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Was Zeiterfassung mit Gleichstellung zu tun hat

Das EUGH-Urteil ist für die "Wissenschaft nicht anwendbar"? Wer so argumentiert, erfasst gar nicht das eigentliche Problem. Ein Gastbeitrag von Katharina Kolatzki.

Foto: Donald Ente / wikimedia – cco 4.0

NEULICH HAT DER hat Europäische Gerichtshof sein Urteil zur Zeiterfassung gefällt. Auf vielen Online-Plattformen wird seitdem kontrovers darüber diskutiert. Für mich hat die Aussicht, dass künftig hoffentlich auch Forschungseinrichtungen und Hochschulen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter*innen messen müssen, auch etwas mit dem gern beklagten Thema "Frauen(mangel) in der Wissenschaft“ zu tun.

 

Der erste Kommentar unter Jan-Martin Wiardas Blogeintrag vom 17. Mai bringt es schon fast auf den Punkt: "Eine Änderung dieses Zustandes wäre fast so revolutionär für den Wissenschaftsbetrieb wie die Zulassung von Frauen zum Studium." Denn Zeiterfassung hat in der Tat viel mit Gleichstellung zu tun.

 

Gleichberechtigung steht

oft nur auf dem Papier

 

Ich glaube, das Hauptproblem für Frauen und andere in verschiedenen Kontexten benachteiligte Gruppen besteht darin, dass die Diskriminierungen nicht mehr so offen zu Tage treten wie früher. Vor 100 Jahren forderten Frauen grundsätzliche Bürgerrechte wie das Wahlrecht ein. Seit der Emanzipationsbewegung der 1960er und 1970er Jahre dürfen Frauen eigene Bankkonten führen und ohne Erlaubnis von Ehemännern berufstätig sein.


Katharina Kolatzki ist Experimentalphysikerin und beginnt bald ihre Promotion an der ETH Zürich. Seit Beginn ihres Studiums interessiert sie sich für Wissenschaftsvermittlung und hat auf diesem Gebiet für das Helmholtz-Zentrum Berlin und am CERN gearbeitet. Foto: privat.


Die Missstände, die nun für die "Dritte Welle des Feminismus" übrig geblieben sind, sind da deutlich subtiler: Auf dem Papier sind Frauen gleichberechtigt, Doch diese Gleichberechtigung spiegelt sich mitnichten in unseren Gesellschafts- und Machtstrukturen wider. Auch und erst recht nicht in der Wissenschaft.

 

Frauen ist es genauso erlaubt, Physik zu studieren, wie Männern. Trotzdem stellen sie in diesem Fach nur etwa 20 Prozent der Studierendenschaft. Und je höher der Blick die Karriereleiter hinaufgeht, desto weniger Frauen sieht


man. Die Gründe hierfür liegen tiefer und sind schwieriger zu benennen, geschweige denn zu bekämpfen.

 

Eindimensionale Ansichten
in den Führungsetagen der Wissenschaft

 

"Das-EUGH Urteil ist in der Wissenschaft nicht anwendbar, da wir in der Wissenschaft nicht nach der Uhr arbeiten": Solche Sätze erinnern mich stark an die so oft gehörte Ausrede: "Wir finden einfach nicht genug exzellente Frauen für neu zu besetzende Professuren!" Was beide Aussagen verbindet, ist die eindimensionale Sicht auf die Problematik. Wer wirklich etwas verändern möchte, muss bereit dazu sein, die eigene Arbeitskultur zu hinterfragen und vielleicht auch gewohnte Denkmuster zu verändern.

 

Natürlich stimmt es, dass das klassische "9 to 5"-Arbeiten in der Wissenschaft oft nicht umzusetzen ist. Wenn der Laser läuft, muss er möglichst effizient genutzt werden, was manchmal in langen Abenden im Labor resultiert. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen zu einem Experiment an einer auf Jahre ausgebuchten Großforschungseinrichtung fahre, arbeiten wir dort oft mindestens 12 Stunden am Tag und das zur Not zwei Wochen am Stück, weil dies nun einmal die Zeit ist, die wir zugeteilt bekommen haben. Aber sollten solche Situationen ein Maß für das alltägliche Arbeitspensum sein?

 

Eine 70-Stunden-Woche

als unausgesprochene Norm?

