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"Bei den Kindern ein Bewusstsein für ihre Stärken erzeugen"

Das Sozialunternehmen "Climb" bietet Kindern an Brennpunkten "Lernferien" an, unterrichtet von Studierenden. Sarah Schettgen hat den Einsatz in einer Mainzer Grundschule koordiniert. Ein Interview.

Lernferien an einer Mainzer Grundschule. Foto: Climb.

Frau Schettgen, Sie studieren im 6. Semester Deutsch und Englisch auf Lehramt. Es dauert also noch eine Weile, bis Sie fertig sind. Trotzdem haben Sie im Sommer schon erste Erfahrung als Schulleiterin gesammelt. Wie kam das?

 

Na ja, Schulleiterin ist ein bisschen übertrieben. Ich habe an einer Grundschule in Mainz die Lernferien koordiniert.

 

Lernferien, was ist das denn?

 

Ein Ferienprogramm für Erst- bis Viertklässler. Ungefähr 45 Kinder, die zwei Wochen lang Deutsch und Mathe lernen, nebenher Ausflüge machen, Projekte und jede Menge Gruppenaktivitäten.

 

Klingt nach einer Ferienbeschäftigung für Kinder von besonders ehrgeizigen Eltern.

 

Das ist so nicht ganz richtig – alle Kinder können mitmachen! Wir bieten ja keinen regulären Unterricht an. Das könnten wir auch gar nicht, denn die Lehrkräfte, die bei den Lernferien dabei sind, sind meistens keine fertigen Lehrer, sondern studieren selbst noch. Es geht um das Knüpfen von Beziehungen, es geht darum, bei den Kindern ein Bewusstsein für ihre Stärken zu erzeugen und diese Stärken weiter zu fördern. Wir gehen vor den Ferien durch alle Klassen der Schule und machen Werbung, so haben alle Kinder eine Chance, sich zu bewerben. Wenn die Plätze nicht reichen, was öfter vorkommt, sehen wir, dass vor allem diejenigen drankommen, die davon besonders profitieren.

 

"Normaler Unterricht ist oft so defizitorientiert"

 

Kinder aus bildungsfernen Familien und Kinder, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist?

 

Zum Beispiel. Wir schauen, dass wir vorrangig Kinder an Bord haben, die ein Anrecht aufs Bildungs- und Teilhabepaket haben. Aber um solche Labels geht es gar nicht. Wir machen auch nicht bei genau 45 Kindern Schluss, so dass möglichst alle dabei sein können, die wollen. Normaler Unterricht ist oft so defizitorientiert, genau den Ansatz wollen wir nicht haben.

Sarah Schettgen studiert Lehramt an der Universität Mainz und hat die Lernferien an einer Grundschule koordiniert. Foto: privat

Wer ist eigentlich "wir"?

 

Damit meine ich das gemeinnützige Sozialunternehmen "climb", das hinter den Lernferien steckt. Ich war über vier Monate hinweg bei "climb" angestellt, um den Einsatz meines Teams vorzubereiten und dann die Lernferien vor Ort zu leiten. Die normalen Lehrkräfte bekommen übrigens kein Gehalt, ihre Arbeit ist komplett ehrenamtlich, für die zwei Wochen erhalten sie lediglich 250 Euro Aufwandsentschädigung.

 

Mit wie vielen Schulen arbeitet "climb" zusammen?


Angefangen hat alles 2012 in Hamburg,da haben sich drei Absolventinnen von "Teach First" zusammengetan, weil sie etwas für mehr Bildungsgerechtigkeit tun wollten. Und weil sie gemerkt haben, dass Schule allein die unterschiedlichen Voraussetzungen, die Kinder von zu Hause mitbringen, nicht ausgleichen kann. Vielen Kindern führt der Unterricht ihre Schwächen vor Augen, und wenn sie die nötige Ermutigung und tatkräftige Unterstützung dann nicht bekommen, prägt das Bildungskarrieren. Daher die Idee mit den Lernferien. Inzwischen bietet "climb" sie an Grundschulen in Hamburg, Dortmund, Mannheim, Bremen und Mainz an. In Mainz zurzeit an drei Grundschulen, aber wir hoffen, dass es nächstes Jahr vier werden. Lernferien sind im Sommer und im Herbst und je nach Bundesland über Ostern.

