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Wo bleibt der Europa-Pakt der Wissenschaft?

Kann die Wissenschaft Europa erneuern? Wer entscheidet über die EU-Wissenschaftspolitik? Ich suchte kurz vor der Europawahl in Brüssel nach Antworten - und erfuhr vieles über Silos, Kohäsion und Comics.

Sitz der EU Kommission, Brüssel Foto: Jai79 / Pixabay - cco.

ES IST EIN Thema, das einen EU-Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation jeden Tag beschäftigt. Sollte man denken. Doch Carlos Moedas von der portugiesischen Partido Social Democrata (PSD), seit 2014 im Amt, bedauert: Zur Frage, wie es um die Wissenschaftsfreiheit in Europa bestellt ist, könne er sich leider nicht äußern, sagt seine Sprecherin. "Das Thema ademische Freiheit liegt im Bereich des Kommissars Navracsics."

 

Der übrigens Ungar ist und der Regierungspartei Fidesz angehört. Deren Wissenschaftspolitik gerade dafür gesorgt hat, dass die Central European University nach Wien emigriert. Als Tibor Navracsics vor bald fünf Jahren Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Sport werden wollte, lehnte das EU-Parlament zunächst ab – um ihn dann zu bestätigen, ihm aber im Gegenzug die Zuständigkeit für Bürgerrechte zu entziehen.

 

Ihn also, schlägt sein Kollege Moedas aus dem Forschungsressort vor, solle man nach dem Zustand der Wissenschaftsfreiheit fragen. Womöglich ist das ja ironisch gemeint vom Portugiesen Moedas, subversiv irgendwie. Wahrscheinlicher ist aber, dass hier einmal mehr das "Silodenken" durchschlägt, von dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU-Kommission ständig sprechen in diesen Tagen, immer verbunden mit dem Schwur, dass man doch genau das überwinden wolle. 

 

Kann die Wissenschaft das EU-Projekt retten?

 

Nein, Europa, genauer: seine in Brüssel ansässige Manifestation, macht sie einem nicht leicht, die Suche nach den gemeinsamen europäischen Idealen und wie sie sich in der europäischen Wissenschaftspolitik wiederfinden. Doch ist es nicht gerade die Wissenschaft, die in nationalen Grenzen gar nicht denkbar ist? Sind nicht, wie Margret Wintermantel, die Präsidenten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), es formuliert, "die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer die ersten, die Barrieren überwinden, die im Denken und zwischen Disziplinen genauso wie die politischen"? Müsste die Rettung des so gefährdeten europäischen Projekts deshalb nicht von genau hier ausgehen, aus den Hörsälen und Laboren des Kontinents? Und müsste deshalb die Europäische Kommission nicht kämpfen, was das Zeug hält, um einen Europa-Pakt der Wissenschaft anzuschieben?

 

Das sind die Fragen, mit denen die Recherche für diese Geschichte beginnt, und es sind auch die Fragen, mit denen sie enden wird. Dazwischen liegen zwei Reisen nach Brüssel, unzählige Mails mit Presseleuten und Gespräche in den Büros derjenigen Akteure, die über die Zukunft von Europas Wissenschaftspolitik entscheiden. Und damit indirekt auch über die Zukunft Europas als politische Idee. Doch sind sie sich dessen auch bewusst?

 

Wenn dem so ist, so lassen sich zumindest einige ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das nicht anmerken. Ein Pressegespräch mit Kommissar Moedas über Europas Ideale? Ein volles Interview "zu gestatten" sei ja nicht "unüblich", teilt die Sprecherin großzügig mit, doch die Presseplanung des Kommissars habe "diesmal" ergeben, dass es keines geben werde. Ein paar schriftliche Fragen seien aber in Ordnung.

 

Ein paar Tage später trudeln die Antworten ein, genauer gesagt: ein längliches Statement, das kaum zu den eingeschickten Fragen passt und auf diese auch nicht direkt eingeht. Von "exzellenter Forschung" ist darin die Rede, von zusätzlichen Ambitionen, die nötig seien, um die globale "Pole Position" zu halten. Und dass der Schlüssel zu allem "Offenheit" sei, und dass das allem zugrundeliegende Motto laute: "Zusammen können wir mehr erreichen, bessere und großartigere Dinge". 

 

Kommissar und Generaldirektor zusammen? Unüblich!

