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"Divide and Conquer"

Die Informatikerin Dorothea Wagner ist neue Vorsitzende des Wissenschaftsrates. Im Interview sagt sie, was sie sich für ihr Amt vorgenommen hat – und warum die Arbeitsweise des Beratungsgremiums sie an die Methoden ihres Faches erinnert.

Dorothea Wagner  Foto: privat.

Frau Wagner, vor nicht einmal einem halben Jahr haben Sie die Konrad-Zuse-Medaille erhalten, die höchste Auszeichnung in der deutschsprachigen Informatik. Am Freitag wurden Sie zur neuen Vorsitzenden des Wissenschaftsrates (WR) gewählt. Was treibt eine derart hochdekorierte Forscherin in die Wissenschaftsadministration?

 

Die Arbeit als Forscherin und das Engagement in der Selbstverwaltung habe ich nie als Gegensätze empfunden. Beides dient der Wissenschaft. Ich mache seit vielen Jahren in den verschiedensten Gremien mit, seien es Evaluationskommissionen, Peer Reviews oder das Fachkollegium Informatik der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dessen Sprecherin ich war. Ich habe dem Auswahlausschuss der Alexander-von-Humboldt-Stiftung angehört, ich war mehrere Jahre DFG-Vizepräsidentin und bin seit 2015 WR-Mitglied. Wenn ich auf mein Engagement zurückschaue, stelle ich fest, dass jede Station meinen Blick zusätzlich geweitet hat und dass ich als Person, aber auch als Forscherin daran enorm gewachsen bin. Insofern erscheint mir mein neues Amt als ein konsequenter nächster Schritt.

 

Wenn man sich all Ihre wissenschaftspolitischen Stationen anschaut, ist es umso erstaunlicher, dass parallel Ihre Reputation als einer der international führenden Köpfe in Ihrem Fach sogar noch gewachsen ist. Auch Ihr Tag hat nur 24 Stunden. Wie haben Sie das geschafft?

 

Ich habe es irgendwie geschafft, und das hat sicherlich viel zu tun mit meiner sehr gut funktionierenden Arbeitsgruppe am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – also mit der Unterstützung durch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die fanden es von Anfang an interessant, dass mein Engagement ihnen über die originären Aufgaben in Forschung und Lehre hinaus zusätzliche Einblicke in die Wissenschaftswelt verschafft hat. Mir ist aber schon klar, dass sich für mein neues Amt einiges wird ändern müssen. Der WR-Vorsitz nennt sich zwar ein Ehrenamt, aber faktisch wird er den Großteil meiner Zeit fordern, so dass mir kaum noch Gelegenheit zum Forschen bleiben wird. Ich sage mal so: Bedingt durch mein Alter und den Stand meiner Karriere geht das in Ordnung.

 

"Es wird in den nächsten Jahren verstärkt darum gehen, 
wie sich die Wissenschaft im Zeitalter der
Digitalisierung verändert. Auf diesen Schwerpunkt möchte
ich mich als WR-Vorsitzende konzentrieren."

 

Welche Ziele haben Sie sich gesteckt für Ihr Amt?

 

Ich wollte jetzt ganz bewusst noch mehr Verantwortung übernehmen, und das hat zu tun mit den Herausforderungen, vor denen die Wissenschaft in Deutschland steht. Als Vorsitzende des WR haben Sie zwar keine eigene Agenda in dem Sinne, so funktioniert dieses Gremium nicht. Die Themen, mit denen sich der WR befasst, werden in einem klar definierten Prozess zwischen Wissenschaft und Politik entwickelt, so entsteht sein Arbeitsprogramm, und daraus folgen alle Empfehlungen und Positionspapiere, die der WR beschließt und veröffentlicht. Es ist also nicht meine Agenda, und trotzdem übernehme ich den Vorsitz – vor dem Hintergrund meines Faches – zu einem sehr passenden Zeitpunkt. Denn viele der anstehenden und drängenden Themen treiben mich gerade auch als Informatikerin um. Es wird in den nächsten Jahren verstärkt darum gehen, wie sich die Wissenschaft im Zeitalter der Digitalisierung verändert. Auf diesen Schwerpunkt möchte ich mich als WR-Vorsitzende konzentrieren.