 

"Die Kinder lernen unbewusst sehr viel"

 

Wie sah ein typischer Lernferien-Tag aus?

 

Die Schülerinnen und Schüler sind aufgeteilt in drei Klassen, idealerweise kommen auf 15 Kinder drei Lehrkräfte. Pro Tag gibt es zwei Lernzeiten, jeweils eine für Mathe und eine für Deutsch, und eine Projektzeit. In den Lernzeiten sitzen die Kinder aber nicht vor ihren Schulbüchern und wiederholen den Stoff des vergangenen Schuljahres. Lernen geht auch anders. Zum Beispiel Mathe, indem die Kinder Pizza backen und dafür das Mehl abmessen müssen oder die richtige Menge Wasser. Da lernen sie unbewusst sehr viel, zum Beispiel, dass ein halber Liter dasselbe ist wie 0,5 Liter. Im Deutschunterricht haben wir oft kreatives Schreiben gemacht. Die Kinder haben Spielkarten mit Motiven gezogen und sich dazu Geschichten ausgedacht.

 

Die Sie dann anschließend korrigiert haben?

 

Normalerweise läuft die Korrektur in der Schule ja so, dass die Lehrerin die Fehler anstreicht, und dann müssen die Kinder aus ihren Fehlern lernen. Wir dagegen schauen nach, was das Kind schon richtig gut gemacht hat. Wenn zum Beispiel ein Mädchen die Groß- und Kleinschreibung bewältigt, aber darüber vergessen hat, Kommas zu setzen, dann sagen wir: Super, dass du schon erkannt hast, wann etwas klein- und wann großgeschrieben wird. Und als nächstes gucken wir uns mal die Zeichensetzung an. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer würden in ihrem Unterricht gern so arbeiten, aber ihnen fehlt dafür oft die Zeit. Unsere Gruppen sind klein genug dafür. Wir können jedes Kind da abholen, wo es steht. Egal, welchen Leistungsstand es hat. Und das Kind geht raus mit einem Bewusstsein für seine Stärken.

 

Und was machen Sie sonst noch so den ganzen Tag?

 

Jede Lernferien haben ein Motto, das kann "Sport und Ernährung" sein, "Forschen", "Traumberufe" oder "Meine Stadt". Diesmal hatten wir „Sport und Ernährung“, wir sind zum Stadion von Mainz 05 gefahren und haben eine exklusive Tour bekommen, inklusive Ersatzbank und den Umkleiden. Das war natürlich ein Highlight für die Kinder, außerdem waren wir im Kletterwald. Da gehe ich besonders gern hin, da kann man zugucken, wie die Kinder ihren Mut zusammennehmen und über sich hinauswachsen.

 

Bei wie vielen Lernferien waren Sie eigentlich schon dabei?

 

Angefangen hat alles im Sommer 2017, da war ich im ersten Semester, und eine Freundin, die auch Lehramt studiert, hat mir von "climb" erzählt. Meine unmittelbare Reaktion war: Was für ein cooles Konzept. Oft achten wir in der Welt auf die Dinge, die schlecht laufen, konzentrieren uns auf das, was wir an anderen und an uns ändern wollen. Und hier ist es genau umgekehrt. Vergangenes Jahr war ich dann gleich dreimal dabei: über Ostern, im Sommer und im Herbst, zuletzt schon als stellvertretende Projektleitung. Und jetzt habe ich selbst die ersten Lernferien geschmissen, alles organisiert und auch mal eingesprungen, wenn eine Lehrkraft krank war.

 

"Ich kann mich ausprobieren als Pädagogin"

 

Ziemlich viel Zeit, die Sie da investieren, die Ihnen dann fürs Studium fehlt.

 

Moment, das ist doch auch für mich 1A-Lernzeit. Ich kann mich ausprobieren als Pädagogin. Bei einem normalen Schulpraktikum sitzen Sie die meiste Zeit hinten und hospitieren. Sie gucken sich von den erfahrenen Lehrkräften ab, was nach gutem Unterricht aussieht. Sie selbst stehen aber nur ein, zwei Stunden vorn. Bei "climb" werden Sie reingeworfen, in einem begleiteten Rahmen, klar. Aber natürlich sind Sie als Team ein Stückweit auf sich allein gestellt. Das ist eine unglaublich wichtige Erfahrung für mich gewesen.

 

Was für Unterstützung gibt es denn bei "climb"?