 

Machen wir uns nichts vor: Unser Wissenschaftssystem beruht zurzeit auf der systematischen (Selbst-)Ausbeutung von Wissenschaftler*innen. Dies zeigt sich nicht nur in ihrer vergleichsweise geringen Bezahlung und ihren oft unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, sondern eben auch in einer Kultur, die es für normal hält, regelmäßig sehr lange und am Wochenende zu arbeiten. Und zwar auch, wenn gerade kein Experiment dies fordert und auch keine Antrags-Deadline naht.

 

Nur eine ganz bestimmte Sorte von Wissenschaftlern (und Wissenschaftlerinnen) ist zu so einem Leben auf Dauer bereit, alle anderen wechseln früher oder später das Berufsfeld. Elternschaft wirkt dabei sicherlich als verstärkender Faktor – nicht nur bei Frauen,  aber ganz besonders bei Frauen. Hinzu kommt, dass es meist Frauen sind, die Angehörige jeden Alters pflegen. Das macht lange Arbeitsabende oft unmöglich. Und ein drittes sollte man nicht unterschlagen: Wissenschaftler*innen, die regelmäßig lange arbeiten, haben fast immer jemanden, der dies zu Hause auffängt. Das ist dann wiederum meist die Frau, die dem erfolgreichen Mann den sprichwörtlichen Rücken freihält.

 

Wenn wir also in Zukunft die Arbeitszeit überall erfassen (erstmal nur erfassen!), dann wird das hoffentlich dazu beitragen, dass über Alternativen zu einer solchen diskriminierenden Arbeitskultur überhaupt einmal nachgedacht wird. Wie gesagt: Ich plädiere nicht für ein "9 to 5“-Arbeiten" nach der Stechuhr.

 

Dafür arbeite ich, dafür forschen die meisten von uns schon viel zu gern! Natürlich braucht Wissenschaft Freiräume für Kreativität und Entdeckungsgeist. Aber wir müssen Modelle finden, die funktionieren, ohne dass eine 70-Stunden-Woche zur unausgesprochenen Norm wird.

 

Vielleicht wird das EUGH-Urteil so zur Chance, generell die Kultur, in der wir Wissenschaft betreiben, zu hinterfragen. Und nicht nur die Kultur in der Wissenschaft: Ein offener Diskurs über die Bedeutung und Art von Arbeit, über Lebensqualität und Lebensentwürfe ist längst überfällig. Ein Zeiterfassungsgesetz könnte ein guter Ausgangspunkt für solche Diskussionen sein. Ansätze für die Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft bekämen wir höchstwahrscheinlich gratis dazu.


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Kommentare: 6
  • #1

    Klaus Diepold (Dienstag, 28 Mai 2019 09:20)

    Vielen Dank. Ein Gastbeitrag weniger, den ich schreiben will/muss, weil dieser Beitrag fast alles enthält, was mich auch bewegt.

    Nur eins noch - die ausufernden Arbeitszeiten betreffen nicht nur die Wisse schaftler/innen in unsicheren weil befristeten Stellen, sondern auch die unbefristeten Profs.

    Denen werden auch in stetes Regelmäßigkeit zusätzliche Aufgaben aufgetragen, ohne dass die Frage nach der zeitlichen Belastung überhaupt erwähnt wird. Ich habe auch keine Resturlaubstage, die ich abfeiern kann. Neuestes Beispiel? Die Aufgabe der Wissenschaftskommunikation, die wir jetzt auch noch lesiten dürfen.

    Ich denke, dass eine Erfassung der Arbeitszeit, auch oder vor allem in der Wissenschaft für mehr Transparenz und Offenheit sorgen kann.

    Ich messe meine Arbeitszeit seit letzter Woche ...

  • #2

    Edith Riedel (Dienstag, 28 Mai 2019 09:46)

    Ich sehe eine große Gefahr darin, diese Debatte auf das Thema Gleichstellung einzuengen. Schon jetzt gibt es eine große Diskrepanz zwischen Mitarbeiter_innen, die von Gleichstellungsmaßnahmen (Stichwort: Familienfreundlichkeit) profitieren "dürfen" und denen, die das nicht "dürfen", sondern vielmehr Mehrarbeit leisten müssen, damit das System trotzdem wie bisher weiter funktioniert. An der Arbeitskultur und den Denkmustern ändert sich nichts, die Universität schreibt sich Familienfreundlichkeit auf die Fahnen und in die Anträge, und die Privilegien der einen Gruppe gehen auf Kosten der anderen. Das ist keine Lösung!

