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"Wir brauchen Bildungs-Optimismus"

Warum die ehemalige SPD-Bundesbildungsministerin einen neuen Bildungspakt fordert – und warum sie ungeduldig ist mit der Bildungspolitik hierzulande: ein sehr persönliches Interview.

Edelgard Bulmahn. Fotos: Kay Herschelmann.

Frau Bulmahn, gerade haben Bund und Länder die drei großen Wissenschafts-Pakte beschlossen, 160 Milliarden Euro bis 2030. Was sagt die ehemalige Bundesministerin?

 

Sie freut sich, dass die Pakte, die sie selbst einst ins Leben gerufen hat, jetzt wirklich auf Dauer gestellt werden. Das war immer mein Ziel, weil ich wusste, dass ihre Effekte nur dann nachhaltig wirken können.

 

Welche Effekte meinen Sie?

 

Ich spreche von Vernetzung, Profilbildung, Personal- und Qualitätsentwicklung. Verlässlichkeit ist eine wichtige Kategorie in der Wissenschaftspolitik. Und in der Bildung sowieso. Wenn die Pakte halten, was sie versprechen, wenn sie in der mittelfristigen Finanzplanung abgesichert werden, dann muss die Wissenschaft keine Angst mehr haben vor einem Auf und Ab.

 

Was erwarten Sie von den Geförderten als Gegenleistung für all die Milliarden?

 

Von den Hochschulen erwarte ich, dass sie die neuen Möglichkeiten zur längerfristigen Planung nun auch couragiert nutzen und nicht ängstlich nach Hemmnissen suchen. Denn auch die Menschen, die die Wissenschaft tragen, brauchen Verlässlichkeit, um vernünftig arbeiten zu können. Und ich erwarte, dass die Hochschulen die Qualität des Studiums stärker in den Mittelpunkt rücken.

 

Was ist mit der außeruniversitären Forschung, Max Planck & Co?

 

Der Pakt für Forschung und Innovation hat in den vergangenen 15 Jahren gezeigt, was mit einem kontinuierlichen Aufwuchs in der Forschungsförderung erreicht werden kann. Doch die internationale Konkurrenz wird immer härter. Wenn wir den Wohlstand in unserem Land erhalten wollen, müssen wir weiter beherzt in Forschung investieren. Für das Geld erwarte ich von den Wissenschaftseinrichtungen, dass sie auch die ganz konkreten Probleme, die wir als Gesellschaft haben, bearbeiten.

 

Was meinen Sie konkret?

 

Ich erwarte, dass die Forschungsorganisationen Antworten liefern auf die globalen Herausforderungen: Klimawandel, Zukunft der Arbeit, den Zusammenhalt der Gesellschaft, die Stärkung Europas. Wie können wir die Digitalisierung so gestalten, dass die Menschen sich nicht ausgeliefert fühlen, sondern sie aktiv gestalten können und wollen? Ich erhoffe mir auch bessere Konzepte für mehr Cyber-Sicherheit. Oder was können wir gegen die unerträglichen Hasstiraden im Netz tun, gegen die Mordaufrufe in den sozialen Netzwerken? Ich wünsche mir nicht nur mehr Forschung, ich wünsche mir mehr Handlungsempfehlungen für die Politik.

 

Als Sie Bundesbildungsministerin waren, haben Sie den Ausbau der empirischen Bildungsforschung vorangetrieben. Jetzt ist sie ausgebaut – aber profitiert die Bildungspolitik von all dem generierten Wissen?

 

Ja sicher, aber der Wille zur Anwendung muss hinzukommen. Wir haben auch in der Bildungspolitik eindeutig ein Umsetzungsproblem. Wir wissen so vieles, und doch passiert zu wenig.

 

Was wissen wir denn?

 

Wir wissen, dass sich die soziale Spaltung unserer Städte in der sozialen Spaltung unserer Schülerschaft widerspiegelt. Wir müssen massiv in Bildungspersonal und Infrastruktur investieren. Ich räume ein, dass mich das zunehmend ungeduldig macht.

 

"Mir fehlt ein Bildungsaufbruch
und auch ein Bildungsoptimismus"

 

Was macht Sie ungeduldig?

