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"Keine einzige Lehrkraft hat sich angesteckt"

Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan zieht Bilanz nach vier Wochen Vollbetrieb an Kitas und Grundschulen und sagt, warum die Schulen auf die nächste Welle besser vorbereitet sind. Ein Gespräch über Abiturnoten, den Bildungsföderalismus, Digitalisierung und ein schwer zu schluckendes Bundesprogramm.

Claudia Bogedan, 45, ist SPD-Politikerin und Bremer Senatorin für Kinder und Bildung. 2016 war sie Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Foto: Die Senatorin für Kinder und Bildung.

Frau Bogedan, warum haben Sie in Bremen die Abiturnoten zum zweiten Mal in Folge hochgesetzt?

 

Moment, wir haben nicht die Abiturnoten insgesamt hochgesetzt. Wir haben die Benotung der Klausuren angehoben, und zwar nur in Mathematik, um zwei Punkte. Im Gegensatz zu den Abituraufgaben in den anderen Fächern hatten sich hier Auffälligkeiten gezeigt. 

 

Direkt nach Ihrer Entscheidung, die Klausurnoten anzuheben, haben Sie das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für die Auffälligkeiten, wie Sie sie nennen, verantwortlich gemacht. Worum genau ging es?

 

Die Klausurnoten wichen massiv nach unten ab im Vergleich zu den Vorjahren. Aber nur in Mathe. Gleichzeitig waren wir dieses Jahr meines Wissens das einzige Bundesland, das alle Aufgaben unverändert aus dem bundesweiten Abi-Aufgabenpool genommen hatte, den das IQB bestückt. Diese Aufgaben haben sich jetzt zum zweiten Mal in Folge als in ihrer Formulierung nicht geeignet erwiesen – mit dem Ergebnis, dass die Schülerinnen und Schüler ihretwegen schlechter abgeschnitten haben.

 

Die Einrichtung des Abi-Aufgabenpool wurde einst von den Kultusministern, also Ihnen und Ihren KollegInnen, beschlossen. Und das IQB wurde von der Kultusministerkonferenz beauftragt, die Aufgabenerstellung zu koordinieren. Zu koordinieren wohlgemerkt. Die Fachexperten, die sich die Aufgaben ausdenken, werden wiederum von allen 16 Kultusministerien ans IQB entsandt. Diese Experten entscheiden, nicht das IQB. 

 

Ich stelle fest, dass der Prozess der Aufgabenstellung so nicht klappt. Und das, obwohl andere Kultusminister und ich bereits vergangenes Jahr auf notwendige Veränderungen hingewiesen und Änderungen angemahnt hatten. Doch offenbar ist nichts passiert.

 

"Wir können als Minister noch so
viele gemeinsame Standards verabreden, 
wenn ihre konkrete Umsetzung nicht klappt."

 

Vergangenes Jahr hatte neben Ihnen auch Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) die Benotung der Mathe-Abiklausuren um einen Punkt hochgesetzt und den Aufgabenpool als Schuldigen benannt.

 

Ich habe nichts gegen das Ziel hinter dem Aufgabenpool: mehr bundesweite Vergleichbarkeit beim Abitur. Als Vertreterin eines kleinen Bundeslandes würde ich mir sogar noch weit mehr wünschen, am liebsten ein bundesweites Zentralabitur. Das Problem ist, dass wir Minister noch so viele gemeinsame Standards verabreden können, wenn ihre konkrete Umsetzung nicht klappt. 

 

Sie sind die Kultusminister, also ändern Sie es.

 

Das ist keine Entscheidung von uns Ministerinnen und Ministern, sondern von den, wie Sie richtig sagen, von uns ans IQB entsandten Fachexperten. Und von den Fachkommissionen in jedem Bundesland, auch in Bremen, die auswählen, welche konkreten Aufgaben aus dem Pool in die Abiklausuren kommen. Offenbar gab es da erneut ein fachliches Problem in der Art und Weise, wie die Aufgaben formuliert waren – und wie sie in Bremen zusammengestellt wurden. Nämlich so, dass die Schülerinnen und Schüler sie kaum in der vorgesehenen Zeit schaffen konnten. 

 

Mit Verlaub, ein bisschen nach Ausrede klingt das schon. Womöglich leistet der Abi-Aufgabenpool ja genau das, was er soll: Er schafft mehr Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern, und die ergibt, das Bremer Schüler schlechter aufs Abitur vorbereitet sind.

 

Ja, aber das wäre doch nur der Fall, wenn das in anderen Fächern genauso gewesen wäre. War es aber nicht, die Abiturienten haben nicht schlechter abgeschnitten als in den Vorjahren – was übrigens zeigt, dass auch die Corona-Pandemie nicht der Grund war. 

 

Sie haben vorhin betont, dass Sie selbst sich sogar ein Zentralabitur wünschen würden. Schimpfen Sie womöglich auf die Fachexperten und aufs IQB, meinen aber in Wirklichkeit ihre Ministerkollegen, die auf der Bremse stehen?

 

Je anerkannter das Abitur als bundesweiter Qualitätsmaßstab wird, desto besser. Als kleines Bundesland profitieren wir besonders, wenn unsere Schülerinnen und Schüler überall in Deutschland ohne Probleme an den Hochschulen aufgenommen werden, weil ihre Abiturnoten die Zulassung zu den Studienfächern beinhalten. Doch muss auch die nötige Verbindlichkeit da sein. Denn natürlich ist es frustrierend, wenn wir in Bremen so optimistisch sind, alle Aufgaben aus dem Pool zu nehmen, und die anderen Länder es nicht tun. Dann muss ich die Chancengerechtigkeit für die Bremer Schülerinnen und Schüler wiederherstellen. Das ist bei VERA nicht anders.