  • #3

    Florian Bernstorff (Dienstag, 28 Mai 2019 11:23)

    "Hinzu kommt, dass es meist Frauen sind, die Angehörige jeden Alters pflegen. Das macht lange Arbeitsabende oft unmöglich. Und ein drittes sollte man nicht unterschlagen: Wissenschaftler*innen, die regelmäßig lange arbeiten, haben fast immer jemanden, der dies zu Hause auffängt. Das ist dann wiederum meist die Frau, die dem erfolgreichen Mann den sprichwörtlichen Rücken freihält."

    Warum lassen sich die betreffenden Frauen denn auf ein solches Arrangement ein? Das könnte doch auch anders vereinbart werden.

    Insgesamt habe ich noch nicht verstanden, inwiefern hier wirklich Geschlechterdiskriminierung vorliegen soll.

  • #4

    René Krempkow (Dienstag, 28 Mai 2019 12:54)

    Ergänzend hierzu der Hinweis auf einen erhellenden Blick nach Schweden: www.zeit.de/wirtschaft/2019-05/ueberstunden-schweden-eugh-arbeitszeiterfassung-freizeit.

    Und wer es in Bezug auf die Wissenschaft in Deutschland auch noch empirischer mag: www.researchgate.net/publication/317685472.

  • #5

    Julian Habekost (Dienstag, 28 Mai 2019 13:47)

    (Spitzen-)forschung, genauso wie Strategieberatung und Top-Juristarei, sind Tärigkeiten die enorm vom individuellen inneren Drang zum Schwanzvergleich leben. Auch haben alle diese Berufsfelder gemein, dass die Anzahl von Frauen abnimmt, je senioror es wird. Jeder Praktikant weiß, dass bei McKinsey schon heute bestehende Arbeitszeitvorschriften komplett ignoriert werden. Der Unterschied zur Forschung ist vllt, dass ein Forscher zumindestens theoretisch sich seine Zeiten komplett selbst aussuchen kann. Ein Berater, der in 8 Stunden schafft, wozu andere 14 brauchen, wird trotzdem komisch angeguckt, weil ihm ganz offensichtlich die Einstellung fehlt. Aber insbesondere in der Forschung ist der Output ziemlich gut messbar, Autorenschaften, Zitate, Konferenzen & Journals. Ein Zwang zur 40-Stundenwoche ist ein Wettberwerbsnachteil für Unis/Institute und für Forscher selbst und dann deswegen noch einmal für die Unis/Inst. da dies wiederum die Rekrutierung behindert. Die Chinesen und Amerikaner lachen bei 40 Stunden nur. Und selbst innerhalb europäischer Mauern wird ja nach Forschungsleistung rekrutiert. Was soll denn auch sonst das Einstellungskriterium für einen Forscher sein? Abgesessene Jahre? Wenn wir also keine unsäglichen Quoten einführen wollen ("Post-Doc gesucht, männlich: mindestens eine Erstautorenschaft in einem Top-Journal, oder weiblich und schon mal versucht etwas hinzuschicken"), dann bleibt nur eins übrig: wir müssen jungen Mädchen von klein auf vermitteln wie wunderbar es ist, seinen ganzen Lebensinn aus eindimensionalen Schwanzvergleichen zu gewinnen.

  • #6

    tmg (Dienstag, 28 Mai 2019 23:40)

    Arbeitszeiterfassung für Wissenschaftler ist in der Tat eine seltsamer Ansatz. Ich selbst als Wissenschaftler denke nach wann immer, wo immer und so kurz oder lang wie ich will und das ist sicher einer sinnvollen Zeiterfassung gar nicht zugänglich. Ich denke nach, weil es mir Spass macht und nicht weil gerade Nachdenkzeit ist. Meine Mitarbeiter werden zeitlich (selbstverständlich) nicht kontrolliert. Wo sie nachdenken und wie lange sie nachdenken ist ihre eigene Verantwortung. Abgerechnet wird natuerlich irgendwann - aber nur anhand der Resultate. Alles andere wäre absurd. Selbstverständlich erfordert Wissenschaft als Beruf zeitlich ein herausragendes Engagement - das ist auch bei anderen Professionen so, bei denen man kreativ, in hoher Eigenverantwortung, mit höchstem Qualitätsanspruch tätig ist, etwa in der Kunst oder als Musiker.