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Die Lehre von Hanau

Die Zukunftsfähigkeit dieses Landes zeigt sich daran, ob wir als Gesellschaft zueinanderfinden. Dieser Weg muss auch und vor allem über unsere Schulen führen.

EIGENTLICH WOLLTE ich heute erneut über die deutsche Innovationsschwäche schreiben. Ich wollte aus der neuen Statistik der KfW-Bankengruppe zitieren, derzufolge der Anteil der innovativen Unternehmen im Mittelstand zum wiederholten Male kräftig gesunken ist, sich inzwischen mehr als halbiert hat gegenüber dem Stand von vor 15 Jahren.        

 

Doch nach den Anschlägen von Hanau erscheint mir ein solcher Warnartikel hohl, an der eigentlich wichtigen Sache vorbei. Die Zukunftsfähigkeit dieses Landes entscheidet sich nicht am Zustand seiner Wissenschaft und seiner Unternehmen, sondern an der Frage, ob es uns gelingt, als Gesellschaft zueinanderzufinden.

 

Können wir zusammenstehen, unabhängig von unserer Herkunft, unserer Lebenssituation und unserer persönlichen Interessen, um gemeinsam das Wohl und die Würde aller Menschen in unserem Land zu verteidigen? Lassen wir weiter die Spalter definieren, wer als "deutsch" dazugehören darf und wer nicht?

 

Das fängt bei Formulierungen an: Solange bei rassistisch motivierten Angriffen auf unsere Nachbarn, Freunde und Kollegen sogar in einigen Medien von "Fremdenfeindlichkeit" gesprochen wird, verneinen wir den Kern dessen, was uns als Gesellschaft ausmacht. Lassen wir zu, dass das Klima in unserem Land vergiftet wird mit Hass und Misstrauen – oder trauen wir uns aufzustehen und zu sagen: Unser Land hat nur eine Zukunft, wenn alle Menschen, die bei uns leben, sich zu Hause fühlen können, wenn wir nicht mehr danach fragen, wo jemand herkommt, sondern wo er oder sie hinwill, welche Träume, Ambitionen und Pläne jemand hat.

 

Das Spiegelbild einer
gespaltenen Gesellschaft

 

Es sind also nicht immer nur die anderen, die Spalter, die "geistigen Brandstifter", die Rechtsextremen, die schuld sind. Es sind auch wir selbst, die Verantwortung tragen. Was wir in Hanau, Halle und anderswo beobachten, ist das Spiegelbild einer gespaltenen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, deren Teil wir alle sind. Die ihre gewachsene Vielfalt nicht als das begreifen kann, was sie ist: die einzige Chance, dieses an Herausforderungen so reiche 21. Jahrhundert erfolgreich zu bestehen. Diversität ist kein Mode-, kein Schimpfwort. Diversität ist etwas, das wir feiern sollten, vielleicht sogar gerade in einer Woche wie dieser. 

 

Ich möchte nicht, dass mein Argument zu pragmatisch, zu zweckorientiert rüberkümmt, nach dem Motto: Die Vielfalt unserer Gesellschaft bekommt erst dadurch einen Wert, dass die Vielfalt der Perspektiven es uns ermöglicht, einfallsreiche Antworten zu finden auf den demographischen und, Stichwort Innovationsschwäche, technologischen Wandel. Aber ich bin sehr wohl davon überzeugt: Eine monolithische, in sich gefangene Gesellschaft, die sich nicht immerzu und dynamisch entwickelt, wird zurückbleiben in der Welt von morgen, die eigentlich schon die Welt von heute ist. Nur eine bunte Gesellschaft, die anfängt, den Begriff des "Deutschen" zu definieren, wie es andere Einwanderungsländer es von jeher tun oder zumindest versuchen – eben über das gemeinsame Ziel der Menschen, nicht über ihre Herkunft – wird in der Lage sein, voranzuschreiten, anstatt sich im Kleinklein und in der Zukunftsangst zu verlieren. 

 

Wir finden uns ab mit einem Bildungssystem,
das noch mehr Spaltung erzeugt

 

Dies ist der Grund, warum ich als Journalist die Bildung als eines meiner Kernthemen gewählt habe. Denn so, wie unsere Gesellschaft gespalten ist, sind es auch unsere Schulen. Wir gestehen eben nicht allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Lebenssituation dieselben Chancen zu, im Leben voranzukommen. Wir geben uns mit der Illusion einer formaljuristischen Bildungsgerechtigkeit zufrieden, die besagt, dass ja jeder und jede, die "gut genug" ist, "alles werden" könne in diesem Land. Wir erkennen die unterschiedlichen sozialen Startvoraussetzungen nicht an, werfen dann aber Menschen vor, dass sie nicht ins Ziel kommen. Wir finden uns ab mit einem Schulsystem, das tiefe Spuren sozialer Segregation zeigt und noch mehr Misstrauen und Spaltung erzeugt. Und nein, das hat nichts mit der Zahl der Schulformen zu tun. 

 

Damit will ich nicht behaupten, dass Stillstand herrscht. Die frühkindliche Bildung in den Kitas ist längst als ein Schlüssel zu mehr Chancengerechtigkeit erkannt, Ganztagsschulen haben sich übers Land verbreitet, es gibt neue Ansätze und Förderprogramme für mehr Vielfalt, für mehr Teilhabe in den Schulen, Hochschulen und Betrieben. Die Kultusminister, über die so oft der Kopf geschüttelt wird, kämpfen, sie schieben, sie versuchen. Aber davon, die Bildung zum Politik-Thema Nummer 1 zu machen, sind wir noch genauso weit entfernt wie 2008, als Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten die "Bildungsrepublik Deutschland" ausriefen. Vielleicht ja, weil die meisten von uns das Thema in Wirklichkeit dann doch nicht so wichtig nehmen?

 

Es ist trivial zu sagen, dass der Weg zu einer Gesellschaft, die Diversität als ihre große Chance begreift, über die Bildung führt. Aber schon das zeigt das Problem: Dieser richtige Satz ist so oft gesagt worden, musste so oft gesagt werden, weil zu wenig passiert ist. Mit dem Ergebnis, dass nicht die Schieflage beseitigt wurde, sondern dass der Satz trivial und inhaltsleer klingt. Die Lehre von Hanau fängt in unseren Schulen an. 

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Kommentare: 4
  • #1

    Hans (Freitag, 21 Februar 2020 11:01)

    Soweit "Diversität" auch mit "Gemeinsamkeit" einher geht, würde ich zustimmen. Diversität, die sich in einander abgewandten Multikultur-Inseln erschöpft, ohne das einigende Band des Deutschen als (nichtbiologistische) Leitkultur zu respektieren, würde uns noch viel mehr spalten. Genauso wie die unsägliche Spaltung zwischen guten Linken und bösen Rechten.

  • #2

    Christiane Arndt (Freitag, 21 Februar 2020 11:26)

    Herzlichen Dank für diesen Beitrag! Vieles erinnert mich an das aktuelle und - wieder einmal - sehr lesenswerte Buch von Aladin El-Mafaalani - Mythos Bildung (https://www.mafaalani.de/mythos-bildung). Es kann also gar nicht oft genug gesagt werden, aber wesentlich öfter etwas dafür getan werden.

  • #3

    Peter H (Freitag, 21 Februar 2020 18:55)

    Herr Wiarda hat einfach nur Recht. Und es gelingt nicht Geschichte so erfahrbar zu unterrichten, dass die individuellen Lehren klarer hervorkommen.

  • #4

    Wolfgang Deicke (Freitag, 21 Februar 2020 20:52)

    Vielen Dank für diesen Beitrag!