 

Weil die Baustellen da am größten sind?

 

Die Digitalisierung ist, selbst wenn man sich nur den Teilausschnitt anschaut, der die Wissenschaft betrifft, ein enorm komplexer technologischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozess. So komplex, dass man ihn in der Gesamtschau gar nicht richtig erfassen kann. Wir Informatiker sind allerdings gewohnt, mit komplexen Systemen und Fragestellungen umzugehen, und wir haben dazu eine Methode: Divide and Conquer. Wir zerlegen das große Problem in lauter kleinere, überschaubare Probleme. Und die lassen sich dann bearbeiten. Ich finde, diese Methode passt hervorragend zur Vorgehensweise des WR.

 

Welche Teilprobleme kommen denn bei der Zerlegung des riesigen Digitalisierungsthemas heraus?

 

Sehr viele natürlich, aber wir konzentrieren uns auf diejenigen, zu denen der WR wirklich einen fundierten Beitrag leisten kann. Zu Informationsinfrastrukturen zum Beispiel würden wir uns derzeit nicht äußern, da sind andere kompetenter, namentlich der Rat für Informationsinfrastrukturen. Aber schon im April werden wir voraussichtlich ein Papier zum Wandel der Wissenschaft angesichts datenintensiver Forschung beraten. Und wir planen, uns ebenfalls noch in diesem Jahr mit Open Access und seinen Folgen für die Finanzierung wissenschaftlicher Publikationen zu beschäftigen. Hinzu kommt ein Thema, das mich persönlich umtreibt, von dem ich mir wünsche, dass der WR sich bald vornimmt, auch dazu eine Empfehlung zu erarbeiten. Ich spreche von der Digitalisierung in der Hochschullehre.

 

Klingt fast so, als sei der Wissenschaftsrat bei der Digitalisierung etwas spät dran mit seinen Antworten.

 

Das ist mir zu einfach. Wenn Sie in den Empfehlungen der vergangenen Jahre blättern, von der Hochschulakkreditierung über die Evaluierung von Forschungseinrichtungen und, gerade jetzt, bei der Evaluation des Akademieprogramms und der Neugründung der Technischen Universität Nürnberg: Überall tauchen irgendwann die Digitalisierung und die Frage auf, welche Herausforderungen und Chancen sich aus ihr ergeben. Zur Digitalisierung in der Lehre gibt es allerdings noch kein Positionspapier des WR. Es wäre schön, wenn es dazu bald Empfehlungen gäbe, auf die die Hochschulen zurückgreifen könnten. 


Dorothea Wagner, 62, ist Informatikerin und Inhaberin des Lehrstuhls für Algorithmen am Karlsruher Institut für Technologie. Sie war sieben Jahre lang Vizepräsidentin der DFG und ist seit 2015 Mitglied im Wissenschaftsrat, zuletzt als stellvertretende Leiterin der Wissenschaftlichen Kommission. Foto: privat.


Vielleicht liegt das Fehlen einer Empfehlung daran, dass die Hochschulen die Digitalisierung der Hochschullehre selbst bislang nur halbherzig vorantreiben?

 

So pauschal würde ich das nicht sagen. Aber es kommt natürlich immer darauf an, was genau wir meinen, wenn wir von der Digitalisierung der Hochschullehre sprechen. Den Einsatz digitaler Medien? Die Aufzeichnung von Vorlesungen? Geht es darum, dass wir den Studierenden nützliche Informationen online zur Verfügung stellen? Oder verstehen wir unter Digitalisierung vielmehr, dass wir die Lehre selbst, die Vermittlung der Studieninhalte, in ganz neue Formen überführen? An der Stelle passiert in Deutschland noch relativ wenig. Da scheinen andere Länder weiter zu sein, die bekannten Universitäten in den USA sind vorangeprescht. 

 

Sorgt Sie das?


