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Warum nicht lernen?

Viele finden es smart, Identitätspolitik als "übertrieben" abzulehnen – auch und gerade in den Feuilletons. Offenbar haben viele noch nicht richtig verstanden, worum es geht. Ein Gastbeitrag von Martin Fritz.

GEFÜHLT EINMAL IN DER WOCHE erscheinen derzeit Beiträge in den verschiedensten Medien, in denen auf die unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen einer "im Prinzip" nachvollziehbaren Identitätspolitik hingewiesen wird.

 

Mit Identitätspolitik werden grob gesprochen politische Ansätze bezeichnet, die bei Persönlichkeitsmerkmalen ansetzen, die einerseits identitätsbildend aber auch diskriminierungsrelevant sein können. Der Begriff wird also im populären Diskurs meist als Oberbegriff für vielfältige antirassistische und/oder geschlechterpolitische Auseinandersetzungen verwendet. Man denke nur an die hitzige Debatte über die Berücksichtigung eines "dritten Geschlechts" oder die von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ausgelöste Kurzzeitkontroverse über die Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen in Anzeigen der Deutschen Bahn ("Welche Gesellschaft soll das abbilden?") .  

 

Während die politische Rechte Identitätspolitik ablehnt (außer für ihresgleichen natürlich) oder diffamiert, erkennt man die gemäßigten Kritiker/innen daran, dass sie  die Ansätze der Identitätspolitik einleitend befürworten, um sie dann als "überbordend", "überzogen" oder "irrregeleitet" zu kritisieren. Ein beliebter linker Vorwurf ist dabei, dass der Fokus auf Identität ausblende, dass sich die "wahren" Konflikte weiterhin als soziale Gegensätze manifestieren. 

 

Die Kritiker folgen dem
immer gleichen Muster

 

Solche Beiträge folgen einem seltsam gleichbleibenden Muster: Zuerst erfolgt eine Aufzählung von Beispielen die illustrieren sollen, zu welchen absurden "Auswüchsen" es durch "überzogene" identitätspolitische Ansätze bereits gekommen sei. Die beliebten alarmistischen Ausdrücke bedeuten wohl zweierlei: Einerseits sollen sie legitimieren, dass es verständlich wäre, wenn sich gegen das "Überzogene" Unbehagen entwickelt, und andererseits wollen die Kämpfer und Kämpferinnen gegen das "Übertriebene" die Messlatte nicht aus der Hand geben, mit der sie weiterhin selbst feststellen wollen, wo die Grenze zwischen "legitim" und "überzogen" denn verläuft. 

 

Ein Pool an Vorfällen steht für die Beweisführung zur Verfügung, aus dem je nach Ressort verschiedene Fälle herangezogen werden. Im Feuilleton geht es meist um Kunstfreiheit; in Gesellschafts- und Politikberichten sind Ausflüge in Alltagskontroversen beliebt, belegt mit Einzelfällen wie – wahlweise einer Hamburger Kita oder amerikanischen Colleges – , die darum gebeten hatten, von "ethnischen" Verkleidungen im Karneval abzusehen. Die Bildungsseiten dominieren Berichte von universitären Auseinandersetzungen rund um "Trigger Warnings" und "Safe Spaces", während es in den Leserbriefspalten noch immer diejenigen gibt, die vor "übertriebenem" Gendering warnen oder sogar ihrem "Zigeunerschnitzel" hinterherweinen.

 

Meist gelingt es den Autor/innen bereits bei den einleitenden Beispielen nicht mehr, die eigene Genervtheit zu verbergen, was vor allem bei jenen erstaunt, die als Kritiker/innen hier abgebrühter sein müssten. Eine häufig anzutreffende Gruppe dieses Segments könnte man als lernunwillige Ex-Kritiker/innen bezeichnen. Ihre Bockigkeit beziehen sie aus der stabilen Überzeugung ihrer eigenen "kritischen" Haltung, die gerade sie dazu berechtigen würde, das "Überzogene" an den gegenwärtigen Forderungen zu erkennen. Dabei sind es 

Martin Fritz ist Rektor der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien in Stuttgart. Foto: Merz Akademie.

bisweilen gerade die Vertreter/innen jener Generation, die ihren Eltern nachgewiesen haben, dass ihre Begriffe und Vorlieben von Unrecht geprägt sind.

