zum Austausch verschiedenster Lösungsansätze.

 

Münch: Sie stellen die OECD zu harmlos dar, Herr Schleicher. Es gibt doch nicht nur die PISA-Tabellen, es gibt jede Menge weitere OECD-Literatur für die Schulen. PISA for Schools, zum Beispiel, liefert Einzelberichte zu jedem Land, inklusive konkreten Handlungsempfehlungen. Darüber hinaus existieren nahezu austauschbare Studien von McKinsey, Pearson und der OECD, die alle die PISA-Tabelle als Maßstab verwenden. Schon ihre Titel machen klar, dass sie Empfehlungen geben, zum Beispiel McKinsey 2007: "World’s Best-Performing School Systems…"; OECD 2010: "Strong Performers and Successful Reformers…"; Pearson 2013: "Asking More: The Path to Efficacy." An diesen Studien ist Herr Schleicher mit einem Vorwort oder als Autor beteiligt. Die Empfehlungen laufen immer wieder auf Schulautonomie, starke Schulleitungen, Lehrerevaluationen hinaus. Und Ökonomen wie Eric Hanushek, der nicht direkt mit der OECD zusammenarbeitet, berufen sich ebenfalls auf die PISA-Daten, um ihre eigene Agenda zu pushen, Hanushek zum Beispiel sein Modell der Lehrerevaluation. Hanushek hat zusammen mit Ludger Woessmann zwei von der OECD herausgegebene Studien zum Zusammenhang von Punktwerten in internationalen Leistungstests wie PISA und ökonomischem Wachstum verfasst. Die Ergebnisse können durch eine neuere Studie nicht bestätigt werden.

 

Wir erinnern uns: Eric Hanushek ist der zweite Protagonist in Ihrem "globalen Netzwerk der Bildungsgovernance", Herr Münch.

 

Schleicher: Herr Hanushek arbeitet an der Stanford University und nicht für die OECD. Dass er PISA-Daten benutzt, finde ich gut. Mir gefallen grundsätzlich jene Forscher besser, die Daten benutzen, als solche, die ihre Meinung einfach so publizieren. Herr Hanushek mag zu bestimmten Ergebnissen kommen. Andere Forscher kommen zu anderen Ergebnissen. Das hat nichts mit der OECD zu tun – ebenso wenig wie die Empfehlungen, die McKinsey und andere Unternehmen abgeben. Die Forderung, dass Lehrer mehr als bislang getestet werden sollen, finden Sie in keiner OECD-Publikation, weil sie sich wissenschaftlich in der Formulierung gar nicht halten ließe – was wiederum von uns in Analysen dargestellt worden ist. Und was PISA for Schools angeht: Das ist entstanden, weil Schulen zu uns kamen und wissen wollten, wo sie im Vergleich zu anderen Schulen stehen. Eben weil die schulinterne Qualitätsentwicklung fast überall auf der Welt schwach ausgeprägt ist und PISA als solches keinen Vergleich auf Schulebene zulässt. Deswegen haben wir ein Instrumentarium entwickelt, damit Schulen interne PISA-Tests durchführen können. Was sie damit tun, ist allein ihnen überlassen. Wir mischen uns da nicht ein und wir veröffentlichen auch keine Resultate, niemals.

 

"Letztendlich muss die Schule entscheiden, 

was sie mit den Schulen vor hat."

 

Herr Schleicher, Sie sprechen immer davon, dass Sie keine Empfehlungen abgeben. Aber auf Konferenzen erlebt man Sie schon, wie Sie Plädoyers für mehr Ganztag halten!

 

Schleicher: Ich kann auf der mir vorliegenden internationalen Datengrundlage ganz klar sagen, dass die Ganztagsschule mehr Raum bietet, um Lerndefizite auszugleichen und Talente zu fördern. Ich habe aber nie gesagt, dass Deutschland deshalb mehr Ganztagsschulen braucht. Das wäre sicherlich eine sinnvolle Schlussfolgerung, aber meine Aufgabe ist die der bildungspolitischen Analyse.

 

Wo ist die Grenze, Herr Schleicher?