 

Ich werde ungeduldig, weil zu viele Kinder aus bildungsfernen Familien in der Schule scheitern oder unter ihren Möglichkeiten bleiben. Das ist gefährlich für die Zukunft unserer Gesellschaft und volkswirtschaftlich idiotisch noch dazu. Wenn es uns nicht gelingt, besonders diese Kinder besser dabei zu unterstützen, ihren Weg zu gehen, werden die Probleme in unserem Land riesig werden. Da fehlt mir ein Bildungsaufbruch und auch ein Bildungsoptimismus.

 

Ein Bildungsoptimismus, wie es ihn schon einmal gab?

 

Ein Bildungsoptimismus, der für mich sozialdemokratische Bildungspolitik ausmacht. In einem Satz ausgedrückt ist sie die Überzeugung, dass kein Kind zurückgelassen werden darf und dass Bildung die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben ist.

 

Was waren für Sie die Meilensteine dieser sozialdemokratischen Bildungspolitik?

 

Wenn ich die vergangenen 100 Jahre betrachte, war das zunächst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in der Weimarer Republik, die kostenfreie Schule für alle. Es war ein Meilenstein, dass Sozialdemokraten die Grundschule für alle Kinder geschaffen haben – die einzige wirklich umfassende Gesamtschule, die wir bis heute haben. Dass eine staatliche Verantwortung fürs Schulwesen in der Verfassung verankert wurde, war ein Bekenntnis nicht zur Bevormundung der Lehrerinnen, Lehrer oder Eltern, sondern zur Bedeutung der Schule für die Gesellschaft als Ganzes.

 

Nach dem Aufbruch der Weimarer Republik folgte das Dritte Reich …

 

Und selbst als die Bundesrepublik gegründet wurde, flammte der Bildungsoptimismus nur kurz auf: Versuche, an die Weimarer Ideen anzuknüpfen, scheiterten. Es folgte eine bis in die 1960er Jahre hineinreichende Stagnation – mit der herrschenden Meinung, nur fünf Prozent eines Jahrgangs seien in der Lage, erfolgreich eine Hochschule zu besuchen. Bis Georg Picht sehr dramatisch aufzeigte, was es bedeutet, wenn man die Potenziale, die Menschen haben, brachliegen lässt.

 

Sie meinen Pichts berühmtes Buch "Bildungskatastrophe" von 1964 …

 

Die "Bildungskatastrophe" wurde zum Auftakt der Bildungsexpansion. Erstmals seit Jahrzehnten beschäftigte sich die Bildungspolitik ernsthaft mit der Frage, wie Kinder, die nicht aus bildungsbürgerlichen Familien stammen, Zugang zur höheren Bildung erlangen konnten.

 

Die Modernisierung der Schulen, die Öffnung der Universitäten: Wenn Sozialdemokraten über diese Zeit sprechen, bekommen sie bis heute leuchtende Augen. Warum? Weil danach nicht mehr viel gekommen ist?

 

Dieser Bildungsaufbruch der 1960er und 1970er Jahre hat viele Menschen beflügelt, weil das Versprechen von Bildung erstmals für sie greifbar wurde. Er hat auch mich beflügelt. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. In den 1950er Jahren hätte ich keine Chance gehabt.

 

Sie haben ein Aufbaugymnasium besucht.

 

Die Einrichtung eines zweiten Bildungsweges war ein entscheidender Schritt der Bildungsexpansion. Genau wie die Gründung der Gesamtschule, damit Kinder nicht von Anfang an entmutigt werden. Oder die Gründung von Hochschulen, die Reform er Curricula, das Schüler-BAföG. Ohne das Schüler-BAföG hätten meine Eltern es nie stemmen können, dass ihre beiden Töchter weiter zur Schule gingen. >>>


Edelgard Bulmahn, 68, war für die SPD von 1998 bis 2005 Bundesministerin für Bildung und Forschung in den beiden Kabinetten von Gerhard Schröder (auch SPD). Sie hat in ihrer Amtszeit grundlegende Reformen und Großprojekte der Schul- und Wissenschaftspolitik initiiert, etwa das Ganztagsschulprogramm, die Exzellenzinitiative oder die Einführung der Juniorprofessur. Im Jahr 2001 brachte sie eine große BAföGReform auf den Weg. Von 2013 bis 2017 war Bulmahn

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, dem sie dreißig Jahre lang angehörte. Wie sie auch in diesem Interview darlegt, ist Edelgard Bulmahn eine klassische Bildungsaufsteigerin: Die Tochter eines Binnenschiffers und einer Friseurin wechselte nach acht Jahren Volksschule an das Aufbaugymnasium Petershagen, studierte Politikwissenschaft und Anglistik auf Lehramt in Hannover und war Studienrätin an der Lutherschule Hannover.