 

Moedas "Presseplanung" scheint indes nicht nur die Sorge umzutreiben, er könnte inhaltlich mit seinem Kommissarkollegen Navracsic ins Gehege kommen, auch andere Inkonsistenzen in der Außendarstellung gilt es offenbar zu vermeiden. Weswegen seine Sprecherin ihre per Mail verschickten Erläuterungen dessen, was man in Sachen Interviews für "üblich" halte, noch erweitert um eine Beschreibung dessen, was "unüblich für uns" sei: ein Interview "mit Generaldirektor und Kommissar im gleichen Artikel" zu erlauben.

 

Der Generaldirektor der EU-Kommission für Forschung und Innovation heißt Jean-Eric Paquet und empfängt mich an einem grauen Dienstagmorgen Ende Januar 2019. In seinem Büro in der obersten Etage des ebenfalls grauen Verwaltungsgebäudes am Square Frère-Orban steht eine Sitzgruppe mit schreiend roten Polstern. Den zweiten Kontrapunkt setzt Paquet selbst mit seinem maßgeschneiderten Anzug, dem wachen Blick und der Fähigkeit, mit ein paar Gesten Intimität herzustellen. Indem er sich während des Gesprächs nach vorn beugt. Indem er gekonnt zwischen Deutsch und Englisch wechselt. Und bei einigen Fragen freimütig einräumt, dass er darüber erstmal nachdenken muss.

 

Das ist also der oberste EU-Beamte für Forschungspolitik, direkt hinter dem Kommissar, ein eleganter Franzose Anfang 50, und die Aura von Weltläufigkeit und Nahbarkeit wäre perfekt, wenn die Pressesprecherin nicht schon auf dem Weg nach oben betont hätte, wie außergewöhnlich es sei, dass sich der Herr Generaldirektor extra eine halbe Stunde Zeit nehme. Wenn nicht schon nach 22 Minuten das erste Mal an die Bürotür geklopft würde, als Zeichen, dass die halbe Stunde demnächst herum ist.


 

"Unsere Forschungspolitik dient auch dazu, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen."

  

 

Jean-Eric Paquet

Generaldirektor für Forschung und Innovation der Europäischen Kommission.

 

Foto: International Transport Forum / flickr - CC BY-NC-ND 2.0 



So bittet Paquet auch gar nicht erst zur Sitzgruppe, sondern setzt sich an einen langen Besprechungstisch. Und dann spricht er über Europa als "soziales Gefüge", dessen Fundament die Demokratie und die Rechtstaatlichkeit seien. "Die Leute vergessen manchmal, dass sie es sind, die Europa ausmachen und bestimmen", sagt er. "Sie haben das Gefühl, dass sie keinen Einfluss haben auf das, was in Brüssel passiert, und dabei ist es genau andersherum: Nur sie können die Europäische Union verändern und weiterentwickeln."

 

Die Distanz zwischen der EU und den Bürgerinnen und Bürgern: Jeder Brüsseler Gesprächspartner kommt sofort auf dieses Thema, und die Einschätzungen, die sie dazu abgeben, sind so richtig, wie sie routiniert und eingeübt wirken. Kein Wunder im Jahr drei nach dem britischen Brexit-Referendum. Doch was folgt praktisch daraus? Was kann die Forschungspolitik, was kann die Wissenschaft beitragen, um die Kluft zu überwinden?

 

"Wir müssen deutlicher machen als bislang, dass unsere Forschungspolitik auch dazu dient, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen", sagt Paquet. Das Ziel sei ja längst im laufenden Forschungsprogramm "Horizon 2020" verankert, "aber in den öffentlichen Debatten fällt das oft unter den Tisch." Gekonnt jongliert der Generaldirektor mit Statistiken, die belegen sollen, dass das EU-Budget für Forschung beachtlich sei, viel größer gar, als man auf den ersten Blick denken könnte.

 

Und dann sagt Paquet noch etwas, was ebenfalls in allen Gesprächen früher oder später auftaucht: Es gehe darum, den "Added Value" Europas deutlich zu machen. Fast so, als sei die EU ein Projekt im Sonderangebot. Der "Added Value", sagt Paquet, bestehe darin, Europas fragmentierte Wissenschaftslandschaft zusammenzubringen und als Ganzes stärker und exzellenter zu machen.

