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Raus aus dem Sandkasten!

Der Streit um die studentische Anwesenheitspflicht bewegt sich
seit Jahren auf  Förmchenklau-Niveau. Wir sollten die Debatte zum Anlass nehmen, die Hochschullehre ins 21. Jahrhundert zu befördern. Ein Gastbeitrag von Christopher Kohl.

Christopher Kohl. Foto: privat.

VORWEG: ICH HALTE NICHTS von Anwesenheitspflichten. Ich bin erwachsen und sollte selbst entscheiden dürfen, welche Lehrveranstaltung ich wann besuche. Wenn ich nicht zum Seminar gehe, falle ich möglicherweise durch die Prüfung. Na und? Daran bin ich dann selbst schuld. Ich bin für meinen Studienerfolg selbst verantwortlich. Wir sind nicht in der Schule.

 

Ich halte aber viel von Anwesenheit. Denn ich möchte an den Sitzungen und Diskussionen teilnehmen. Zuvorderst, um den Stoff zu durchdringen; hintergründig, um die Prüfung gut abschließen zu können. Dabei ist mir ein Seminar mit fünf engagierten Leuten lieber als eins mit zwanzig unmotivierten. Von ersterem profitiere ich, von letzterem bin ich genervt.

 

Ping-Pong-Spiele und
Diskussionen voller Eitelkeit

 

In den vergangenen Jahren erließen einige Länder Verbote von Anwesenheitspflichten, NRW tat dies etwa 2014 unter Rot-Grün. Das führte in Lehrveranstaltungen zu Kontroversen und in ohnehin aufgeheizten Gremien zu Schreiduellen. Gegen die habe ich nichts, solange ihre Ergebnisse stimmen. Doch das war selten der Fall. Weil nur wenige Lehrende die Gesetzesänderungen akzeptieren wollten, stieg plötzlich ihr Einfallsreichtum: Da Rot-Grün etwa Sprachkurse oder praktische Übungen aus dem Verbot ausnahm, etikettierten sie Seminare zu solchen Übungen um und kreierten damit Ausnahmeregelungen, um weiter die physische Anwesenheit der Studierenden protokollieren zu können.

 

Ein gutes Argument für die Anwesenheitspflicht lautete: "Die Ungewissheit über die Teilnehmerzahl verursacht Probleme in der Planung." Ein schlechtes klang so: "Ich kann bei meinem Seminar ja auch nicht einfach wegbleiben."

 

Extreme prägen bis heute alle Diskussionen. Lehrende argumentieren mit dem Studenten, der nur in zwei Sitzungen da ist und sein Pflichtreferat hält, sich aber beschwert, wenn ihm seine Note nicht gefällt. Studierende führen - neben bestehenden Gesetzen - den Professor ins Feld, der seine Zeit bis zur Rente spürbar aussitzt. Er integriert weder moderne Lehrmethoden, noch aktuelle Forschungsstände in sein Seminar, sieht aber seine Eitelkeit verletzt, wenn sich Studierende nun seiner Veranstaltung entziehen.

 

Aus meiner Sicht änderte sich in den Lehrveranstaltungen wenig. Ja, es kamen weniger Leute. Doch blieben vor allem jene weg, die sich ohnehin nicht einbrachten. Weder bei der Qualität der Lehre, noch bei der der Diskussionen spürte ich einen Wechsel. Und für die Erkenntnis, dass Anwesenheit in Lehrveranstaltungen den Prüfungserfolg fördert, brauchte ohnehin niemand beleidigt verfasste, schulmeisterliche Studien.

 

Für die Politik war das Thema ohnehin nur parteipolitisches Ping-Pong. Seit 2019 erlaubt NRW dank Schwarz-Gelb wieder Anwesenheitspflichten. Die Politik zieht sich aus der Verantwortung, als wäre nichts gewesen. Doch "Regelt’s selbst!" ist keine Haltung. Es wird dem Thema auch nicht gerecht. Denn die Mehrheitsverhältnisse in Hochschulgremien verschaffen den Studierenden strukturelle Nachteile.