Also ich kann nicht sagen: Oje, bei uns läuft alles schlimm, und die anderen machen das ganz toll. Ich muss selbst auch noch sehr viel über das Thema lernen, deshalb freue ich mich ja so auf die Arbeitsgruppe, die der WR dazu hoffentlich bald einrichten wird. 

 

Es gibt angesehene Wissenschaftler, die sagen: Das mit der Digitalisierung der Lehre ist ein kostspieliger Hype, der sich hoffentlich bald von selbst erledigt. Alle teuren Gadgets, sagen sie, ändern nichts daran, was gute Lehre im Kern ausmacht. 

 

Ja, aber das ist jetzt genau der Punkt. Zur Digitalisierung in der Lehre fallen den meisten Leuten ein paar Stichwörter ein, Massive Open Online Courses (MOOCs) etwa, Inverted Classroom oder das, was vor, ach, fast 20 Jahren in aller Munde war: Die virtuelle Hochschule. Die Vorlesung, die einer hält und die dann überall ins Land hinausgeschickt wird. Was von alldem war und ist nachhaltig? Ich selbst würde nicht von einem Hype sprechen. Genauso wenig aber gehöre ich zu denen, die sagen: Wir werden morgen ganz anders lehren. In der Mathematik zum Beispiel, dem Fach, das ich selbst studiert habe, gehört die Vorlesung an der Tafel nach wie vor zu den besten Lehrformaten. Wenn ein Professor oder eine Professorin das gut kann, ist das mehr wert als so mancher technischer Schnickschnack.

 

"In der Mathematik zum Beispiel gehört die Vorlesung an der Tafel nach wie vor zu den besten Lehrformaten. Wenn ein Professor oder eine Professorin das gut kann, ist das mehr wert als so mancher technischer Schnickschnack."

 

Sagt jetzt Dorothea Wagner, oder gibt es dazu Studien?

 

Ich kann Ihnen keine Studien nennen, ich bin aber überzeugt davon, dass es in der Mathematik einen Konsens gibt, dass das so ist. Aber genau dieses gefühlte Wissen halte ich zugleich für den entscheidenden Grund, warum wir das Thema systematisch ausleuchten müssen, und das kann der WR. Zu den Fragen, auf die ich mir Antworten wünsche, gehört auch die nach den Ressourcen. So oft habe ich mir als Lehrende gewünscht, einmal eine ganz andere Form der Vorlesung ausprobieren zu können. Aber machen Sie das mal in der Informatik: In unserem Studiengang am KIT haben wir zurzeit mehrere tausend Studierende und fast 1000 Studienanfänger.

 

Auch das Thema Open Access hat der WR jetzt auf der Agenda. Die deutsche Wissenschaftsszene befindet sich allerdings schon seit Jahren in kräftezehrenden Verhandlungen mit den großen Wissenschaftsverlagen, das Gezerre mit dem größten, Elsevier, wirkt schier unendlich. Wäre der DEAL-Poker anders gelaufen, wenn der Wissenschaftsrat mit seiner Empfehlung früher zur Stelle gewesen wäre?

 

Wenn Sie zurückschauen, können Sie in der Geschichte des Wissenschaftssystems sicherlich immer wieder bestimmte Weichenstellungen identifizieren, bei denen sich fundierte Empfehlungen des WR hilfreich ausgewirkt hätten, es sie aber einfach nicht gab beziehungsweise das Thema nur im Kontext anderer Empfehlungen gestreift wurde. Aber gerade beim Thema Open Access ist es ja nicht so, dass die Wissenschaft in Deutschland isoliert, aus einer Art Laune heraus gehandelt hat. Die Entscheidung, sich in Richtung Open Access zu bewegen, wurde international getroffen, Deutschland geht diesen Weg mit. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen im DFG-Präsidium dazu. Natürlich hätte sich damals auch der WR damit beschäftigen können, aber ich sehe nicht, dass da etwas verpasst wurde. Wir sind ja noch mitten drin im Prozess.

 

Wie würden Sie diesen Prozess beschreiben?

