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Spielerei mit Zahlen

In Berlin ist die Quote der Schulabbrecher angeblich gesunken. Wer genau hinschaut, entdeckt Erstaunliches. Auch die bundesweiten Statistiken zu den Schulabgängerzahlen werfen Fragen auf. Ein Gastbeitrag von Daniela von Treuenfels.

Foto: Wokandapix / pixabay - cco.

SCHULABBRECHER-STATISTIKEN haben etwas von einer Magier-Vorstellung. Wer sie präsentiert, macht die Verwirrung perfekt. Wo das Publikum noch das Kaninchen sucht, ist der Zauberer bereits dabei, die Taube verschwinden zu lassen. Und am Ende rätseln alle: Wie funktioniert der Trick?

 

In Berlin ist diese ganz eigene Form der Magie derzeit besonders gut zu beobachten. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) verpackt die Folgen von zehn Jahren Schulstrukturreform in Glitzerpapier, sprich: gesunkene Abbrecherzahlen. Und kehrt dabei, Hokuspokus, die Förderschüler unter den Tisch.

 

Die Statistiken, die Scheeres da für das Schuljahr 2018/2019 präsentierte, werfen weitere Fragen auf. So lag der angegebene Anteil der Schulabbrecher an Sekundarschulen mit 10,2 Prozent weit über der Zahl der Kinder, die am Ende der Grundstufe in Klasse sechs keine Förderprognose erhalten (7,7 Prozent), weil die Pädagogen einen Schulabschluss für unwahrscheinlich halten.

 

Eine aktuelle Analyse des Landeselternausschusses bestätigt die Vermutung, dass in den Klassen 7 bis 10 vieler Berliner Sekundarschulen etwas schiefläuft. Das Elterngremium hat aus den Schulportraits jeder einzelnen Schule die Zahlen zu den Abschlüssen seit 2014 herausgesucht und miteinander verglichen. Das Gesamtbild zeigt ein Desaster: In der Hälfte der Schulen geht die Kurve der Schüler ohne Schulabschluss nach oben, zum Teil deutlich. In rund einem Drittel der Sekundarschulen ist der Anteil der Schulabbrecher in etwa gleich geblieben. Nur in zehn Prozent der Schulen ist es gelungen, die Zahl der Schüler ohne Abschluss zu reduzieren.

 

Eine im Herbst 2019 veröffentlichte Studie der Caritas lieferte auch für die Bundesrepublik insgesamt einen bedrückenden Befund. "Deutschlandweit lag die Quote der Schulabgänger_innen ohne Hauptschulabschluss im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent", steht darin. "Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit sind über 52.000 Jugendliche betroffen."

 

Die Caritas wertet die Daten der Schulabgänger ohne Abschluss seit 2012 jährlich aus. Eine interaktive Karte zeigt Zahlen zu Ländern, Städten und Kreisen. Einzeln ausgewiesen werden jeweils: die Schulabgänger ohne Abschluss , der Anteil der Förderschüler, die Arbeitslosenquote, Beschäftigte ohne Berufsausbildung, ausländische Schüler sowie das Bruttoinlandsprodukt.

 

Die Unterschiede zwischen den Ländern sind enorm. So hat beispielsweise Hessen eine niedrige Abbrecher-Quote von 5,4 Prozent bei einer im Vergleich zu Berlin etwas höheren Förderschulquote und einem leicht niedrigeren Anteil ausländischer Schüler.

 

Auch die Stadtstaaten unterscheiden sich deutlich. In Hamburg liegt die Abbrecherquote mit rund sechs Prozent eher niedrig, womöglich hängt das mit der Wirtschaftskraft der Hansestadt zusammen. Bremen wiederum hat mit Abstand die wenigsten Förderschüler (0,8 Prozent) und den höchsten Ausländeranteil (17,2 Prozent) unter den drei Städten, liegt aber bei der Abbrecherquote von 10,4 Prozent unter dem Berliner Wert von 11,7 Prozent.