 

Gemeinsam die Hochschullehre
des 21. Jahrhunderts gestalten

 

Da von der Politik wenig zu erwarten ist, wird es Zeit, sich dem Thema in den Hochschulen konstruktiv zu nähern. Wer als Studierender glaubt, alles Verpasste könne und würde dank "Digitalisierung" bequem wettgemacht werden, ist ebenso auf dem Holzweg wie eine Hochschule, die glaubt, alle Probleme ließen sich, schwupps, nur mit Anwesenheitspflichten lösen.

 

Ihre Wiedereinführung oder auch schon die Debatte darüber könnten aber den Anstoß für etwas darstellen, das viele Hochschulen bislang verschlafen: die gemeinsamen Gestaltung einer Hochschullehre, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist.

 

Dabei geht es darum, dass Lehrende und Studierende ihre Lehrveranstaltungen als Gemeinschaftsprojekte begreifen, an denen beide wachsen können. Das bedeutet nicht, dass sich jede Veranstaltung künftig das Label "Hier findet digitalisierte Lehre statt" anheften soll. Schließlich können auch traditionelle Seminare und Übungen funktionieren, solange beide Seiten einen Erkenntnisgewinn verbuchen.

 

In den Geisteswissenschaften schließt das sowohl einen inhaltlich stärkeren Bezug zu aktuellen Forschungsständen als auch eine stärkere Einbindung der Studierenden ein. Wer Studierende zur Teilhabe an Lehre und Forschung motiviert, wird Erfolg haben. Ob es eine Anwesenheitspflicht gibt oder nicht. Doch gibt es sie, ist die Verpflichtung der Lehrenden, die Studierenden geistig mitzunehmen, sogar noch größer.

 

Natürlich setzt das auch eine entsprechende Einstellung der Studierenden voraus. Dank der Verschulung vieler Studiengänge haben viele von ihnen das Gefühl, ihre schulische Laufbahn einfach nur fortzusetzen. Dabei ist die Entscheidung für ein Studium auch eine Entscheidung für den Erwerb und die Schaffung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Leider fehlt vielen ein Bewusstsein dafür und viele Hochschulen versäumen es, dies zu fördern – gerade bei Lehramtsstudierenden.

 

Vor einigen Monaten fiel in einer Kölner Arbeitsgruppe zu dem Themenkomplex der Satz: "Anwesenheitspflicht darf kein Ersatz für schlechte Lehre sein." Den würden sicher viele unterschreiben. Dieser Satz sollte aber auch die Grundlage für weitere Schritte sein, die Studierende und Lehrende gemeinsam gehen können. Diese gelingen aber nur, wenn beide den Sandkasten verlassen. Im Sinne einer besseren Hochschullehre wäre dies zu wünschen.

 

Christopher Kohl studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität zu Köln und engagierte sich mehrere Jahre im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). Außerdem war er Mitglied der Chefredaktion der AStA-Zeitung.

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Kommentare: 1
  • #1

    René Krempkow (Mittwoch, 26 Februar 2020 17:28)

    Ein schöner Gastbeitrag zu diesem teilweise sehr ideologisch diskutierten Thema!
    Hierzu noch ein Hinweis: Es gibt auch einzelne Beispiele für Versuche, die oft als Dichotomie gesehenen nur zwei (von vielen) Möglichkeiten aufzubrechen, z.B. mit Bonussystemen; und deren Effekte auch mal empirisch zu untersuchen statt (ideologisch) zu diskutieren. Und zwar wurde dies mit einem Beispiel von der Uni Würzburg von Jacqueline Mehler & Friedrich Schöppler im Beitrag "Bonussysteme – Eine Alternative zur Anwesenheitspflicht?" in der Zeitschrift "Das Hochschulwesen" bereits 2017 vorgestellt, wozu das betr. Heft nun auch online verfügbar ist: www.hochschulwesen.info/inhalte/hsw-4-5-2017.pdf.

    Es erscheint mir wünschenswert, dass auch solche empirisch untersuchten Erfahrungen in die weitere Diskussion zu diesem Thema einfließen... ;-)