 

Sie haben die DEAL-Verhandlungen erwähnt, in denen es übrigens sehr wohl vorangeht. Dass sie dauern, liegt sicherlich daran, dass jetzt Probleme zu lösen sind, die man so nicht vorhersehen konnte, die jetzt aber drängen. Ich rede von der Umstellung der Finanzierung. Bislang zahlten die Hochschulen und Bibliotheken über ihre Abo-Gebühren die wissenschaftlichen Zeitschriften, nach der kompletten Umstellung werden das nur noch die Autoren und ihre Institutionen sein. Es gibt seriöse Berechnungen, denen zufolge die Ausgaben für das gesamte Publikationswesen durch Open Access niedriger sein werden als heute. Ich halte diese Berechnungen für glaubhaft, doch im Augenblick stecken wir in einer Phase dazwischen, so dass an beiden Enden Kosten anfallen: bei den Abos und bei den Publikationsgebühren. Es entstehen also Zusatzkosten, und die Frage, wie diese zu bewältigen sind, ist so konkret und wichtig, dass sich der WR dazu bald äußern sollte – und es auch kann. Dabei hilft, dass mit Bund und Ländern die Geldgeber selbst mit am Tisch sitzen. Aber sicher wird das nicht die einzige Frage sein, die von der zuständigen Arbeitsgruppe behandelt wird.

 

"Wir werden auf die unterschiedlichen Publikationstraditionen und -kulturen
Rücksicht nehmen müssen, sonst geht das schief."

 

Und das ist gut so, denn Open Access ist ja nicht nur wegen der Kostenfrage umstritten. Manchmal bekommt man fast den Eindruck, dass die Politiker und Wissenschaftsfunktionäre den Systemwechsel mit mehr Begeisterung begleiten als die Autoren wissenschaftlicher Publikationen.

 

Für meine Disziplin kann ich das nicht bestätigen. Gerade bei den jungen Leuten, den Doktoranden und Postdocs, beobachte ich eine große Affinität zu Open-Access-Publikationen. Wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich für Open Access, ganz klar. Ob das in anderen Fächern ähnlich ist, kann ich nicht sagen, aber fest steht: Wir werden auf die unterschiedlichen Publikationstraditionen und -kulturen Rücksicht nehmen müssen, sonst geht das schief.

 

Hat Open Access das Potenzial, die Wissenschaft selbst und ihre Belohnungssysteme zu verändern?

 

Auch das ist sicherlich eine Frage für das WR-Papier. Open Access hat auf jeden Fall weitreichende Effekte, viele sind positiv, aber längst nicht alle. Um mit den negativen Begleiterscheinungen anzufangen: Ich gebe zu, mich hat dieser Skandal um sogenannte Predatory Journals im Sommer 2018 ziemlich schockiert. Ich hatte immer die Vorstellung, dass auf diese unseriösen Geschäftsmodelle, die wir alle kannten, kein seriöser Wissenschaftler hereinfällt. Doch ich wurde eines Besseren belehrt.

 

Beim Predatory Publishing zahlen die Autoren Geld, damit ihr Forschungsartikel ohne echte Begutachtung in einem zwielichtigen Journal veröffentlicht wird. Solange in der Wissenschaft vor allem auf die Quantität der Publikationen geschaut wird, ist der Anreiz da.

 

Open Access verändert das Publikationsverhalten aber auch in anderer, in positiver Weise, und das halte ich für viel zentraler. Ich arbeite ja an der Entwicklung von Algorithmen – und zwar auch an Algorithmen, die für den praktischen Gebrauch, für den Einsatz in der Anwendung gedacht sind.

 

Konkret geht es um die Grundlagen für moderne Navigationssysteme und deren Routenführung.