 

Weil die Voraussetzungen und Ergebnisse zwischen den Ländern so unterschiedlich sind, macht die Caritas gar nicht den Versuch, die Daten zu verallgemeinern. Allerdings sagen die Autoren der "Bildungschancen"-Studie: Auf den politischen Willen kommt es an. Insgesamt acht Erfolgsfaktoren haben sie identifiziert: Kooperation, Sozialraumorientierung, Schulsozialarbeit, Lernförderung, Programme für Schuldistanz, Berufsorientierung und Elternarbeit. Und eine treibende Kraft, wobei das nicht unbedingt Politiker sein müssen.

 

Worin Ost und West 
sich unterscheiden

 

In den ostdeutschen Bundesländern brechen im Schnitt mehr Jugendliche die Schule ab als im Westen. Die stetige negative Entwicklung nahm das Bundeswirtschaftsministerium zum Anlass, die Studie "Analyse und Ursachen für den höheren Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss in Ostdeutschland und Entwicklung von Lösungsansätzen" in Auftrag zu geben, die 2018 veröffentlicht wurde. Im Ergebnis mussten die Autoren festhalten: Die allermeisten Faktoren (Migrationshintergrund, Geschlechterunterschiede, Schulsozialarbeit, Gesundheitsdaten, frühe Elternschaft, Bildungsstand der Eltern etc.) lieferten keine Erklärung für die höheren Quoten in Ostdeutschland.

 

Es gibt jedoch einen engen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bruttoinlandsprodukt und einer hohen Abbrecherrate. Die ostdeutschen Länder bilden hier zwar jeweils die "Spitzengruppe". Doch auch strukturschwache Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und großer Kinderarmut in Westdeutschland produzieren viele Abbrecher.

 

Unterschiede finden sich in der Schulstruktur und vor allem in der Unterrichtskultur. Die Studie zitiert eine Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2016, derzufolge Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zu den Ländern mit den höchsten Anteilen an Förderschülern zählten. Bei insgesamt hohen Abbrecherquoten verlassen in den ostdeutschen Ländern die meisten Förderschüler die Schule ohne Abschluss.

 

Der Anteil der Lehrkräfte über 50 Jahre liegt in den ostdeutschen Bundesländern deutlich höher als im Westen. Diese "DDR-Sozialisation" könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese eher leistungsorientierten Pädagogen höhere Maßstäbe an die Erlangung eines Schulabschlusses anlegen als westdeutsche Lehrer. Belastbare Forschungsergebnisse dazu existieren nicht. Die Forscher zitieren aus qualitativen Interviews, die auf unterschiedliche Unterrichtskulturen schließen lassen. Die Rede ist von wenig moderner "theorielastiger" Wissensvermittlung und von der Rolle der Lehrer als "Faktenvermittler".

 

Die Faktenvermittler sind
vergleichsweise erfolgreich

 

Die ostdeutschen Bundesländer gehören beim IQB-Bildungstrend in vielen Testbereichen zur Gruppe oberhalb des Durchschnitts. Die regelmäßig stattfindende Erhebung findet im Auftrag der KMK statt und soll überprüfen, inwieweit die Bildungsstandards, die von den Ländern beschlossen wurden, auch erreicht werden.

 

Das Institut zur Qualitätsentwickung im Bildungswesen (IQB) in Berlin führt die Studien durch, im Primarbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik in der Regel alle fünf Jahre und im Bereich der Sekundarstufe I alternierend in den Fächergruppen Deutsch, Englisch und Französisch einerseits sowie Mathematik, Biologie, Chemie und Physik andererseits alle drei Jahre.

