· 

Scheinheilige Reformer

Der Bologna-Prozess wird 20. Ein Blick auf Anspruch und Wirklichkeit des reformierten Hochschulsystems im Gastbeitrag von Jörn Loviscach.

Jörn Löviscach. Foto: privat.

DIE KNAPPE BOLOGNA-ERKLÄRUNG zur Schaffung eines europäischen Bildungsraums, am 19. Juni 1999 von 31 Vertreterinnen und Vertretern 29 europäischer Staaten unterzeichnet, hat eine – zumindest äußerlich – massive Umgestaltung des Hochschulsystems in Gang gesetzt. Die Erklärung umfasste die Zweistufigkeit (bei uns Bachelor und Master) und das European Credit Transfer System (ECTS) für Leistungspunkte. Zwei weitere das Bild von "Bologna" bestimmende Elemente sind zwar in der Erklärung selbst nicht erwähnt, aber sie finden sich in begleitenden Dokumenten: die sogenannte Modularisierung und die Orientierung auf Kompetenzen im Sinne der beruflichen Bildung.

 

Schaut man sich die Realität nach 20 Jahren an, muss man allerdings feststellen, dass die praktische Umsetzung vieler dieser Konzepte gravierende Mängel zeigt. Am offensichtlichsten ist dies beim Schlagwort "Kompetenzorientierung". An der Hochschule dürfte dieser dehnbare Begriff wohl meist im breiten Sinne verstanden werden: Können, Wollen und Fühlen statt nur Faktenwissen; Output-Orientierung mit vordefinierten Lernergebnissen, die auch als Richtschnur für Lehren, Lernen und Prüfen dienen ("Constructive Alignment"); eine Rangordnung von Kompetenzen; alternative Prüfungsformen; Berufsqualifizierung als oberstes Ziel.

 

Ich möchte den Anlass nutzen, um anhand der Kompetenzorientierung die Probleme der Reform-Realität an vier Punkten aufzuzeigen. Einen längeren, derzeit offen kommentierbaren Essay dazu finden Sie hier.

 

 

1. Wir setzen die Ideen von Bologna an vielen Stellen nur scheinbar, ja scheinheilig um.

 

Der einzige Zeitpunkt, zu dem Lehrende zwangsweise mit der Kompetenzorientierung konfrontiert sind, ist beim Verfassen von Modulbeschreibungen. Dort hat man sich streng am Muster "Die Studierenden lösen/entwickeln/vergleichen …" zu orientieren.

 

Neben dieser Pflichtübung findet sich hier und da noch eine Kür: kompetenzorientierte Prüfungsformen. Mit Referaten ohne anschließende mündliche Prüfung übt man jedoch möglicherweise vor allem die Vorspiegel-Kompetenz; mit locker betreuten Gruppenprojekten die Trittbrettfahr-Eignung, mit der Produktion studentischer Lehrvideos die Pappfigur-Ausschneide-Kompetenz. Man kann versuchen, mit detaillierten Beurteilungsrastern zu definieren, welche Leistungen in solchen freieren Aufgaben verlangt werden, stößt dann aber auf ein Grundproblem des Managements: Zielvorgaben lassen sich überraschend kontraproduktiv erfüllen.

 

Die in den Modulbeschreibungen anzugebenen Leistungspunkte sind aufgerundet (pauschal mit 15 Wochen Veranstaltungszeit und pro Semesterwochenstunden 60 statt 45 Minuten gerechnet). Die für ein Studium tatsächlich aufgewendete Zeit liegt meist noch viel deutlicher unter dem Plan.

 

 

2. Wir ignorieren die Zeitdimension des Werdens und Vergehens von Kompetenzen.

 

Ein Modul gilt, einmal bestanden, ein Leben lang (siehe Frage 43 der Handreichungen der Hochschulrektorenkonferenz). Die Note besteht also viel länger als alles Können. Dies widerspricht der Orientierung an Kompetenzen statt an Inhalten. Ganz anders etwa beim TOEFL-Sprachtest: Der verliert nach zwei Jahren seine Gültigkeit.