 

Genau. Und als wir damit vor 20 Jahren angefangen haben, hatte meine wissenschaftliche Community, die Algorithm Engineering-Community, die Vorstellung, dass zu jedem Artikel gleich die Software und die Daten mit veröffentlicht werden. Aus heutiger Sicht betrachtet war das eine naive und nicht so leicht realisierbare Vorstellung. Heute ist das aber möglich und in meiner Community gute wissenschaftliche Praxis. Sie sehen, das Publikationsverhalten ändert sich tatsächlich bereits. Spannend ist, ob es künftig überhaupt noch Journalartikel im klassischen Sinne geben wird oder ob die begleitende Veröffentlichung der gesammelten Daten, der Experimente und gegebenenfalls der Software zum neuen Standard wird.

 

Was macht das mit dem Bewertungssystem in der Wissenschaft?

 

In der Bewertung der wissenschaftlichen Qualität sollte künftig eine ebenso wichtige Rolle spielen, ob Software und Daten zur Verfügung gestellt werden. Auch die Zeit, die in deren Aufbereitung fließt, muss honoriert werden. Übrigens ist auch das ein Thema, das in dem für die Frühjahrssitzungen geplanten Positionspapier zum Wandel in den Wissenschaften durch datenintensive Forschung auftauchen wird.

 

"Ich kann nicht sehen, dass Deutschlands Wirtschaft als Ganzes ein Modernisierungsproblem hat. Aber was manchen technischen Aspekt der Digitalisierung angeht, schon."

 

Nicht nur die Wissenschaft muss angesichts der Digitalisierung ihre Position neu bestimmen. Deutschlands Gesellschaft und Wirtschaft stecken ebenfalls in einer tiefgreifenden Transformation. Wenn man sich beispielhaft die Krise der deutschen Schlüsselindustrie, den Automobilbau, anschaut, könnte man zu dem Schluss kommen: Deutschland hat ein Modernisierungsproblem. Teilen Sie diesen Eindruck, und wenn ja, was sagt das über die Leistung der Forschungseinrichtungen in Deutschland aus?

 

Ich kann nicht sehen, dass Deutschlands Wirtschaft als Ganzes ein Modernisierungsproblem hat. Aber was manchen technischen Aspekt der Digitalisierung angeht, teile ich Ihren Eindruck.

 

Was meinen Sie?

 

Das banalste, aber für viele besonders spürbare Beispiel ist die Netzabdeckung in Deutschland. Den Unterschied, was die Qualität von Internetverbindungen angeht, merken Sie, wenn Sie im Ausland unterwegs sind und dann mit der Deutschen Bahn fahren. Um schnell auf die Wissenschaft zurückzukommen, damit ich mich nicht nur als Betroffene äußere: Es gibt Bereiche in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz etwa, in denen viel passiert und Deutschland gut aufgestellt ist. Im sogenannten Cyber Valley in Baden-Württemberg forschen wirklich hochkarätige Leute, und das Land unterstützt sie tatkräftig dabei. Umgekehrt sorgt es mich durchaus, was ich in meinem eigenen Fach beobachte.

 

Und das wäre?

 

Mit dem Algorithm Engineering schlagen wir die Brücke aus der theoretischen Informatik in die Anwendung. Sie haben es vorhin kurz angesprochen: Wir entwickeln den algorithmischen Kern von Navigationssystemen oder auch von Fahrplanauskunftssystemen. Ich hätte mir vor 20 Jahren nie träumen lassen, welche Bedeutung diese Forschung mal bekommt. Seit ich damit angefangen habe, habe ich um die zehn Dissertationen in diesem Themenbereich betreut. Auffällig ist, dass diese Leute systematisch von amerikanischen Firmen angeworben werden. Einer dieser Doktoranden hat bei Microsoft Research angefangen und vor einigen Jahren dann bei Apple die Abteilung für Routenplanung übernommen. Wenn er mich anruft, fragt er regelmäßig: Wer ist als nächstes bei dir fertig, wen kann ich als nächstes rüberholen? Die haben da in Kalifornien jetzt sozusagen einen Karlsruher Cluster.

 

Warum sind Ihre Leute da drüben und nicht in Deutschland?

