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Das Ende der Freiwilligkeit

In Deutschland tun wir uns schwer mit Kitapflicht und Ganztag für alle. Wahrscheinlich hat das mit unserer Geschichte zu tun. Falsch ist es trotzdem. Ein Plädoyer.

Foto: Iris Hamelman/pixabay - cco.

Vergangene Woche hat die Bundesregierung über die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von zwei Milliarden Euro entschieden, eine erste Maßnahme, um den Ganztagsausbau der Länder in den Jahren 2020 und 2021 zu unterstützen. Ziel ist der im GroKo-Koalitionsvertrag für 2025 versprochene Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung für alle Grundschulkinder. Diese Woche hat das letzte Bundesland – Hessen – die Bund-Länder-Vereinbarung zum Gute-Kita-Gesetz unterzeichnet, womit die 5,5 Bundesmilliarden endlich fließen können. Auf ihrem heute beginnenden Bundesparteitag in Leipzig schließlich wird die CDU einen Antrag auf verbindliche Sprachtests bei Vierjährigen und eine davon abhängige verpflichtende Sprachförderung debattieren. Reicht das alles? Und ist das der richtige Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit? Der folgende Essay erschien als mein Beitrag zum gerade veröffentlichten Band "Schulreform", herausgegeben von den Bildungswissenschaftlern Nils Berkemeyer, Wilfried Bos und Björn Hermstein. Was denken Sie? Diskutieren Sie gern mit bei diesem kontroversen Thema!

 

DIE SCHULREFORM, für die ich in diesem Beitrag plädieren möchte, ist

eigentlich gar keine. Und noch dazu ist sie nicht auf den Schulbereich

beschränkt. Wofür ich mich stark machen möchte: Für mehr Verbindlichkeit. Und ja, für mehr Pflicht.

 

Das Problem ist ja nicht, dass wir unter einem Mangel an guten Konzepten

leiden. Oder daran, dass aus den Konzepten zu wenige vielversprechende

Innovationen im Bildungswesen folgen. Wir können auch nicht behaupten,

dass wir keine Ahnung haben, was wesentliche Gelingensfaktoren guter

Schule sind. Nein, die Pädagogik im Allgemeinen und die Bildungsforschung im Besonderen liefern uns zu all dem immerzu wichtige und meist gut belegte Anhaltspunkte. Viele von ihnen finden sich in diesem Sammelband wieder.

 

Es geht also nicht um das Fordern neuer Schulreformen. Es geht darum,

Konsequenz zu zeigen bei der Umsetzung dessen, was nachweislich gut ist.

 

Ich will nur zwei Beispiele nennen. Erstens: Die meisten Wissenschaftler

sind sich einig, dass eine hochwertige frühkindliche Bildung die

Startchancen von Kindern erheblich verbessert. Auch Kinder aus

bildungsfernen Familien profitieren erheblich, und zwar ihre gesamte

Bildungskarriere hindurch, wenn sie in der Kita pädagogisch angemessen und altersgerecht gefördert werden. Zweitens: Ebenso zeigt uns die

Bildungsforschung, dass Ganztagsangebote einen Beitrag zu mehr

Bildungsgerechtigkeit leisten können. Sie zeigt uns aber auch, dass es auf

die Art des Ganztags ankommt, konkret: Vor allem die echte Rhythmisierung des Schultages wirkt sich offenbar nachhaltig positiv aus.

 

Die Konzepte sind doch da. Die wirkliche Reform
bestünde darin, sie flächendeckend umzusetzen

 

Wir haben also die Konzepte, wir haben das Wissen, welche Reformen

funktionieren und welche nicht. Was wir als Gesellschaft meist nicht

haben, ist der Mut, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Auch die

Bildungsforschung verhält sich an dieser Stelle meines Erachtens häufig zu

passiv. Weshalb die eigentliche Reform, die wir in den Schulen und im

Bildungswesen allgemein brauchen, eine Ausweitung der Bildungspflicht ist.

 

Lassen Sie mich auch das an meinen beiden Beispielen ausbuchstabieren.

Erstens: Wir brauchen eine allgemeine Kitapflicht. Es ist fahrlässig, die

Debatte darum aus Angst vor den Eltern – genauer: dem Bildungsbürgertum – nicht (oder nur halbherzig) zu führen. Gegen eine Pflicht spricht auch nicht, wie gelegentlich behauptet, dass je nach Bundesland fast alle über Dreijährigen ohne Migrationshintergrund die Kita besuchen. Abgesehen davon, dass sie es zum Teil nur für wenige Stunden am Tag tun: Umso größer muss unsere Sorge sein, wenn zum Beispiel die Quote bei den Kindern mit Migrationshintergrund lediglich bei 82 Prozent liegt.