 

Europas Forschungs-Ideale im Schnelldurchlauf

 

Paquet spricht von neuen Strategien, um die Wissenschaft und die Gesellschaft an der Formulierung des "Horizon 2020"-Nachfolgeprogramms zu beteiligen, in einem großen "Co-Design-Prozess" würde die Kommission in diesem Frühjahr 2019 die Wissenschaftsorganisationen an der forschungspolitischen Prioritätensetzung beteiligt. Und um den Input der Bürgerinnen und Bürger abzuholen, sei man dabei, die "passenden Instrumente" zu entwickeln.

 

Auch das klingt alles, schick, angemessen und doch irgendwie kopflastig und unkonkret. Nur einmal wird Paquet, der Politik, Europäische Verwaltung und Germanistik studiert hat, emotionaler. Ob die Ideale, die Europas Mitgliedstaaten teilen, sich in einer Forschungspolitik niederschlagen, die anders ist als die der USA oder Chinas? "Unbedingt", sagt Paquet und redet noch schneller als sonst. Europas Wissenschaft sei wesentlich stärker auf Fragen der ethischen Verantwortung ausgerichtet, auf akademische Integrität und auf die Achtung vor den persönlichen Daten der Bürger.

 

"Vor ein, zwei Jahren wurde gerade der strenge Datenschutz noch als Nachteil für unsere Entwicklung kritisiert. Jetzt merken immer mehr, dass im Gegenteil dadurch neue Innovationen ausgelöst werden." Und die fünf neuen "Europäischen Missionen", die der Wissenschaftspolitik eine auch nach außen sichtbare Richtung geben sollen, seien ebenfalls Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses, von der Klimaforschung über plastikfreie Ozeane und saubere Städte und fruchtbare Böden bis hin zur Krebsforschung.

 

Atemlos sagt Paquet die letzten Sätze, dann, nach genau 30 Minuten und 28 Sekunden, steht er auf. Es tue ihm leid, der nächste Termin, man wisse schon. Europas Ideale im Schnelldurchlauf.

 

Ein paar Straßen entfernt ist ein anderer Protagonist der europäischen Wissenschaftspolitik nicht weniger in Eile. Schon als seine Sekretärin den Besucher im Foyer abholt und mit dem Aufzug in den 24. Stock begleitet, startet sie einen Versuch. Der Chef müsse gleich in eine Besprechung mit EU-Parlamentariern und dann in den Flieger, ob man das auf 30 Minuten angesetzte Interview wohl auch auf 20 Minuten kürzen könne?

 


 

 

 

"Wir als ERC haben eine Verantwortung für Europa, und wir erfüllen sie auch."

 

 

 

 

Jean-Pierrre Bourguignon

Päsident des „European Research Councils“ (ERC)

 

 

Foto: World Economic Forum / flickr - CC BY-NC-SA 2.0



Jean-Pierre Bourguignon selbst lässt sich den Zeitdruck nicht anmerken. "Kommen Sie rein, nehmen sie irgendwo Platz", sagt er auf Deutsch und macht eine einladende Handbewegung, die sein ganzes Büro umfasst. Was nicht schwer ist, denn es ist nicht einmal halb so groß wie das von Generaldirektor Paquet. Und noch dazu vollgepflastert mit Akten und Pappkartons auf dem Boden, aus denen Comic-Bücher hervorlugen. Später wird er sichtlich stolz erzählen, was es mit denen auf sich hat.

 

ERC oder das Gegenteil von Kohäsion

 

Man mag es dem Büro nicht ansehen, doch der Ausnahmemathematiker Bourguignon, ebenfalls Franzose, gilt als besondere Autorität an Europas Hochschulen und Forschungsinstituten. Nicht nur aufgrund seines Alters, er ist 71, und auch nicht allein dank seiner akademischen Verdienste. Sondern vor allem auch wegen der Organisation, die hinter ihm steht. Bourguignon ist Präsident des 2007 gegründeten "Europäischen Research Council" (ERC), des Europäischen Forschungsrates, und der ERC hat etwas geschafft, womit andere europäische Institutionen sich schwertun: Er hat sich innerhalb weniger Jahre einen legendären Ruf erarbeitet. Vielleicht ja, weil seine Funktionslogik so sehr abweicht von dem ansonsten in der EU-Politik so zentralem Prinzip der "Kohäsion". Kohäsion bedeutet die Stärkung des europäischen Zusammenhalts durch eine breite Verteilung von Fördermitteln, die besonders die Schwächeren stärken sollen.