 

Bildungsstandards legen für die einzelnen Fächer fest, welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche bis zu einem bestimmten Abschnitt in ihrer Schullaufbahn entwickelt haben sollen. Unter einer Kompetenz wird dabei die Fähigkeit verstanden, Wissen und Können in den jeweiligen Fächern zur Lösung von Problemen anzuwenden. In einem sogenannten Kompetenzstufenmodell sind unterschiedliche Standards festgelegt. Der einfachste Standard ist der Mindeststandard.

 

Das "Kompetenzstufenmodell zu den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss im Fach Deutsch für den Kompetenzbereich Lesen" beschreibt ein Kompetenzniveau am Ende der Sekundarstufe I, "von dem angenommen werden kann, dass sich Schülerinnen und Schüler, die dieses erreichen, bei entsprechender Unterstützung erfolgreich in die berufliche Erstausbildung integrieren werden."

 

Dieses Ziel ist verfehlt, wenn die Schüler nur die unterste Kompetenzstufe erreichen oder darunter bleiben. In der Praxis bedeutet das: Die Jugendlichen finden nur Informationen in einem Text, wenn diese deutlich hervorgehoben sind. Wenn die Sätze kurz genug sind, verstehen sie auch, worum es geht. Im Endeffekt ist die Chance gering, dass die Schüler durch Lesen dazulernen.

 

Wer so wenig kann, schafft den
Hauptschulabschluss nicht – oder doch?

 

Der Bildungsbericht 2018 verknüpft die Schulabbrecherquote nun mit dem Anteil der Schüler, die beim IQB Bildungstrend im Bereich Lesen maximal den Kompetenzbereich Ia erreichen. Mit einem verwirrenden Befund: In allen ostdeutschen Ländern ist der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss am höchsten. Der Westen ist dagegen Spitze beim Verfehlen der Mindeststandards.

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Schulstatistik 2015/2016; IQB Bildungstrend 2015

Die Forscher können sich auf die teils enormen Unterschiede keinen Reim machen, doch eines halten sie für sehr wahrscheinlich: Wenn bundesweit sechs Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung ohne Abschluss die Schule verlassen, während neun Prozent in Jahrgangsstufe 9 hinter den Mindestanforderungen zurückbleiben, kann ein Teil der Jugendlichen mit Hauptschul- oder höherem Abschluss nicht sinnerfassend lesen.

 

Wenn Forscher etwas nicht erklären können, dürfen Laien spekulieren. Kann es sein, dass Länder mit miesen Ergebnissen in Vergleichsstudien ihre Abschlussstatistik aufhübschen, indem sie großzügig Zertifikate verteilen? Hessen und Bremen mit eher freundlichen Zahlen in der Caritas-Studie erscheinen plötzlich in einem anderen Licht: Der Anteil ihrer strukturellen Analphabeten ist doppelt so hoch wie die Abbrecherquote.

 

Ähnlich ist die Situation in Baden-Württemberg und im Saarland. Dagegen können Unternehmen, die Abgänger mit einem Schulabschluss aus Sachsen oder Sachsen-Anhalt ausbilden wollen, davon ausgehen, dass diese ein gewisses Maß an Fähigkeiten mitbringen. Insgesamt gibt es zu allen Statistiken mehr Fragen als Antworten. Der Verweis auf fehlende Untersuchungen, mangelnde Daten und der Ruf nach mehr Forschung ist auffällig.

 

Qualität im Bildungswesen kann es geben, wenn Wissenschaft und Gesellschaft Fragen stellen und von der Politik eine Diskussion über mögliche Lösungen einfordern. Der Berliner Landeselternausschuss lädt demnächst ein zum Runden Tisch: Eine neue Arbeitsgruppe "SOS – Schüler ohne Schulabschluss" soll als Plattform für Eltern, Schulleitungen und Verwaltungsleuten mögliche Strategien diskutieren. Ganz ohne Hokuspokus und billige Zaubertricks.

 

Daniela von Treuenfels ist freie Journalistin in Berlin und Mitbetreiberin von berlin-familie.de.

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