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Die Pflicht der Wissenschaft

Was der Coronavirus für Forscher bedeutet – und wieso ihnen in der öffentlichen Debatte eine Schlüsselrolle zukommt.

ES SIND AUFREGENDE TAGE für die Wissenschaft. Dafür sorgt der Coronavirus, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. 

 

Zunächst einmal fachunabhängig: Müssen lang geplante wissenschaftliche Tagungen abgesagt werden? Und wenn die Behörden es nicht tun, entsteht ein faktische Druck schon dadurch, dass andere Veranstalter sich zu einem solchen Schritt entschieden haben? Der ZEIT-NewsletterWissen3  etwa berichtete gestern, dass das March Meeting der American Physical Society abgeblasen wurde. Auch in Deutschlands Hochschulen und Forschungseinrichtungen wiegen sie derzeit die Argumente hin und her. Immerhin: Diejenigen Konferenzen, die in den vergangenen Tagen stattgefunden haben, waren meist gut besucht. Fast wie immer.

 

Nachhaltig gestört ist in jedem Fall der internationale wissenschaftliche Austausch, auf der Ebene der etablierten Wissenschaftler genauso wie der Studierenden. Dass viele Hochschulen ihre Kooperationen und Doppelabschluss-Programme mit China on Hold gestellt haben, ist längst keine Nachricht mehr. Schon eher, dass zum Beispiel der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) es auch seinen Stipendiaten im Iran, Italien und Südkorea freistellt, nach Deutschland zurückzukehren – und von der Reise in diese Länder abrät. 

 

Gesellschaft und Politik erwarten
von der Wissenschaft Orientierung

 

Aufregend ist Corona aber gerade auch für die Wissenschaftler bestimmter Disziplinen, vor allem in der Medizin, genauso aber in den Sozialwissenschaften. Weil sie sich positionieren müssen. Die Gesellschaft und die Politik erwarten Orientierung in diesen Tagen: Worauf müssen wir uns einstellen? Während viele Forscher wohltuend zur Versachlichung beitrugen, haben andere offenbar Angst, die Gefahren zu verharmlosen. Und wieder andere nutzten zwischendurch sogar die Gelegenheit, sich medienwirksam in den Vordergrund zu spielen. Ich will an dieser Stelle keine Namen nennen, ich fand aber das Zusammenspiel einiger Forscher, die nonchalant fast beliebig hohe Infektionsraten in Deutschland prognostizieren, mit Medien, die diese Prognosen auch noch verkürzt weitergeben, teilweise ärgerlich, ja verstörend.

 

Wissenschaftler tragen in dieser Situation genauso Verantwortung wie Wissenschaftsjournalisten. Fest steht: Lange gelang es nicht, den Diskurs zu versachlichen. China zum Beispiel meldet seit Tagen stagnierende oder sogar zurückgehende Werte bei den Neuinfektionen. So kletterte die Gesamtzahl der bestätigten Kranken in der Volksrepublik gestern gerade noch um gut 200, und die Zahl der Genesenen übersteigt seit bald zwei Wochen die der  neu Erkrankten. Doch die vielfach transportierte Schlagzeile lautete: Erstmals mehr als 80.000 Kranke. 

 

Jetzt könnte man argumentieren, dass es eine hohe Dunkelziffer nicht erkannter Fälle gebe, doch wenn das stimmt, hätte das auch etwas Gutes: Dann wäre die Sterblichkeit nämlich deutlich geringer als dort zunächst berechnet, weil diese Erkrankten ganz im Stillen wieder gesund werden. 

 

Aus den Erfahrungen in China lässt sich ableiten, dass die Zahlen in Ländern wie Deutschland, wohin der Virus später kam, noch eine Weile kräftig steigen werden, um sich dann vermutlich auch seitwärts zu entwickeln. Wenn die ergriffenen Abwehrmaßnahmen, von der Quarantäne erkrankter Personen bis zur generellen Registrierung ankommender Passagiere aus besonders betroffenen Ländern, denn funktionieren. Und wenn die Gesellschaft diese Maßnahmen als Beruhigung empfindet und nicht als zusätzliche Verunsicherung. Womit plötzlich nicht nur die Expertise und öffentliche Positionierung der Mediziner gefragt ist, sondern, siehe oben auch vor allem der Sozialwissenschaftler.

 

Apropos: Für Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler ist die Corona-Epidemie in einer weiteren Hinsicht spannend. Als Analyseobjekt. Wie verbreitet sich öffentliche Panik, und welche Faktoren und Akteure tragen dazu wie bei? Kürzlich  hat Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) "diese Panik, dieses Herdenverhalten" in der Passauer Neuen Presse als seine größte Sorge bezeichnet. Er meinte vor allem die Finanzinvestoren und die abstürzenden Aktienmärkte, die drohende Rezession. Man kann als Beispiel aber auch die von Hamsterkäufern geleerten Mehlregale und die online nicht mehr bestellbaren Desinfektionsmittel und Schutzmasken nennen. Sich selbst verstärkende Panikeffekte. Sicherlich faszinierend zu beobachten für Sozialwissenschaftler. Und dramatisch für uns alle. 

 

Die nächsten paar Tage werden entscheidend sein. Bekommen Deutschland und andere Staaten die Kurve, oder wächst die Verunsicherung in der Öffentlichkeit in einem Ausmaß, das den Basisdaten der Gesundheitskrise in keiner Weise angemessen ist? Zum Glück scheint vielen Politikern und Wissenschaftlern dies bewusster zu sein als noch vor vergangene Woche. Viele ihrer Äußerungen klangen zuletzt schon deutlich weniger aufgeregt und spektakulär.

 

"Keep calm und carry on", sollte die Botschaft sein, die Wissenschaftler in diesen Tagen in die Öffentlichkeit aussenden. Man könnte hinzufügen: "Carry on with caution": Informieren, versachlichen, nicht unnötig zuspitzen. Sich nicht öffentlich zu steilen Thesen verleiten lassen. Kanzlerin Merkel sagte, sie plädiere "für Maß und Mitte" im Umgang mit dem Virus. Eine wunderbare Devise auch für die Wissenschaft.

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Kommentare: 1
  • #1

    Freybob (Mittwoch, 04 März 2020 22:44)

    Man sollte bei dem Artikel auch die lobenswerte Haltung von Jens Spahn erwähnen. Zwischen den lokalen Entscheidern steht er als Verantwortungsträger besonnen, abwägend und bestimmt in der Öffentlichkeit.