 

Der ERC tut das Gegenteil: Er belohnt die Besten, nicht die Bedürftigsten. Allein zwischen 2014 und 2020 kann der Forschungsrat 13 Milliarden Euro für die Förderung von Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ausgeben; die sogenannten "ERC-Grants" gelten inzwischen weltweit als Markenzeichen exzellenter Grundlagenforschung. Wer einen ERC-Grant bekommt, entscheiden nicht Politiker, Politikerinnen oder Beamte, sondern allein die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Auswahlpanels. Mit dem Ergebnis, dass ein kleines Land wie die Niederlande mehr "Grants" errungen hat als Italien.

 

Und dass Großbritanniens Wissenschaft mit großem Abstand vor Deutschland die ERC-Rangliste anführt. Wie kann da sein? Muss er nicht ständig die Begehrlichkeiten der weniger erfolgreichen Mitgliedstaaten abwehren? "Nein, nein", sagt Bourguignon und schmunzelt. "Es lebt sich für den ERC wunderbar sicher in der Nachbarschaft der Europäischen Kommission." Soll wohl heißen: Die Kommission weiß genau um den Imagegewinn, den ihr der Forschungsrat beschert. Weswegen sie ihn im Zweifel auch sehr effektiv verteidigt. "Der ERC demonstriert, dass die Kommission zu mutigen Entscheidungen fähig ist", sagt Bourguignon.

 

Vielleicht ist das ja auch schon das ganze Geheimnis. Gerade weil der ERC so anders ist, als Europa sonst in der Öffentlichkeit herüberkommt, sichert er der europäischen Idee die Akzeptanz und Anerkennung, die sie gerade jetzt so dringend braucht. Und erinnert daran, dass Europa neben der Kohäsion als Ziel auch immer hatte, gemeinsam wettbewerbsfähiger zu werden. Genau so, sagt Bourguignon, laute auch seine Antwort an Politikerinnen und Politiker in denjenigen Mitgliedstaaten, die sich über mangelnde ERC-Erfolgsquoten beklagen. "Sie sollten die Förderstatistiken als Anreiz begreifen, besser zu werden."

 

Gerade laufen die Verhandlungen für das neue Forschungsrahmen-Programm "Horizon Europe", sie stehen unter den Vorzeichen des Brexit und damit dem Abschied des zweitgrößten EU-Nettozahlers. Der Druck auf den EU-Wissenschaftsetat ist zwar nicht so hoch wie auf andere Bereiche, da Großbritannien mehr bekommt, als es einzahlt, aber die politischen Forderungen steigen schneller als die Finanzierung. Die Kommission will deshalb für Forschung und Entwicklung fast 100 Milliarden Euro vom EU-Budget, verteilt auf sieben Jahre. Das wären real rund 20 Milliarden mehr als im noch laufenden "Horizon 2020" – bei einem Mitgliedstaat weniger.

 

Und jetzt auch ein Europäischer Innovationsrat

 

Dafür soll neben den Forschungsprogrammen für "Gesellschaftliche Herausforderungen und industrielle Wettbewerbsfähigkeit" (Stichwort "European Missions") und der Förderung der Grundlagenforschung (die vor allem den ERC und die "Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen" für mehr Austausch und mehr Mobilität von Wissenschaftler/-innen umfasst) die sogenannte dritte "Säule" komplett neu strukturiert und allein der "offenen Innovation" gewidmet werden, also der marktnahen Entwicklung. Und dazu soll, weil der ERC eine so atemberaubende Karriere hingelegt hat, auf Initiative von Kommissar Moedas jetzt auch ein "European Innovation Council" (EIC), ein Europäischer Innovationsrat, an den Start gehen, ebenfalls ausgestattet mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. In "Horizon 2020" gab es den nur als Pilot, und noch immer sind nur seine Konturen erkennbar.