>>> Aber ist es angemessen, all das als sozialdemokratische Bildungspolitik zu bezeichnen? Es war der Liberale Ralf Dahrendorf, der das "katholische Arbeitermädchen vom Lande" zum Gegenstand bildungspolitischer Debatten machte.

 

Das stimmt einerseits, andererseits ist Chancengleichheit das Herzstück sozialdemokratischer Politik. Die Reformen haben in der Großen Koalition nach 1966 bereits begonnen, aber erst die sozialliberale Koalition nach 1969 hat die volle Flughöhe erreicht – etwa mit der Einführung des BAföG, ein Riesenschritt, um Jugendlichen aus einkommensschwächeren Familien ein Studium zu ermöglichen. Ich hätte mir mit 19 Jahren keinen Schuldenberg von 20.000 Mark oder mehr zugetraut. Ich muss Ihnen aber widersprechen. Es ist nicht so, dass nach Willy Brandt nichts mehr kam.

 

"Wir haben in der Bildungspolitik ein Umsetzungsproblem. Wir wissen so vieles, und doch passiert so wenig"

 

Was kam denn?

 

Erstmal kamen die Kohl-Jahre, eine, ich kann es nicht anders sagen, Jahrzehnte lange Ignoranz gegenüber den Problemen unseres Bildungssystems, die jeder, der etwas von der Sache verstand, auf den ersten Blick erkennen konnte. Dass es uns als rotgrüne Regierung nach 1998 gelungen ist, diese Blockade zu beenden, darauf bin ich stolz. Der Ausbau der frühkindlichen Bildung, das Ganztagsschulprogramm, die Studienreform, die Juniorprofessur, die Digitalisierungsprogramme für Schulen und Hochschulen. Das war der zweite Bildungsaufbruch. Wir haben dem BAföG neues Leben eingehaucht, es drastisch erhöht, eine Rückzahlungsgrenze bei 10.000 Euro und eine Mitnahme ins Ausland eingeführt. Alles Entscheidungen, die bis heute tragen.

 

Gilt das auch für das Ganztagsschulprogramm, das Sie damals auf den Weg gebracht haben?

 

Sicher, das musste ich als Ministerin durchboxen gegen den Widerstand der unionsregierten Länder, auch gegen den Widerstand der konservativen Presse – weil ich davon überzeugt war, dass Kinder mehr Zeit und Raum benötigen, um erfolgreicher lernen zu können. Dieses Vier-Milliarden-Euro-Programm und sein pädagogisches Begleitprogramm haben einen Kulturwandel bewirkt. Heute sind Ganztagsschulen allgemein akzeptiert, der Wunsch nach mehr Schulplätzen ist riesengroß – weil Eltern erfahren, dass ihre Kinder dort eine bessere Bildung erhalten.

 

Ist das so? Bildungsexperten zufolge sind die meisten Ganztagsschulen heute nur die LightVersion: ohne Unterricht am Nachmittag, ohne pädagogische Abwechslung, mehr Ganztagsbetreuung als Ganztagsbildung.

 

Die sogenannte Rhythmisierung, von der Sie sprechen, war immer mein Ziel. Und an vielen Schulen ist sie heute Wirklichkeit. Aber Sie haben recht: Das ist ein Prozess. Der dauert. Ich habe immer gesagt: Bei Ganztagsschule geht es nicht um Betreuung. Es geht um Anleitung zur Bildung.

 

Sie fordern voller Ungeduld, dass wieder etwas passieren muss in der Bildungspolitik. In den Schulen werden Ihnen viele mit dieser Aufzählung antworten: Abschaffung der Hauptschulen, Einführung der Ganztagsschule, Inklusion, Integration von Geflüchteten, G8, G9. Reicht das denn nicht?