 

Weil die Firmen in den USA offenbar etwas richtig machen, was die Firmen bei uns bislang nicht hinbekommen. Sie ermöglichen sehr guten Leuten, dass sie andere sehr gute Leute nachholen. Sie bieten ihnen eine Arbeitsatmosphäre, die sie inspiriert. Am Ende geht der siebte Doktorand schon aus dem einfachen Grund hin, weil die sechs anderen auch schon da sind. Aber auch, weil sie dort auf einem Niveau etwas Neues ausprobieren können, wie es bei deutschen F nicht der Fall ist. Einer meiner Doktoranden ist zu einer deutschen Autofirma gegangen, der war nicht so begeistert.

 

Es geht also um die Vernetzung von Hochschulen und Wirtschaft. Es geht um die Frage, warum die Innovationsketten in Deutschland häufig nicht so gut funktionieren, warum der Weg aus der Grundlagenforschung bis hin zu erfolgreichen Produkten immer noch zu weit ist in Deutschland. Auch zum Transfer hat sich der WR in der Vergangenheit geäußert – mit spannenden, teilweise wegweisenden Ideen. Manchmal hat man den Eindruck: All die Papiere, so intelligent sie oft sind, verändern am Ende wenig.

 

Das klingt mir jetzt zu negativ. Die Erfahrung, die ich Ihnen eben geschildert habe, ist ja nur ein Ausschnitt. Es gibt auch weite Bereiche, da funktioniert die Interaktion zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland hervorragend. Ich habe selbst Kooperationen mit deutschen Firmen, die wirklich etwas Neues schaffen im Bereich der Routenplanung, Firmen in der Automobilindustrie auch aus dem Umfeld ihrer Zulieferer. Und wenn ich mir anschaue, wo meine Kolleginnen und Kollegen am KIT überall aktiv sind, dann kann ich nur sagen: Innerhalb Deutschlands finden sich genauso herausragende Beispiele gelungenen Transfers wie beim Karlsruher Fall im Austausch mit Apple in den USA. Nur genau das ist eben der Punkt: Gründungen von Firmen des Kalibers von Google, Apple, Facebook oder Amazon haben wir in Deutschland bislang nicht hinbekommen.

 

"Die Papiere des Wissenschaftsrates müssen
kürzer und knackiger werden, ein bisschen
leichter verdaulich."

 

Was kann der Wissenschaftsrat tun, damit seine Botschaft noch stärker ankommt?

 

Natürlich ist es manchmal frustrierend zu erleben, wie wenige der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unsere Papiere wahrnehmen oder gar lesen. Wobei es dann doch wieder einzelne Empfehlungen gibt, die eine sehr breite Wirkung entfalten, auch über die absoluten Fachkreise hinaus. Ich glaube, die Auswahl der Themen, die sich der WR vornimmt, passt und ist zeitgemäß. Und wir sind auch bisweilen in der Lage, schnell zu reagieren. Was wir tun können, damit unsere Papiere noch stärker rezipiert werden? Sie müssen kürzer und knackiger werden, ein bisschen leichter verdaulich. Das haben wir uns fest vorgenommen, und das haben wir auch schon umgesetzt. Einige der Positionspapiere, die in den vergangenen Jahren eine besondere Außenwirkung hatten, verdankten diese auch der Tatsache, dass sie eben nur 50 Seiten lang waren und nicht 150.

 

Sie reden von der Verpackung. Hat der Wissenschaftsrat auch im Kern Reformbedarf? Immerhin hat er ja schon etliche Jahre auf dem Buckel.

 

Tatsächlich ist er genauso alt wie ich. Jahrgang 57. Aber ernsthaften Reformbedarf kann ich trotzdem nicht erkennen. Der WR funktioniert, seine politische Bedeutung ist durch seine Konstruktion abgesichert. Es gehört zu den eindrucksvollsten Erfahrungen, wenn man neu ist in dem Gremium, wie dieser Aushandlungsprozess zwischen Wissenschaft und Politik abläuft; ein Aushandlungsprozess, der dazu führt, dass die Empfehlungen am Ende von denen, die Verantwortung tragen in der Wissenschaftspolitik, auch wirklich umgesetzt werden – eben, weil sie bei ihrer Verabschiedung mit am Tisch saßen.