 

Schleicher: Es gibt einen scharfen Trennstrich, den ich ziehe. Letztendlich muss die Politik entscheiden, was sie mit den Schulen vorhat. Natürlich wünsche ich mir, dass bildungspolitische Entscheidungen wissenschaftlich fundiert sind. Aber es bleiben politische Entscheidungen. Wenn die These von der Allmacht von PISA, die Herr Münch vertritt, richtig wäre, müssten wir überall dieselben Bildungssysteme haben. Haben wir aber nicht.

 

Münch: Natürlich hat jedes Bildungssystem seine eigene Tradition. Aber diese Tradition ist konfrontiert mit den Daten. Und eben nicht nur mit den Daten, sondern auch mit den Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Dadurch entsteht der Anpassungsdruck. Deshalb werden die Schulsysteme nicht genau wie in Finnland oder China. Aber es werden Elemente übernommen. In Deutschland die Bildungsstandards, die Orientierung auf die Kompetenzen im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Das hätte es ohne PISA nicht gegeben.

 

Schleicher: Die kompetenzorientierten Bildungsstandards kommen nicht von PISA, sondern weil die deutsche Bildungspolitik gesehen hat: Viele Länder mit leistungsstarken Schulen haben verbindliche Bildungsziele, anstatt jede Schule jedes Ziel vor Ort neu erfinden zu lassen. Ich halte das für eine richtige Beobachtung und eine gute Schlussfolgerung. Aber lassen Sie uns ehrlich sein: So wahnsinnig viel ist in Deutschland in Sachen Bildungsstandards bislang auch nicht passiert.

 

Herr Schleicher, Sie betonen die Wissenschaftlichkeit von PISA. Nun sagt Herr Münch in seinem Buch allerdings auch, die Bildungsforschung sei eine "weitgehend angewandte Forschung und dadurch naturgemäß Dienstleistung für die jeweils herrschende politische Agenda".

 

Schleicher: Natürlich ist die Bedeutung der Bildungsforschung gestiegen im vergangenen Jahrzehnt – so wie die Bedeutung der empirischen Forschung insgesamt. Die Verknüpfungen zwischen Bildungspolitik, Bildungsforschung und Bildungspraxis sind enger geworden. Zum Glück, wie ich finde. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass der überwiegende Teil der Bildungswissenschaften heute angewandt ist. Im Gegenteil, viele Lehrkräfte beklagen, dass die Bildungswissenschaften immer noch zu weit entfernt sind von ihrem Alltag, zu abgehoben. Dass die Bildungswissenschaften ihnen – mit Ausnahme der empirischen Bildungsforschung – zu selten Hinweise geben, wie sie ihre Arbeit besser konkret machen können.

 

"Wir haben es mit einem
Monopol zu tun"

 

Herr Münch, stellen Sie die empirische Bildungsforschung unter einen ideologischen Generalverdacht?

 

Münch: Wir haben es mit einem Monopol zu tun. PISA hat auf globaler Ebene betrachtet die Daten und trifft bei ihrer Erhebung und Verarbeitung Selektionsentscheidungen, wodurch das, was als Bildung gilt, definiert wird. Und genau hier, in dieser engen Konzentration auf die Basiskompetenzen, liegt die Verknüpfung zur politischen Agenda, die einen Namen hat: New Public Management. Sie definiert das datengetriebene Kontrollregime, das ich vorhin beschrieben habe.

 

Wer setzt diese Agenda?

 

Münch: Das sind bestimmte Modelle des guten Regierens, die sich nicht nur, aber auch in den Bildungssystemen global verbreiten. Dahinter stehen die PISA-Macher, aber auch Ökonomen sind maßgeblich beteiligt. Man möchte ein System etablieren, in dem man das Versprechen von mehr Autonomie an umfangreiche Kontrollen bindet. Das ist in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung genauso, auch an den Hochschulen gilt das.

 

Und das Ganze, wie Sie schreiben mit nur "mäßigem Erfolg?"

 

Münch: Exakt. Angesichts der mäßigen Erfolge und unübersehbaren und unerwünschten Nebenfolgen wird inzwischen massive Kritik an der Fortführung dieses neoliberalen Governments von Schulen mittels Schulautonomie, freier Schulwahl, Bildungsmärkten und vergleichenden Leistungstest geübt.

 

Warum nur Kritik? Wenn es so schlimm ist, wie Sie sagen, müssten die Regierungen PISA doch längst wieder eingemottet haben?

 

Münch: Ja, müssten sie. Aber die Testindustrie ist an einer Stelle eben doch sehr erfolgreich: in ihrer Lobbyarbeit.