 

Schon allein festzustellen, ob eine Kompetenz nachhaltig aufgebaut worden ist, verlangt mehr als eine einzige Prüfung. Es darf aber im Regelfall nur eine Prüfung pro Modul geben (siehe Paragraph 12, Absatz 5, Ziffer 4 der Musterrechtsverordnung zum Studienakkreditierungsstaatsvertrag). Man vergleiche dies mit den USA, in denen drei oder mehr Noten pro Kurs selbstverständlich sind.

 

 

3. Wir sortieren Kompetenzen nach problematischen Rangstufen.

 

Gängig ist eine Einteilung in Rangstufen, meist nach der aus dem Jahr 1956 stammenden Bloom-Taxonomie (unterste Stufe: sich an eine Idee oder ein Phänomen erinnern, oberste Stufe: beurteilen bzw. in einer moderneren Version: schöpfen). Mangels empirischer Unterfütterung ist die Bloom-Taxonomie aber weit weniger belastbar als zum Beispiel die Systematik der Lebewesen in der Biologie.

 

Die Rangordnung der Taxonomie soll bedeuten, dass ihre höheren Stufen auch alle jeweils niedrigeren Stufen abdecken. Dieser Denkansatz ist gefährlich, denn Argumentation (höhere Stufe) ohne Faktenwissen (niedrigere Stufe) befördert genau das, was wir in jüngerer Zeit an Desinformationskampagnen auf Facebook & Co. beklagen. Beurteilen oder Analyse wiederum spiegeln vielleicht nicht mehr als den gesunden Menschenverstand wider (siehe etwa das gängige CHC-Modell) – vorgesetzt, die Grundlagen werden beherrscht.

 

Die Betonung der hohen Stufen führt dazu, dass das systematische Üben der Grundlagen geringgeschätzt wird. In der klassischen Musik oder im Sport würde ein solcher Fehlgriff schnell hör- oder sichtbar werden. Kommunikation, Denken und Kreativität können aber nur gelingen, wenn das Arbeitsgedächtnis mit der nötigen Zahl an Sinneinheiten ("Chunks") gleichzeitig jonglieren kann, ein oft bestätigter Klassiker der Psychologie. Deshalb besteht der Schlüssel zur Bewältigung komplexer Aufgaben darin, hinreichend mächtige Sinneinheiten zu kennen und eingeübt zu haben.

 

 

4. Wir würfeln Module zusammen, statt Kompetenzen durch Vernetzung aufzubauen.

 

Die Zersplitterung in großzügig kombinierbare Module steht im Widerspruch zur Kompetenzorientierung: Erstens müssten die Module dazu nicht nur im Aufbau des Fachlichen zusammenpassen, sondern auch im Aufbau der übrigen Kompetenzen – ein vieldimensionales Puzzle. Zweitens geschieht effektives und nachhaltiges Lernen nicht additiv, sondern durch Vernetzung. Im für das Lernen optimalen Fall wären alle Aspekte massiv miteinander verzahnt, also eben nicht modular austauschbar. Absurd ist das Drankleben von Fächern: Ein Pflichtmodul "Ethik" hätte nicht der Subprime-Krise oder dem Dieselgate vorgebeugt.

 

 

Allein diese vier Punkte zeigen, dass wir uns an vielen Stellen durchwurschteln. Wir hinterfragen nicht genügend die Art und Weise, wie wir die Ideen von Bologna umsetzen. Unsere mangelhafte Umsetzung, so scheint es, ist uns nach zwei Monaten längst zur Gewohnheit geworden.  


Jörn Loviscach ist Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik. In seinen gesamten 19 Jahren als FH-Professur hat er sich mit der Medienunterstützung in der Hochschullehre beschäftigt. Mehr Informationen über ihn und seine Arbeit finden Sie hier.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0