 

Genau diese Aufzählung macht mich ja so unruhig. Ich will den Schulen nicht immer neue Aufgaben aufhalsen, ich will, dass sie die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihre Aufgaben gut zu bewältigen. Die Kommunen benötigen Milliarden, um all die maroden Schulgebäude instand zu setzen. Wir brauchen mehr Personal in den Schulen, wir brauchen dort ein neues Miteinander von Familienberatung, Sozialpädagogen, psychologischer Betreuung und Lehrkräften. Da kann der Bund sich nicht einfach zurückziehen.

 

"Diese jahrelange Verschleppung einer regelmässigen Erhöhung ist fatal und desavouiert das BAföG, weil die Studierenden es nicht mehr als starke Leistung wahrnehmen, die es sein könnte"

 

Zurückziehen? Kein Haushalt ist in den vergangenen 20 Jahren so stark und so kontinuierlich gewachsen wie der Ihres ehemaligen Ministeriums!

 

Das Budget des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist stark gewachsen, aber diejenigen, die hauptsächlich die Bildung finanzieren, sind immer noch die Bundesländer, und sie tragen die großen Personalkostenblöcke. Deshalb ist eine andere Lastenverteilung nötig. Wenn ich mir die Gesamtausgaben für die allgemeine Schulbildung und für die Hochschulen anschaue und dabei die Forschung außen vorlasse, ist das deutlich zu wenig. Wir müssen mehr investieren, und vor allen Dingen müssen wir mehr in die Schulen in den sozialen Brennpunkten investieren.

 

Geht es um die Prioritätensetzung der Haushalte oder steckt mehr dahinter?

 

Es ist eine Frage der finanziellen Prioritätensetzung. Es ist aber auch eine Frage der Kultur. Manchmal bekomme ich in Gesprächen mit erfolgreichen Eltern den Eindruck, dass sie Angst haben, Chancengleichheit schade ihren eigenen Kindern.

 

Es gibt Kritiker, die übersetzen Chancengleichheit mit Gleichmacherei.

 

Das ist ein dummes und, wenn ich das sagen darf, manchmal böswilliges Missverständnis. Das Streben nach Chancengleichheit erfordert genau das Gegenteil: den Mut zur Unterscheidung. Chancengleichheit heißt, dass ich mir jedes Kind anschaue und ihm den persönlich passenden Förderweg eröffne. Das ist der Mut zur Unterscheidung. In denjenigen Städten und Stadtteilen, wo die soziale Lage am schwierigsten ist, wird eine andere Bündelung der vorhandenen Ressourcen längst diskutiert. Die Probleme sind so groß, die können sie nicht wegwischen. Wenn Sie allerdings in Berlin-Dahlem leben, dann bekommen Sie das in der Tat nicht mit. Deshalb fordere ich einen Bildungspakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

 

Einen Bildungspakt mit welchem Ziel?

 

Mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu erreichen: Was brauchen wir für ein modernes Bildungssystem, und wer kann dafür welchen Beitrag leisten? Das ist eine andere Herangehensweise, als immer nur nach der Zuständigkeit zu fragen. Ich plädiere keineswegs für ein Ende der Kultushoheit der Länder. Es wäre Irrsinn zu glauben, eine Ministerin könnte zentral mehr als 30.000 Schulen besser organisieren. Aber der Bund trägt eine Mitverantwortung.

 

Aus der was folgt?

 

Dass der Bund sich selbst finanziell engagiert oder einen höheren Steueranteil an die Länder gibt, auch dafür wäre ich offen. Entscheidend ist, dass wir die Länder und Kommunen nicht allein lassen.

 

Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Länder zusätzliches Steuergeld für die Bildung ausgeben?

 

Im Bildungspakt würde verbindlich festgelegt, wofür die Mittel eingesetzt werden. Das hat bei der Exzellenzinitiative und beim Ganztagsschulprogramm auch geklappt. Natürlich können Sie als Bund nichts einseitig diktieren, aber Sie können die Ziele überprüfbar vereinbaren.

 

"Mich stört gewaltig, dass meine Nachfolgerinnen lange faktisch gar nichts mehr mit dem BAföG angestellt haben"

 

Sie haben sie erwähnt, die großen BAföG-Reformen Ihrer Amtszeit. Stört Sie, wie seitdem mit dem BAföG umgegangen wurde?

 

Mich stört gewaltig, dass meine Nachfolgerinnen lange faktisch gar nichts mehr mit dem BAföG angestellt haben. Gerade seit der Bund allein zuständig ist fürs BAföG, hätte er handeln können. Er hätte handeln müssen.