 

Was aber schon klar ist: Da erwächst im Kampf um künftige Fördermittel möglicherweise ein mächtiger Konkurrent für Bourguignons ERC. Sorgt ihn das? "Natürlich bedeutet der EIC finanziell mehr Wettbewerb für uns", sagt Bourguignon. "Es muss aber darum gehen, bestehende Silos aufzubrechen, ich hoffe sehr, der EIC führt zu mehr Synergien zwischen den Playern." Das darf man getrost als Warnung verstehen; weil Bourguignon aber die EU-Logiken zu bedienen weiß, schickt er gleich noch einen netten Satz hinterher: "Ich finde, die Debatten dazu verlaufen bislang sehr konstruktiv."

 

Und wenn er schon bei "Silos" ist, hält der ERC-Chef auch gleich die Rede zu den "Added Value", den Europas Politik immer bieten müssen, auch und gerade in der Wissenschaftspolitik. Zum "Added Value" zählten Europas Vielfalt, die Diversität seiner Bürgerinnen und Bürger, die nur dann ein Handicap seien, wenn Europas Politik sie nicht nutze. Was Europa außerdem ausmache, findet Bourguignon, sei die kritische Masse, die den Wettbewerb auf Augenhöhe mit den USA, China oder Indien überhaupt erst ermögliche. Und zugleich die Abhängigkeit kleiner Staaten von großen verringere.

 

Tut Bourguignons ERC genug, um in der Öffentlichkeit für diese Werte Europas einzutreten? Oder sieht der Forschungsrat das womöglich gar nicht als seine Aufgabe, weil er die Spitzenforschung fördern soll und keine politischen Ideale? "Doch, doch", sagt Bourguignon, als seine Sekretärin schon in der Tür steht, in der Hand die Reiseunterlagen. "Wir als ERC haben eine Verantwortung für Europa, und wir erfüllen sie auch." Indem seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ausstellungen in Forschungsmuseen organisieren zum Beispiel. Und viele ERC-Preisträger seien großartige Wissenschaftskommunikatoren, sagt Bourguignon, steht auf und hält dann nochmal kurz inne: Ach ja, und die Comics. "Der ERC war gerade bei einem großen Comic-Festival, um ERCcOMICS vorzustellen. Dafür haben wir Bücher drucken lassen, die in Comics die Projekte der ERC-Wissenschaftler zeigen. Wollen Sie einen?"

 

Die Verantwortung der Forschung für Europas Zukunft, so scheint es, liegt irgendwo zwischen dem Beschwören großer Ideale und dem Drucken von Bildergeschichten. Eine nicht sonderlich spektakuläre Realität, aber womöglich ist es auch genau das, was Europas Forschungspolitik wirksam und Brüssels Bürokratie stark macht. Sie hält Kurs, sie entwickelt sich behutsam, sie ist nicht anfällig für populistische Tendenzen. Aber braucht es nicht doch auch das große Narrativ, die grundsätzliche Erschütterung, den Aufbruch in Zeiten von Brexit, Wissenschaftsfeindlichkeit und antidemokratischen Tendenzen? 

 

"Schade eigentlich"

 

"Es wäre falsch, all das von der Europäischen Kommission zu erwarten", sagt Peter-André Alt, der Präsident der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK). "Europa setzt den Rahmen, wir als Hochschulen müssen ihn ausfüllen." Natürlich sei auch klar, dass die Hochschulen allein nicht die Versäumnisse der Politik, Europa den Bürgerinnen und Bürgern nahe zu bringen, reparieren könnten. "Aber wir sind schon eine Art Rollenmodell für Europa. Was die Wissenschaftler in Europa verbindet, sind nicht nur unsere gemeinsame Kultur und Geschichte, sondern auch dieselben Grundwerte und ethischen Maßstäbe."


 

 

"Ich habe noch nie einen Forscher mit EU-Förderung sagen hören: 'Ich forsche für Europa'. Schade eigentlich."

 

 

 

Prof. Dr. Peter-André Alt

Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK)

 

 

Foto: Wikipedia / David Aussenhofer - CC BY-SA 4.0



Deshalb setzt Alt auch große Hoffnungen in die Etablierung der sogenannten Europäischen Universitäten, europaweite Netzwerke von Hochschulen, die die Kommission derzeit per Pilot-Ausschreibung fördert. Allerdings nicht auf eigene Initiative, sondern erst nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich für die Idee stark gemacht hatte. Vielleicht lasse sich so endlich auch die Identifikation der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Europa stärken. "Ich habe noch nie einen Forscher mit EU-Förderung sagen hören: Ich forsche für Europa. Schade eigentlich", sagt Alt.