 

Die neue DFG-Präsidentin Katja Becker hat bei ihrem Amtsantritt die Bedeutung der Diversität für die deutsche Wissenschaft hervorgehoben und das Ziel, "sie auf allen Ebenen zu erreichen". Werden Sie als Wissenschaftsrat den Ball aufnehmen?

 

Das brauchen wir gar nicht, weil wir schon länger dran sind. Wir haben soeben das Thema Genderforschung in unser Arbeitsprogramm aufgenommen, dazu wird der WR ein Papier erarbeiten. Andere Empfehlungen, die wir zuletzt beschlossen haben, haben ebenfalls Aspekte von Diversität beleuchtet. Nehmen Sie das Papier zur Internationalisierung der Hochschulen.

 

"Im Grunde ist das ein einfaches Rechenspiel: 
Mehr Diversität in der Wissenschaft führt zwangsläufig
zu mehr Qualität."

 

Wie hängen Diversität und Exzellenz zusammen?

 

Im Grunde ist das ein einfaches Rechenspiel. Wenn ich eine Wissenschaftlerstelle besetzen möchte und den Kreis derjenigen vergrößere, die dafür infrage kommen, erhöhe ich auch die Wahrscheinlichkeit, am Ende eine herausragende Person zu finden. Mehr Diversität in der Wissenschaft führt zwangsläufig zu mehr Qualität.

 

Warum hat Diversität trotzdem erst jetzt Konjunktur?

 

Für viele in Deutschland war Diversität in der Wissenschaft gleichbedeutend mit der Gleichstellung von Männern und Frauen. Die USA, so war die Wahrnehmung oft, die haben wirklich ein Diversitätsthema, aber doch nicht Deutschland. Nach etwas Nachdenken und genauerem Hinschauen stellen wir jetzt fest: Das stimmt so nicht. Unsere Bevölkerungsstruktur hat sich verändert, auch unsere Wahrnehmung ist zum Glück eine andere geworden. Denken Sie an die Einrichtung geschlechtsneutraler Toiletten – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Wir alle haben in kurzer Zeit, glaube ich, einiges dazugelernt, unseren Horizont erweitert, sind sensibler geworden. Und das ist gut so. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Marco Winzker (Montag, 03 Februar 2020 12:11)

    "In der Mathematik zum Beispiel, dem Fach, das ich selbst studiert habe, gehört die Vorlesung an der Tafel nach wie vor zu den besten Lehrformaten."

    Es gab in der Vergangenheit sicherlich einige nicht ganz gelungene Ansätze zur Digitalisierung der Lehre. Aber das spricht nicht gegen die Digitalisierung, sondern gegen diese Ansätze. Ich denke, wir sind auf dem Weg, die richtigen Ansätze zu finden.

    Als Beleg für den Forschritt auf diesem Weg sehe ich zum Beispiel Squirrel AI, für genau das genannte Thema Mathematik. In https://www.youtube.com/watch?v=hVHlMKbp2cg wird bei 0:45 eine "learning efficiency" von 5.4 für den AI Teacher und 0.7 für den Human Teacher genannt. Ja, das ist ein Marketing-Video, aber zumindest mal ein Grund genauer hinzusehen.

    Wer es gerne wissenschaftlich haben möchte, kann in diesem IEEE Paper nachsehen.
    Wei Cui ; Zhen Xue ; Khanh-Phuong Thai, "Performance Comparison of an AI-Based Adaptive Learning System in China"
    https://ieeexplore.ieee.org/abstract/document/8623327
    DOI: 10.1109/CAC.2018.8623327

  • #2

    Locke (Donnerstag, 13 Februar 2020 13:43)

    Einer meiner Doktoranden ist zu einer deutschen Autofirma gegangen, der war nicht so begeistert....

    Das ist genau eines unserer Probleme:
    D hat den Paradigmenwechslel vom Ingenieur zum Informatiker nicht hinbekommen.