 

Offenbar wollen die früheren Rechthaber heute nicht mehr lernen, dass gegendert werden sollte, wenn alle gemeint sein sollen, oder, dass es Direktoren nicht gut ansteht, ihre assistierenden Mitarbeiterinnen nur mit Vornamen vorzustellen. Man wird manchmal den Verdacht nicht los, dass gerade jene, die einen großen Teil ihres Selbstverständnisses aus der ständigen Bereitschaft zur Kritik gezogen haben, gegenüber aktuelleren Kritikformen gern verfügen würden, dass nun mal Schluss damit sein müsse. Es scheint, als wäre an


manchen Orten die Lernwilligkeit erschöpft. Das Befragen des Tradierten soll dann aufhören, wenn es die alten Fragesteller wünschen. Dabei wäre es so einfach: Warum nicht lernen?

 

Denn was am meisten verwundert, ist die immer etwas störrisch und immer etwas zu selbstverliebt vorgeführte Unwilligkeit, aus den Auseinandersetzungen zu lernen. Häufig werden Verluste von Traditionen und Gewohnheiten beklagt, als wäre es unmöglich, dass aus neuen Blickwinkeln etwas gewonnen werden könnte, ohne gleichzeitig Liebgewordenes zu verlieren – einmal ganz abgesehen davon, dass es vor allem den Opfern ja tatsächlich darum geht, unliebsame Erfahrungen, wie patriarchale Dominanz, hinter sich zu lassen.

 

Manche Kritiker/innen von Identitätspolitik agieren jedoch so, als würden sie den Kubismus mit dem Einwand "zu viele Perspektiven" kritisieren. Denn die Anlassfälle verbindet in der Wahrnehmung des Verfassers etwas anderes als die vermeintliche Bedrohung: Sie erweitern die Perspektiven, sie führen neue Sichtweisen in die Wahrnehmung ein und sie erweitern damit das Spektrum möglicher Haltungen und Reaktionsformen.

 

Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn  – ein anderes gern als "Auswuchs" berichtetes Beispiel – der Drummer der Band Feine Sahne Fischfilet vor sechs Jahren in einem autonomen Zentrum darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Entblößung seines Oberkörpers der Policy des Hauses widerspreche, da Frauen diese Form von Freizügigkeit auch nicht überall freistehe? Dann muss er sich mit dieser Sichtweise eben beschäftigen. Sie wird ihm zumindest weniger Sorgen bereiten als die manifesten Morddrohungen der Rechten gegen die seit Jahren antifaschistisch aktive Band.

 

Wo haben die Kommentator/innen eigentlich
die vergangenen Jahrzehnten verbracht?

 

So lernt man eben, und so lernen lernwillige Männer – wenn auch oft erst nach vehementer Kritik – bereits seit Jahrzehnten. So, wie sie lernen mussten, dass häufiges Unterbrechen unstatthaft ist, dass die unmoderierte Rede in Meetings häufig die dominanzerprobten Männer bevorzugt oder dass es manchmal ein gute Idee ist, in der Nacht freiwillig die Straßenseite zu wechseln oder rasch zu überholen, um möglichen Stress bei vorangehenden Frauen zu minimieren.

 

Man fragt sich angesichts der aktuellen Konjunktur der empört-erstaunten Schilderungen, in welchen Zusammenhängen die meist akademisch ausgewiesenen Kommentator/innen denn in den vergangenen Jahrzehnten gelebt und gearbeitet haben? Feministische Kritik begleitet uns doch nicht erst seit vorgestern und erfolgte meist zu Recht. Diesbezügliche Lerneffekte sind seit langem an der Tagesordnung, genauso wie wir bereits vor vielen Jahren – und seither immer wieder – lernen konnten, dass Begriffe und Bilder eben nicht unschuldig sind: Vom N-Wort bis zu den heute noch dreifach in einem beliebten Stuttgarter Café zu findenden schwarzen Dienerskulpturen transportieren sie eben auch Abwertungen und können daher Zumutungen darstellen, die zu vermeiden sind.

 

Diese Auseinandersetzung bleiben notwendig, auch und gerade in Zeiten, in denen sich viel verändert hat. Dennoch sprechen Autor/innen auf großen öffentlichen Bühnen laut und oft von "neuen" Sprechverboten, wenn sie sich dazu äußern, oder sie profilieren sich als Kolumnisten, die Woche für Woche sagen, dass man etwas nicht mehr sagen dürfe.  