 

Schleicher: Von dieser Lobbyarbeit weiß ich nichts. Ich weiß aber, dass das New Public Management keine Erfindung der OECD ist und bereits in den 80er Jahren entstand, als noch keiner an PISA dachte.

 

Münch: Natürlich ist das New Public Management keine Erfindung der OECD, aber es ist eine globale Reformagenda, der sich auch die OECD nicht entziehen kann.

 

"Wir leiden in der Bildungswelt unter
zu vielen Meinungen und zu wenig gesichertem Wissen"

 

Schleicher: Wie ich schon sagte: Verschiedene Forscher haben verschiedene Meinungen und Theorien, und eine davon ist das New Public Management. Und wie ich auch sagte, leiden wir in der Bildungswelt tendenziell unter zu vielen Meinungen und zu wenig gesichertem Wissen. Ich weiß auch nicht, warum Sie immer wieder mit der Testindustrie kommen. Einen Kritikpunkt möchte ich aber gern annehmen. Und zwar, dass die PISA-Tests im Moment einen noch zu engen Kompetenzbegriff als Grundlage haben, also einen zu starken Fokus auf Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist aber ein gutes Beispiel für den geringen Einfluss des OECD-Generalsekretariats im Verhältnis zu unseren Mitgliedstaaten. Ich persönlich würde nämlich genau diesen Kompetenzbegriff ändern. Hätten wir mehr zu sagen, würden wir mehr Gewicht auf soziale und emotionale Kompetenzen legen. Doch unsere Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, beharren auf dem Status-Quo.

 

Stimmen Sie denn mit Herrn Münch überein, dass PISA neben den unerwünschten Nebenfolgen in sich mäßig erfolgreich war?

 

Schleicher: Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. Vor 2000 gab es in Deutschland keine Debatte über frühkindliche Förderung in den Kitas, dafür gab es viele Leute, die sagten: „Mütter, die ihre Kinder in den Kindergarten geben, haben nicht deren Bestes im Sinn.“ Und glauben Sie, wir hätten ohne PISA den Trend zur Ganztagsschule bekommen oder die Bestrebungen, Schüler mit Migrationshintergrund besser zu fördern? Klar gibt es Länder, die noch mehr gemacht haben als Deutschland, Portugal zum Beispiel. Doch vor PISA haben die Bildungspolitiker auch hierzulande geglaubt, sie wüssten, was sie tun. Weil sie es immer schon so gemacht hatten und nichts Anderes kannten. Der Status Quo hat bis heute viele Unterstützer im Bildungssystem, und den hat PISA in Frage gestellt.

 

Münch: Ja, aber um welchen Preis? Viele Länder sind nach 2000 in Richtung New Public Management umgeschwenkt und haben seitdem ausgerechnet in den PISA-Tests immer schlechtere Leistungen erzielt. Großbritannien ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Hinter den dortigen Reformen steht der mit der OECD und Ihnen eng verbundene Michael Barber.

 

Laut Ihrem Buch der dritte Protagonist im "globalen bildungsindustriellen Komplex".

 

Schleicher: Michael Barber hat in der Administration von Tony Blair mitgearbeitet. Er ist genauso viel oder wenig ein Kollege von mir, wie er ein Kollege von Ihnen ist, Herr Münch!

 

Münch: Tatsächlich? Michael Barber war bei McKinsey und ist dann Chefberater bei Pearson geworden. Und hat als solcher doch sicherlich die Beteiligung von Pearson am PISA-Konsortium initiiert.

 

Schleicher: Absolut nein. Mit PISA hatte Michael Barber nie etwas zu tun. Und was das New Public Management angeht: PISA hat dessen Methoden in der Bildung eher in Frage gestellt, wie Sie selbst sagen, wenn Sie auf die schlechteren Ergebnisse Großbritanniens verweisen.

 

Münch: Sie können auch gern nach Finnland schauen. Warum schneidet Finnland inzwischen immer schlechter ab bei PISA? Weil es vom lehrerzentrierten Unterricht zum von der OECD favorisierten schülerzentrierten Modell übergangen ist. Während sich Deutschland, das nicht so stark umgeschwenkt ist, verbessert hat, ja mittlerweile fast an der Spitze liegt. Das haben viele noch gar nicht wahrgenommen, dass wir bei genauer Betrachtung inzwischen auf Platz 10 von 72 liegen.