 

Der Realismus der Hochschulmanagerin

 

"Seien wir realistisch", sagt demgegenüber DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel. "Natürlich wird es den Hochschulen auch bei den Europäischen Universitäten zu einem guten Teil darum gehen, zusätzliche Fördermittel einzuwerben." Was auch kein Wunder sei angesichts ihrer fast europaweit beklagenswerten Unterfinanzierung. Doch wenn es gut laufe, sagt Wintermantel, könnten wirklich, neue grenzüberschreitende Initiativen entstehen, in der Entwicklung gemeinsamer Curricula, der Anrechnung von Studienleistungen oder in der Forschungskooperation. "Das wäre für den Hochschulbereich und auch kulturell ein großer Fortschritt", sagt die 71-jährige Psychologieprofessorin, die Präsidentin der Universität des Saarlandes war und Alts Vor-Vorgängerin als HRK-Chefin. So hört er sich an, der Traum von Europa, verpackt in den Realismus einer Hochschulmanagerin mit jahrzehntelanger Erfahrung.


 

"Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind immer die Ersten, die Barrieren überwinden" 

 

 

Prof. Dr. Margret Wintermantel Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)

 

Foto: Wikipedia / HRK / Fiegel - CC BY 3.0



Peter-André Alt kündigt derweil an, die HRK werde "noch lauter" als bislang für Europa trommeln. "Wenn wir Forderungen stellen für das Forschungsprogramm ‚Horizon Europe‘, dann müssen wir als Hochschulen auch einstehen für die europäische Idee."

 

Themis Christophidou wird solche Bekenntnisse mit Freuden vernehmen. Denn als sie ein paar Tage zuvor erklären soll, warum Europa so unpopulär ist, wenn Europa doch so viel für seine Bürgerinnen und Bürger leistet, bekommt die Fassade der EU-Spitzenbeamtin kurzzeitig Risse. Es sei Mode geworden, schimpft die Zypriotin, "dass Politiker in den Nationalstaaten über einen mit EU-Mitteln finanzierten Hörsaal sagen: Der kommt von mir, genauso wie die neue Straße oder Brücke. Aber die bösen Regeln, die kommen alle aus Brüssel."

 

Christophidou ist wie Paquet Generaldirektorin der EU-Kommission, zuständig für Bildung, Sport, Jugend und Kultur und damit die Nummer zwei hinter Kommissar Navracsics. Und sie nimmt sich Zeit, wie sie da in ihrem Büro sitzt, das genauso ausladend ist wie das ihres französischen Kollegen, mit cremefarbenen Ledermöbeln ausgestattet und einer riesigen Europaflagge hinter ihrem Schreibtisch. Sie bietet sogar Kaffee an. Und während sie den Namen ihres umstrittenen Chefs kein einziges Mal erwähnt in dem knapp einstündigen Gespräch, redet sie umso ausführlicher über Erasmus, neben dem ERC die andere von nur zwei weltweit bekannten Marken, die die Europäische Union vorweisen kann.

 

Erasmus, das ist für Christophidou ein Förderformat, das jedes Jahr hunderttausende Studierende, Schülerinnen und Schüler, Auszubildende sowie Lehrerinnen und Lehrer durch Europa schickt. Erasmus, sagt die Generaldirektorin, das seien aber auch die ungefähr eine Million Kinder mit Eltern aus zwei unterschiedlichen europäischen Staaten, die aus über 30 Jahren Austauschprogramm hervorgegangen seien. Das ist keine besondere originelle Bemerkung; mit den "Erasmus-Babys" wirbt die Kommission seit langem und gibt vor, sie täte es mit einem Augenzwinkern.

 

Doch für Christophidous Version der europäischen Ideale sind sie zentral. Christophidous Idee von Europa, die es zu verteidigen und zu fördern gilt, sind der soziale Ausgleich zwischen Menschen und Nationen und das Gefühl, zusammenzugehören. "Demokratie und Menschenrechte haben zum Beispiel die Amerikaner auch. Aber bei uns gilt nicht das Recht des Stärkeren, und wer nicht stark ist, hat halt Pech gehabt. Das unterscheidet uns Europäer von den USA und Asien."