 

An Vorbereitungswochenenden werden Sie auf Ihren Einsatz vorbereitet. In jeder Stadt gibt es hauptamtliche, erfahrene Mitarbeiter, die Sie bei allen Problemen unterstützen. Und jedes Lernferien-Team hat neben der Projektleiterin eine Projektleitungsassistenz und eine von "climb" geschulte Trainerin, die in die Klassen mitgeht und beständig Feedback gibt. Ich ging aus meinem ersten Einsatz 2017 raus und wusste: Ich kann die Kinder dazu bringen, auf mich zu hören. Das hat mich unglaublich beruhigt. Und als ich dann in meiner ersten Uni-Veranstaltung saß, in der es um das Zeitmanagement im Unterricht ging, war das nicht nur Theorie für mich. Ich konnte auf meinen Erfahrungen aufbauen.

 

Müsste es so ein Angebot nicht an viel mehr Schulen geben als an den drei, die es derzeit zum Beispiel in Mainz sind?

 

Natürlich wäre das schön. Aber so groß ist "climb" noch nicht, und wir brauchen genug Freiwillige. Die können sich einfach online bei climb bewerben, haben dann ein Telefonat mit den Lokalkoordinatorinen der jeweiligen Stadt und anschließend mit der Projektleitung an der Schule, an die sie kommen sollen. Bei den Telefonaten wird geguckt, ob die Person sich für "climb" eignet. Wichtig ist uns dabei, dass man merkt, dass jemand Lust auf "climb" hat! Das Schöne ist, dass die Universität Mainz die Lernferien inzwischen als außerschulisches Praktikum anerkennt, das hilft. Wir waren schon an fünf, sechs Schulen hier im Wechsel, aber wir merken auch, dass es wichtig ist, zu Schulen dauerhafte Beziehungen aufzubauen. Die Schulen, die Kollegien müssen das wirklich wollen, auch die Stadt als Träger muss zustimmen. Und natürlich wünschen wir uns, dass vor allem Schulen an sogenannten Brennpunkten mitmachen.

 

"Ein Junge schrie rum, da hat mich der Ehrgeiz gepackt"

 

Ein Riesenaufwand, und was machen Sie, wenn Eltern ihre Kinder anmelden, und dann tauchen die nur sporadisch auf?

 

Die Lernferien sind freiwillig, aber natürlich ist es schade, wenn ein Kind nicht regelmäßig kommt, denn es nimmt dann ja potenziell einem anderen Kind den Platz weg. Jeder Tag beginnt mit einem Morgenkreis, dann schauen wir, ob alle da sind, das ist schon für das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe wichtig. Wenn ein Kind nicht da ist, fragen wir bei den Eltern nach. Das müssen wir schon aufgrund der Aufsichtspflicht.

 

Was war Ihr schönstes Erlebnis als "climb"-Lehrerin?

 

Oh, da gab es viele Momente. Aber ich erinnere mich an meinem allerersten Tag, wie ich über den Schulhof lief und da schrie ein Junge rum, der ganz offensichtlich keinen Bock auf die Lernferien hatte. Und ich dachte: Oje, was soll ich denn mit dem machen? Dann aber hat mich der Ehrgeiz gepackt. Ich habe dieses und jenes ausprobiert und irgendwann gemerkt: Der braucht Verantwortung. Beim nächsten Ausflug habe ich ihn gebeten, die Kiste mit der Verpflegung zu tragen, und wie wir dann zum Bus gelaufen sind, hat er plötzlich keinen Mist mehr gemacht, sondern war total auf das Tragen fixiert. Er hat sich stark gefühlt, weil er die Kiste tragen konnte und ich nicht. Ein anderes Mal haben wir mit ultragenauen Waagen gearbeitet, es ging darum, das Gewicht von Flugzeugteilen zu messen. Doch er hat nur auf seiner Waage herumgepustet. Ich habe dann ganz beeindruckt getan, wie viel seine Luft wiegt, und ihn gebeten, doch mal alle Kinder pusten zu lassen und das Gewicht aufzuschreiben, genauer: die Kraft, mit der sie pusten können. Das hat er dann mit größter Sorgfalt getan, korrekt die Differenzen berechnet zwischen den verschiedenen Messwerten und alles ins Protokoll eingetragen. Seitdem weiß ich: Man kann jeden Schüler begeistern. Man muss nur herausfinden, wie.

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