 

Aber dann hat PISA doch zumindest in Deutschland Fortschritte gebracht, wie Herr Schleicher sagt?

 

Münch: Womöglich haben die Schulen in Deutschland auch nur gelernt, mit dem Test umzugehen.

 

"Welche Freiheitsgrade haben Schulen, die sich im Wettbewerb befinden?"

 

Kommen wir zu einer weiteren These von Ihnen, Herr Münch. Sie sagen, während die OECD viel von der Autonomie der Schulen rede, habe PISA faktisch dazu beigetragen, dass die Autonomie der Schulen geschrumpft sei.

 

Schleicher: Genau deshalb ist es doch immer schön, wenn man Daten hat. Denn diese Frage lässt sich empirisch klar beantworten. Die Freiräume der Schulen in Deutschland sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen. Nicht in allen Bundesländern gleichermaßen, aber in der Regel haben die Schulleitungen heute ein Mitspracherecht bei der Einstellung neuer Lehrer und auch bei der Frage, wen sie befördern wollen. Die Schulen können ihren Unterricht freier gestalten, die einzelnen Lehrkräfte können ebenfalls mehr selbst entscheiden.

 

Münch: Mal ehrlich, welche Freiheitsgrade haben Entscheidungen, die Schulen treffen, weil sie sich im Wettbewerb mit anderen befinden? Seit 2003 propagiert die Bertelsmann-Stiftung das Konzept der "eigenverantwortlichen Schule". Real bedeutet das einen viel höheren Aufwand an Berichten, Dokumenten und Evaluationen. Es gibt einen aussagekräftigen Bericht des Niedersächsischen Landesrechnungshofs, demzufolge durch die „eigenverantwortliche Schule“ in zehn Jahren 421 Millionen Euro in den Sand gesetzt wurden. Warum? Weil im Ministerium plötzlich nicht weniger Leute arbeiteten, sondern mehr, um die vermeintliche Autonomie der Schulen zu kontrollieren. Und gleichzeitig wurden den Lehrern in den Schulen immer mehr Berichtspflichten aufgehalst. Echte, professionelle Autonomie würde bedeuten, dass man die natürliche Autorität der Lehrerinnen und Lehrer gelten lässt, dass man ihnen Freiheit lässt bei der Umsetzung des Curriculums.

 

Schleicher: 2008 hat nur ein Viertel der Lehrkräfte in europäischen Kollegien gesagt: "Wenn ich in meiner Arbeit innovativer wäre, würde mich das Bildungssystem dafür belohnen." Die große Mehrheit nahm ihre Schulumgebung als innovationsfeindlich an. Heute ist das anders. Wir wissen das, weil wir die Lehrkräfte regelmäßig befragen. Heute berichten sie, dass sie mehr Freiraum erleben, um ihre Schulumgebung zu gestalten. Sie arbeiten auch mehr mit ihren Kollegen. Die professionelle Autonomie der Lehrkräfte ist deutlich gestiegen.

 

Bei allem Streit, Herr Schleicher, Herr Münch, an einer Stelle werden Sie sich vermutlich einig sein: In Deutschland sind Herkunft und Bildungserfolg immer noch eng miteinander verknüpft. Was muss passieren, damit sich das ändert?

 

Münch: Wir doktern seit 50 Jahren am Thema Bildungsgerechtigkeit herum. Vielleicht müssen wir uns irgendwann fragen, ob unsere Antwort die richtige ist. Wir wollen durch mehr Bildungsgerechtigkeit die Gesellschaft gerechter machen, über Bildungserfolge die ungleiche Verteilung von Wohlstand abbauen. Womöglich wäre der umgekehrte Weg vielversprechender: Wir müssen erst die Haushaltseinkommen gleicher gestalten, und daraus ergibt sich dann mehr Gleichheit in den Bildungszugängen. Das ist der Weg, den früher die skandinavischen Gesellschaften gegangen sind. Allerdings hat sich ja auch das inzwischen geändert.