 

Zweitens: Wir verspielen das Potenzial der rhythmisierten Ganztagsschule,

möglicherweise verpassen wir sogar das Gelegenheitsfenster ihrer

flächendeckenden Einführung, wenn wir jetzt nicht ganz klar sagen: Sie

muss der neue Goldstandard sein. Als Gesellschaft können und sollten wir

unseren Kindern die bestmögliche Schulbildung bieten. Woraus sich für die Politik die Verpflichtung ergibt, die echte (so will ich sie mal nennen)

Ganztagsschule in ehrgeizigen Stufen zum Vollausbau zu bringen. Und für

die Schüler muss daraus ein neues Verständnis der Schulpflicht folgen, die

den Besuch des Ganztags nicht länger vom Elternwillen abhängig macht. Wenn wir es nicht tun, wird der Ganztagsschule schon bald vorgeworfen werden, dass sie überflüssig sei. Weil sie nicht richtig funktioniere. Was in

ihrer unechten Variante ja auch ein wenig stimmt. Es könnte sich dann die Überzeugung durchsetzen, dass die reine Betreuung am Nachmittag reiche, solange sie die den Eltern ermögliche, ihren Berufen nachzugehen. Womit der Ganztag schon nicht mehr Teil des Schulsystems wäre, bevor er dort überhaupt richtig angekommen ist. 

 

Ich weiß, was viele von Ihnen jetzt denken. Wirklichkeitsfremd, denken

Sie: Darauf lässt sich die Politik nie ein. Zu oft (Stichwort: Primarschule in Hamburg) haben zu reformwillige Landesregierungen Schiffbruch erlitten. Und die Geschichtsbewussten unter Ihnen könnten anführen, dass die Deutschen seit Diktatur und Totalitarismus genug hätten von einem Staat, der sich in den Kernbereich elterlicher Erziehungsrechte einmischt.

 

Es geht nicht um Bevormundung, sondern
um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung

 

Alles richtig, alles berechtigt. Und doch plädiere ich dafür, den Diskurs um mehr Verbindlichkeit und mehr Pflicht im Bildungswesen neu und mutig zu führen. Zu erklären, dass es nicht um Bevormundung geht, nicht um eine Spaltung der Familien, sondern um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung, wie es in vielen Ländern längst selbstverständlich ist.

 

Denn klar ist auch, dass wir in Deutschland bildungspolitisch an einem

Scheideweg angelangt sind. In den nächsten zehn, 20 Jahren wird sich

entscheiden, ob wir die Integrationsaufgabe bestehen, die sich einer

offenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert stellen. Eine Aufgabe, die vor

allem in der faireren Verteilung von Bildungschancen besteht. Oder

scheitern wir erneut wie einst die alte Bundesrepublik an ihrer Fiktion

der "Gastarbeiter", die da waren und doch nie ganz dazugehören konnten?

Die heutige Integrationsaufgabe ist sogar noch komplexer, weil sie nicht

mehr allein den klassischen Mustern von Neuankömmlingen und Einheimischen folgt. Es geht auch um den unterschiedlichen familiären Zugang zu Bildungsgelegenheiten unabhängig von der Herkunft.

 

Was uns optimistisch machen sollte: Die Wissenschaft hat die Argumente auf ihrer Seite. Und sie hat das Durchhaltevermögen, sie immer wieder zu

sagen. Denn im Gegensatz zur Politik muss sie nicht ihre Abwahl fürchten.

Aber sie kann die Meinungen und Wahrnehmungen in der Gesellschaft

mitprägen. Wenn sie es kann, sollte sie es auch tun.

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Kommentare: 10
  • #1

    Th. Klein (Freitag, 22 November 2019 09:59)

    "Zu erklären, dass es nicht um Bevormundung geht, nicht um eine Spaltung der Familien, sondern um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung, wie es in vielen Ländern längst selbstverständlich ist."

    Wenn oben von Verpflichtungen die Rede ist, kann ich die Verneinung von Bevormundung nicht nachvollziehen. Es mag sein, dass wiss. Studien bei Ganztagsangeboten einen besseren Bildungserfolg in Aussicht stellen. Aber mehrere Dinge sollte man im Blick haben:

    1. Bildung und Erziehung erfolgt auch im Umfeld der Eltern. Mag sein, dass es in vielen Fällen und besonders bei einem Migrationshintergrund nicht gleichwertig ist. Da spricht das Bildungsbürgertum, wie oben angemerkt. Trotzdem: Dies zu generalisieren und allen eine Pflicht aufzudrücken ist ein zu hartes Mittel und unverhältnismäßig.