 

Erasmus für die restlichen 96 Prozent

 

Es ist die altbekannte Idee der Kohäsion, aber zur Abwechslung mal enthusiastisch und gänzlich unbürokratisch vorgetragen. Mit einem klaren Ziel: "Es gibt eine Menge Dinge, um die ich Amerika nicht beneide", sagt Christiophidou. "Aber darum schon: um dieses so natürliche gemeinsame Zugehörigkeitsgefühl von Menschen, die von der Herkunft ähnlich unterschiedlich sind wie die Bürger Europas." Nur wenn Europa es schaffe, diese Zugehörigkeit zu stärken, werde es auf Dauer bestehen.

 

Lässt man sich auf die Logik der studierten Ingenieurin ein, ist es folgerichtig, dass Christophidous Schlussfolgerung lautet: mehr Erasmus. Genauer gesagt: Doppelt so viel Geld, damit dreimal so viele Menschen an den Austauschprogrammen teilnehmen können. So steht es im Vorschlag der EU-Kommission. Christophidou sagt: "Bislang haben vier Prozent von Europas Bürgern von Erasmus profitiert. Jetzt wollen wir uns auch um die anderen 96 Prozent kümmern."


 

"Es wäre ein Zeichen mangelnder politischer Urteilskraft, wegen des Brexits das Erasmus-Budget zu kürzen."

 

Themis Christophidou Generaldirektorin für Bildung, Jugend, Sport und Kultur der Europäischen Kommission

 

Foto: Copyright EU



Aber liefe das nicht zwangsläufig auf ein Billigheimer-Erasmus hinaus? "Ich will ja nicht vor allem mehr Studenten schicken", sagt sie. In erster Linie ginge es um mehr Schüler, mehr Azubis, mehr Lehrer. Deren Auslandsaufenthalte seien kürzer, nicht jeder könne für sechs Monate gehen. Effektiv könne auch ein Mix aus physischem und virtuellem Austausch sein, etwa per Videokonferenz, sagt Christophidou. Und im Übrigen plädiere sie dafür, stärker als bislang zwischen bedürftigen und weniger bedürften Studenten zu unterscheiden. Bei den Reicheren könnte doch schon das Label ausreichen, die Betreuung drumherum. Die bräuchten kein Stipendium.

 

Plötzlich ist die Generaldirektorin doch wieder in den Niederungen der Umsetzung angekommen. Plötzlich klingt auch sie so technisch wie die Klischees, die den Brüsseler Beamten immer vorgehalten werden. Vielleicht spürt Christophidou das ja auch, jedenfalls geht sie schnell in ein leidenschaftliches Plädoyer über. "Es wäre ein Zeichen mangelnder politischer Urteilskraft", sagte sie, "wegen der finanziellen Folgen des Brexit das Erasmus-Budget parallel zum EU-Budget insgesamt zu kürzen." Wenn man schon sparen müsse, dann gebe es anderswo Milliarden, die weniger wehtäten, sagt die Generaldirektorin, die schon in den unterschiedlichsten Generaldirektionen gearbeitet hat, unter anderem jahrelang in der EU-Behörde für Regionalpolitik.

 

Und die Wissenschaftsfreiheit?

 

So endet sie, die Suche nach Europas Verantwortung für die Wissenschaft. Mit einem Plädoyer für mehr Geld. Mit Bekenntnissen zum sozialen Zusammenhalt, zu Exzellenz, zu einer Forschungsförderung, die sich auf gesellschaftlich relevante Themen konzentrieren soll. Alles wichtig, alles gut. Doch steht die Frage vom Anfang auch am Ende: Reicht das angesichts der substantiellen Krise der EU? Müsste die Europäische Kommission nicht kämpfen, was das Zeug hält, um einen solchen Europa-Pakt der Wissenschaft anzuschieben? Und noch eine zweite Frage ist am Ende offen: Was ist jetzt eigentlich mit der Wissenschaftsfreiheit?

 

Die Anfrage an Tibor Navracsics umfasst genau zwei Fragen. Erstens: "Sind Sie besorgt über den Zustand der Wissenschaftsfreiheit in einigen EU-Mitgliedstaaten?" Zweitens: "Formuliert die Kommission ihre Bedenken laut genug, und tun Sie das auch persönlich?"

Die Antwort des zuständigen EU-Kommissars für Bildung, Kultur, Jugend und Sport bis heute: keine. 

 

Dieser Artikel erschien zuerst im DSW Journal 1/2019.

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