 

"Wir doktern seit 50 Jahren am Thema Bildungsgerechtigkeit herum"

 

Schleicher: Wenn wir erst die Einkommen umverteilen wollen, bevor sich etwas an der Bildungsungerechtigkeit ändert, dann ändert sich nie etwas. Es ist doch auch nicht wahr, dass wir nicht vorangekommen sind in den vergangenen Jahrzenten. Vor PISA haben viele in Deutschland die Verteilung der Bildungschancen als gegeben angesehen. Sie seien entweder begabungsbedingt oder durch die Gesellschaft vorherbestimmt, hieß es. Jetzt wissen wir, dass man den Bildungszugang doch wesentlich offener und unabhängiger vom sozialen Hintergrund gestalten kann. Gezeigt haben uns das nicht die skandinavischen Länder, sondern Länder wie Kanada oder Japan mit einer Gesellschaftsstruktur, die Deutschland viel ähnlicher ist.

 

Finden Sie unser Bildungssystem gut, wie es früher war, Herr Münch?

 

Münch: Herr Schleicher hat uns immer gesagt, das mehrgliedrige Schulsystem stehe der Chancengleichheit im Weg. Dem sind wir weitgehend gefolgt. Womöglich hätten wir uns das mehrgliedrige System mal von der anderen Seite anschauen sollen. Womöglich wurde es den unterschiedlichen Begabungen gerechter. Weil es einen direkteren Zugang zum beruflichen Erfolg schaffte. Was bringt es denn, wenn wir 60 Prozent Hochschulabsolventen haben? Das bedeutet zu allererst eine Entwertung von Bildungstiteln. Dadurch gibt es keinen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz. Interessanterweise denkt an der Stelle inzwischen auch die OECD um und hat das duale Ausbildungssystem als Alternative zum Studium entdeckt.

 

Schleicher: Was machen denn erfolgreiche Länder wie Japan oder Kanada anders? Vor allem dieses: Sie schaffen es wesentlich besser als Deutschland, die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen zu gewinnen. In Deutschland ist es traditionell umgekehrt. Die leistungsfähigsten Lehrer konzentrieren sich traditionell an den Schulen mit den leistungsfähigsten Schülern, wodurch wir die Bedeutung der sozialen Herkunft nochmal verstärken.

 

Münch: Aber in diesen Ländern sind doch die strukturellen Voraussetzungen ganz andere! Die ostasiatischen Gesellschaften sind viel homogener als bei uns, der Migrationsanteil tendiert vielfach gegen Null. Und dort, wo es Einwanderer gibt, in Hongkong oder Macao zum Beispiel, handelt es sich um die chinesische Landbevölkerung mit hoher Bildungsmotivation. Das zieht die Ergebnisse hoch.

 

Schleicher: Genau das ist der größte Fehler, den wir machen können. Dass wir die Erfolge der Schulen auf irgendwelche Außenfaktoren schieben, die nichts mit Bildung zu tun haben und an denen sich folglich nichts ändern lässt. Nein, der internationale Vergleich zeigt, dass das Bildungssystem einen großen Teil der Verantwortung für die vorhandene Ungleichheit trägt – weshalb wir viel mehr tun können, als auf die große Sozialreform zu warten, die ich im Übrigen nicht für schlecht hielte. Stichwort bessere Diagnostik: Man hat in Deutschland angefangen, genauer und früher hinzuschauen, welche Schüler wo besonderen Förderbedarf haben. Und man hat entsprechend gehandelt, zum Beispiel durch mehr Sprachschulung für Schüler mit Migrationshintergrund und viele andere Einzelmaßnahmen. Deutschland hat beim Thema Bildungsgerechtigkeit immer noch die größte Baustelle, aber es geht aufwärts. 

 

Eine Kurzversion dieses Interviews erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Kommentare: 1
  • #1

    Mannheimer Studi (Montag, 25 März 2019 08:27)

    Es ist als wollte Herr Münch sagen: „verwechselt nicht die messbare Gesellschaft mit der tatsächlichen Gesellschaft.“
    Dem kann ich nur erwidern, dass man sie auch nicht mit der ausgedachten Gesellschaft verwechseln sollte.

    Entlarvend fand ich auch die Einschätzung des Senioprofessors Hochschulbildung sei ein Nullsummenspiel:
    „Was bringt es denn, wenn wir 60 Prozent Hochschulabsolventen haben? Das bedeutet zu allererst eine Entwertung von Bildungstiteln. Dadurch gibt es keinen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz.“
    Grotesk. Liegt es vielleicht an der Soziologie, die er praktiziert? Dann könnten wir diese ja bedenkenlos streichen.