    2. Es gibt eine geteilte Erziehungsaufgabe zwischen Staat (siehe Schulpflicht) und Eltern (Erziehungsberechtigten). Diese Teilung wird aufgeweicht zu Lasten der Eltern, was m.E. falsch ist. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht.

    3. Bildung ist nicht alles! Ja, es ist wichtig für die Gesellschaft und natürlich auch für das individuelle Fortkommen, aber die Tagesgestaltung von Kindern (unter 3 Jahren) allein davon abhängig zu machen, ist völlig einseitig gedacht und m.E. ebenfalls falsch. Für mich ist dies eher eine verdeckte Unterwürfigkeit, um letztlich wirtschaftliche Interessen zu bedienen, als ein "zeitgemäßes Verständnis von Bildung".

    Zeitgemäß und bei weitem zu wenig umgesetzt sind familienfreundliche Arbeits- und Lebensbedingungen, die Familien und Kindern viel mehr nutzen würden als solche ganztägigen "Angebote". Ich bedaure jedes Kind, das erst um 16 oder 17 Uhr aus KiTa oder Kindergarten abgeholt wird.

  • #2

    Working Mum (Freitag, 22 November 2019 13:53)

    @ Th. Klein: Wer Kinder bedauert, die um 16 Uhr aus der KiTa abgeholt werden, hat 1. die Lebenswirklichkeit vieler junger Eltern nicht verstanden, die nicht mehr darauf beruht, dass einer (in der Regel eine) dem anderen den Rück frei hält, und 2. den Wandel der KiTas, die keine Verwahranstalt der Fremdbetreuung sind, sondern frühpädagogische Bildungseinrichtungen. Eine frühzeitige Bildungsbeteiligung möglichst vieler ist der Königsweg zur faireren Verteilung von Bildungschancen, dabei geht es nicht um wirtschaftliche Interessen, sondern den Erhalt der Chance auf eine spätere möglichst freie Lebensgestaltung.

  • #3

    tmg (Freitag, 22 November 2019 15:07)

    @Working Mum: man kann die Lebenswirklichkeit vieler junger Eltern verstehen und dennoch deren Kinder bedauern, die bis 16 Uhr in einer sog. frühpädagogischen Bildungseinrichtung verbleiben müssen. Die These, dass der Besuch solcher Einrichtungenen später zu einer freieren Lebensgestaltung führt, erscheint mir gewagt. Ich denke, das Gegenteil ist richtig. Diese Kinder lernen den Optimierungsstress schon im Kindergarten kennen.

  • #4

    Th. Klein (Freitag, 22 November 2019 15:33)

    @Working Mom: "den Wandel der KiTas, die keine Verwahranstalt der Fremdbetreuung sind, sondern frühpädagogische Bildungseinrichtungen" nicht verstanden.

    Es gibt Letzteres, das gebe ich zu und kenne solche. Aber es gibt auch noch Erstere. Ich kenne die Einrichtung und den Tageablauf meines Sohnes sehr genau und würde zu 60-70% Ersterem und nur 30-40% Letzterem tendieren. Das habe ich sehr gut verstanden.

  • #5

    cookie (Freitag, 22 November 2019 16:32)

    @tmg&Th. Klein Ich bezweifle sehr stark, dass die Kinder, die ganztags eine KiTa besuchen, so bedauernswert sind. Es mag einigen schwer fallen es sich vorzustellen, aber vielleicht haben manche Kinder auch mehr Freude daran in der KiTa mit gleichaltrigen Kindern zu spielen als den ganzen Tag mit einem Elternteil zu verbringen.

  • #6

    tmg (Freitag, 22 November 2019 17:12)

    @cookie: ja, vielleicht ... manche.
    Ob der Aufenthalt in 'frühpädagogischen Bildungseinrichtungen' noch viel mit Spielen zu tun hat, bezweifle ich.

  • #7

    Working Mum (Freitag, 22 November 2019 19:06)

    @tmg: Tatsächlich besteht in vielen KiTas der zentrale Bildungsansatz im Freispiel, das gezielt angeregt und bei Bedarf moderiert wird.
    @ Th. Klein: 30-40% Bildungsanteil dürfte je nach Elternhaus, aber auch je nach Art, wie Eltern die Zeit mit ihren Kindern gestalten, ein deutlicher Vorteil sein.