 

Warum nicht lernen? Sollen Lehrende, die sich dafür entscheiden, ihre Studierenden für die Fallstricke stereotyper Darstellungen zu sensibilisieren – wie an der Hochschule, die ich vertreten darf – denn an einem bestimmten Punkt stoppen und die Studierenden darauf hinweisen, dass sie mit der Rücksichtnahme aufhören sollten, wenn diese "überbordend" zu werden drohe? Wenn das Ziel die Herstellung nichtsexistischer Bilder ist, wird man doch von niemandem erwarten, auf halbem Wege aufzuhören und sich damit zufrieden zu geben, dass nur mehr jedes zweite Magazincover herabwürdigende Darstellungen enthält? Natürlich nicht! Wir werden selbstverständlich weiter versuchen zu vermitteln, dass es ein erstrebenswertes Ziel ist, überhaupt keine sexistischen Bilder mehr zu produzieren.

 

Das Bewusstsein für mögliche Benachteiligungen
ist ein wünschenswertes Lernziel

 

Und warum, schließlich, sollte eine Grundschule enge Grenzen ziehen, wenn es um jenes Einfühlungsvermögen geht, das damit verbunden ist, wenn Kinder lernen, dass es in verschiedenen Weltgegenden und Religionen verschiedene Essens- und Kleidungvorschriften gibt und dass sich ihre Schule diesen gleichermaßen verpflichtet fühlt? Ist es dann "überbordend", an jedem Tag schweinefleischfreie Ernährung anzubieten, oder wäre es ausreichend, dies nur an drei Tagen der Woche zu tun? Wäre es wünschenswert den Sikh-Mitschüler nur an jedem zweiten Tag wegen seiner Kopfbedeckung zu hänseln? Ist es "übertrieben" zu verlangen, dass er zur Gänze davon verschont bleibt?

 

Natürlich nicht: Ein empathisches Bewusstsein für mögliche Benachteiligungen und ein Verständnis für die Perspektiven von (potentiell) Diskriminierten ist als Lehr- und Lernziel unteilbar und wünschenswert. Denn die antisexistische und antirassistische Medizin schlägt nicht ab einer bestimmten Dosis in Gift um, nur weil hin und wieder jemand Nebenwirkungen verspürt. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Roman (Dienstag, 13 August 2019 11:06)

    Toll, danke für diesen Text - den ich ab jetzt gern in verschiedensten Netz-Diskussionen verlinken werde!

    Ich möchte aber trotzdem ganz grundsätzlich konstruktiv hinterfragen: Der Text geht davon aus, dass es eine grundsätzlich "richtige"/"gute" Art im Umgang mit Alltagssituationen gibt, die Identitätspolitik berühren, und eine "falsche"/"nicht gute". Unklar ist aber für mich, wie dies festgelegt wird und von wem.

    Mir scheint da am wichtigsten zu sein, was auch sonst in vielen politischen Fragen in einer pluralen Demokratie am wichtigsten ist, nämlich die Maximierung der Freiheitsgrade für alle. Darauf zahlt natürlich zu allererst die Diskriminierungsfreiheit ein und deswegen unterstütze ich die Überlegungen im Text mehr oder minder vollständig.

    Stutzig wurde ich bei dem Beispiel des - und ich hoffe, das erläutert, was ich im zweiten Absatz meine, Oberkörperfreien Drummers. Denn statt hier ein rücksichtsvolles Verbot zu verlangen, wäre doch die "gute" Forderung (im Sinne der Freiheitsmaximierung), dass auch Frauen diese Form von Freizügigkeit zukommen soll (und/oder generell alle Formen der Freizügigkeit solange sie nicht wiederum die Freiheit anderer unzumutbar einschränken).

    Einzig bei den Religionen reagiere ich immer etwas allergisch. Es hilft, bei allen Überlegungen dazu immer an das "Fliegende Spaghettimonster" zu denken, etwa: 'wie würde man sich einer/m (natürlich immer ironisch) bekennenden "Pastafari" gegenüber korrekt und möglichst inklusiv verhalten?' Das Ergebnis solcher Gedankenspiele ist fast immer, dass Religionen nicht den selben Respekt verdienen wie andere, nicht religiöse Weltanschauungen und identitätsstiftende Eigenschaften/Lebensumstände/Persönlichkeitsmerkmale.