 

Was fordern Sie?

 

Wir brauchen eine automatische dynamische Anpassung der Fördersätze und der Einkommensgrenzen. Das, was die Große Koalition beschlossen hat, ist nur ein Anfang. Endlich gibt es mehr Geld, aber ansonsten ist es in anderen Kleidern das, was ich schon 2001 gemacht habe.

 

Sie fordern eine regelmäßige, gesetzlich geregelte BaföG-Erhöhung?

 

Genau. Das kennen wir aus anderen Bereichen der Sozialgesetzgebung auch. Und BAföG ist eine Sozialleistung. Dadurch entstünden Kontinuität und Verlässlichkeit für die Studierenden.

 

Warum macht es die Politik dann nicht?

 

Ich verstehe es selbst nicht, warum die Finanzseite so bremst. Wir hätten die Mehrheit dafür im Bundestag mit SPD, Grünen und der Linken. Diese jahrelange Verschleppung ist fatal und desavouiert das BAföG, weil die Studierenden es nicht mehr als starke Leistung wahrnehmen, die es sein könnte.

 

Und wie muss sich das BAföG inhaltlich weiterentwickeln?

 

Es gibt einen Knackpunkt, den die Wissenschaftsminister nur in Einvernehmen mit den Hochschulrektoren lösen können: Wir müssen klären, was ein modernes Teilzeitstudium ausmacht. Solange wir das nicht definiert haben, ist es extrem schwierig, die Sozialgesetzgebung so anzupassen, dass die Teilzeitstudierenden die nötigen Hilfen zum Lebensunterhalt erhalten können. Die Frage wird dringlicher, künftig werden noch mehr Menschen in Teilzeit studieren.

 

Was heißt das für die Altersgrenzen beim BAföG?

 

Die müssen fallen. Die Lebensentwicklung der Menschen hat sich verändert. Wenn wir eine Bildungspolitik wollen, die mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen nicht nur in Sonntagsreden beschwört, sondern aktiv fördert, dann müssen wir auch beim BAföG Ernst machen und es unabhängig vom Alter für ein erstes Studium gewähren.

 

Bedeutet das, dass Sie für eine elternunabhängige Studienförderung eintreten?

 

Ich plädiere für ein anderes Modell. Ich bin dafür, dass alle familienpolitischen Leistungen vom Kindergeld bis zu den steuerlichen Ausbildungsfreibeträgen zu einem Förderbetrag zusammengefasst werden, der direkt an die jungen Menschen geht. Dann würden die auch viel deutlicher realisieren, wie viel sie dem Staat wert sind. Dieser Betrag würde zum Leben aber nicht reichen. Darum sollten diejenigen Studienanfänger, deren Eltern nicht genug verdienen, weiter BAföG erhalten. Eine dritte Säule wäre ein zinsloses Darlehen für alle. Ich halte das immer noch für das beste Modell.

 

Wie soll die Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen, von der Sie sprechen, praktisch aussehen?

 

Wir müssen an den Hochschulen Orientierungsphasen schaffen und den Eingang ins Studium besser organisieren, mehr duale Studiengänge anbieten. In Zukunft wird es selbstverständlich sein, dass sich Phasen der Arbeit und der Bildung abwechseln.

 

Mit Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit in der Hochschulfinanzierung, wie Sie immer betonen?

 

Ja, weil ich die Schieflage jeden Tag als Kuratoriumsvorsitzende der Humboldt-Universität zu Berlin erlebe. Wir müssen eine bessere Balance erreichen zwischen Grundfinanzierung und Drittmittelförderung. Auch weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Hochschulen sonst in den Verdacht geraten, sie seien womöglich interessengesteuert entstanden. Ein Vorwurf, der keiner Empirie standhält, und doch setzen viele Leute die zunehmende Drittmittelabhängigkeit der Hochschulen gleich mit einer Abhängigkeit von Unternehmensgeldern. Wir müssen deutlich machen: Wissenschaftliche Ergebnisse sind keine "Fake News", sie haben eine solide Basis. Diese Basis wird stärker, wenn die Wissenschaftler, die sie produzieren, zu guten Bedingungen und unabhängig arbeiten.

 

Dieses Interview erschien zuerst im DSW Journal des Deutschen Studentenwerks. Fotos: Kay Herschelmann.

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