  • #8

    Udo Michallik (Samstag, 23 November 2019 18:12)

    Ich mache es noch grundsätzlicher, obwohl meine Kinder schon studieren. Wir sind 1989 hier im Osten nicht auf die Straße gegangen, damit genau 30 Jahre später wieder ein Staat sich anmaßt, allen Eltern eine Pflicht zu verordnen. Das ist für mich ein fundamentaler Eingriff in die freiheitliche Ordnung dieses Landes und staatliche sozialistische Zwangsbeglückung a la DDR. Es sollten Angebote geschaffen werden, die Eltern überzeugen, ihren Bedürfnissen entgegenkommen. Aber gleichzeitig ihnen die Entscheidung überlassen, ob sie ihre (!) Kinder selbst betreuen möchten oder in eine Einrichtung geben. Wir sollten nach 70 Jahren Grundgesetz die geteilte Verantwortung zwischen Eltern und Staat nicht ohne Not aufs Spiel setzen und unseren Eltern zutrauen, für ihre Kinder die richtige Entscheidung zu treffen.

  • #9

    Roman (Mittwoch, 27 November 2019 23:31)

    @Udo Michallik: Also die Schulpflicht am besten auch noch kippen? Warum erst mit 6 Pflichten einführen? Warum schon mit 6 Pflichten einführen? Man könnte sich das Selbstbestimmungsrecht über "seine" Kinder (was für ein komisches Verständnis von Kindern ist das bitte!? Da sind doch keine Besitztümer!) doch noch viel länger erhalten. Bis sie 18 sind. Einfach mal 24/7h mit Papa spielen. Da lernt man was fürs Leben...
    Ich seh schon. Herr Wiarda trifft hier bei einigen einen einen Punkt. Da kommt direkt der Bevormundungs-"Hammer" und das "aber Mama und Papa ja en doch so viel zu geben". Kenne ich leider zur genüge. Interessanterweise kommt das sogar oft von den Erzieher*innen. Meiner Meinung nach ist das aber einfach nur Quatsch, den sich die Befürworter von Home Schooling selbst in die Tasche lügen...

  • #10

    Michial (Freitag, 06 Dezember 2019 00:19)

    Da ist sie endgültig, die linke Revolution.

    Es ist immer wieder beeindruckend, wie einseitig die Darstellung eines Themas gelingen kann.

    Ich glaube der größte Knackpunkt ist, dass man aus den Gedankenkreisen mancher Wissenschaftler keinen Allgemeinkonsens ableiten darf. Diese Studien, dass es eine Verbesserung für Kinder darstellen kann, mögen ja existieren. Allerdings sagen diese Studien auch einheitlich, dass falls jemand wirklich davon profitieren sollte, es Kinder aus sozialärmeren Schichten betrifft. Für den geht ist die Wirkung gegen null.

    Wir führen diese Debatte, weil der Anteil an Kindern aus sozial schwächeren Familien ansteigt und die Politik nun um Lösungen angebettelt wird. Auf den Schultern der Eltern, die den Kindern eine tolle Erziehung ermöglichen und zu der die Kinder noch eine wahre Verbindung haben, dürfen wir diese Debatte aber nicht austragen. Von einer Pflicht kann schonmal gar nicht jeder profitieren.

    @Roman: Da sie schon mit der 24/7h Polemik angefangen haben... Also meine Mutter hat mir mit 4 das Lesen beigebracht. Weil mich das halt interessiert hat und ich das so wollte. Ich habe früh gelernt, korrekt Aufsätze zu schreiben und hatte Spaß in Mathe. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass Bildungseinrichtungen bis zur Ende der Grundschule irgend einen Einfluss darauf gehabt hätten. Ich weiß allerdings, dass ich die unmotivierten Betreuer im Kindergarten und so manch bornierter Lehrer in der Schule zum Kotzen fand.

    Nach meiner persönlichen Meinung sind Befürworter solche Pflichtkonzepte (analog zur Wehrpflicht) entweder extrem naiv, haben eine Abneigung gegenüber Kindern bzw. fühlen sich selbst nicht zur Erziehung im Stande oder hatten eine brutale Kindheit. Wir sollten eher dafür sorgen, dass die heranwachsende Generation nicht sofort mit dem Ernst des Lebens konfrontiert wird. Das passiert früh genug.