 

VERA 3 steht für die bundesweiten zentralen Vergleichsarbeiten für Drittklässler. Vergangenes Jahr haben Sie die Teilnahme der Bremer Schüler in beiden VERA-Fächern Deutsch und Mathematik ausgesetzt. Auch da lag der Verdacht nahe: Sie fürchteten ein mieses Abschneiden.

 

Und auch da stimmte das nicht. Wir haben bei VERA hart darum gerungen, dass zu dem politischen Willen, mehr bundesweite Vergleichbarkeit und Standardisierung zu erreichen, auch die fachliche Umsetzung gehört. Dass die Prüfungsbedingungen in allen Ländern dieselben sind. Dass die Schulen und Schüler ausreichend darauf vorbereitet werden. Wenn wir eine bildungspolitische Verabredung zwischen den Ländern schließen, dann muss sie auch tragen. 

 

"Natürlich wissen wir, dass wir
bei den Schülerleistungen in 
Bremen
ein Problem haben.
"

 

Was heißt das praktisch? Dass sie beim Abitur solange nicht mehr ausschließlich Aufgaben aus dem gemeinsamen Pool nehmen, wie die anderen es auch nicht tun?

 

Wir befinden uns im Augenblick in einer Übergangsphase. Es ist noch gar nicht lange her, da hatten die meisten Länder nicht einmal ein Landeszentralabitur. Seitdem haben wir uns auf den Weg gemacht zu mehr Vereinheitlichung unserer Schulsysteme, und das ist ein langwieriger und politisch steiniger Weg. Ich glaube, wir brauchen eine Klärung, ein Commitment im Rahmen der Kultusministerkonferenz, und diese Klärung führen wir gerade herbei.

 

Sie sprechen von den Verhandlungen um einen Bildungsstaatsvertrag, der im Herbst von der KMK beschlossen werden soll. 

 

Wir müssen die Basis einer wirklich verbindlichen Verabredung schaffen. Wenn wir diese erreicht haben und gleiche Regeln für alle gelten, dann bin ich bereit, zur Not auch durchs Tal der Tränen zu gehen, das sage ich ganz offen, denn natürlich wissen wir, dass wir bei den Schülerleistungen in Bremen ein Problem haben. Eine klare und eindeutige Rückmeldung kann und wird uns sogar helfen – aber sie muss transparent zustandekommen.

 

Sie tun so, als gebe es diese Spielregeln noch gar nicht. Dabei haben sich Kultusminister längst verpflichtet, künftig dasselbe Mindestmaß an Aufgaben aus dem Pool zu ziehen, die Aufgaben nicht mehr anzupassen und auch dieselbe Bearbeitungszeit zu geben. 

 

Zum Teil sind das erst Absichtserklärungen. Aber ich will auch nicht, dass hier jetzt ein falscher Eindruck entsteht: An vielen Stellen ziehen wir Kultusministerinnen und -minister tatsächlich längst an einem Strang. Nehmen Sie unsere Entscheidung, dass wir trotz Corona-Pandemie an den Abiturprüfungen festgehalten haben. Das war keine einfache Entscheidung, aber wir haben sie gemeinsam getroffen und auch gegenüber den Ministerpräsidenten gemeinsam vertreten. Wenn es uns jetzt gelingt, diese Gemeinsamkeit auch beim Bildungsstaatsvertrag und Bildungsrat in die Formulierung gemeinsamer politischer Ziele fließen zu lassen und diese Ziele schriftlich zu fixieren, dann ist das eine super Grundlage – vor allem, ich sage es nochmal, wenn man bedenkt, wo wir herkommen: aus einer Zeit, in der jede Schule ihr eigenes Abi schrieb. 

 

"Erstmal muss die Verabredung 

fachlich kleingekocht werden 

und lebenspraktisch funktionieren."

 

Und wenn die gemeinsamen Ziele und Spielregeln feststehen, dann ist das bundesweit vergleichbare Abi endlich da, und Sie ziehen wieder ohne Murren alle Aufgaben aus dem Pool?

 

Das wäre schön, aber erstmal müssen wir die unterschiedlichen Ausgangslagen in den Ländern weiter angleichen. In Bremen werden im Deutschunterricht andere Werke gelesen als etwa in Bayern, und in Mathe benutzen die Schulen je nach Standort zum Beispiel andere Taschenrechner. Wenn künftig gelten soll, dass die Pool-Aufgaben nicht mehr an die landesspezifischen Besonderheiten angepasst werden dürfen, dann müssen die Curricula sich vorher aufeinander zubewegen. Wenn bundesweit nur noch dieselben Hilfsmittel zugelassen sind, müssen wir an den Bremer Schulen womöglich ein neues Taschenrechnermodell zum Standard machen – und zwar nicht erst in der Oberstufe, sondern aufwachsend in den unteren Klassen.   

 

Jetzt bin ich verwundert. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2017 die mangelnde Aussagekraft des Abiturs kritisiert und zeitnah grundlegende Änderungen angemahnt, und genau die hatten die Kultusminister dann auch notgedrungen versprochen: Bis 2021, so die Ankündigung, sollen die Abiturnoten bundesweit "annähernd" vergleichbar sein. Was Sie gerade beschrieben haben, klingt eher nach 2030. 

 

Ich will damit nur sagen, dass die Umsetzung einer politischen Verabredung in der bildungspolitischen Praxis alles Andere als banal ist. Sie darf nicht dazu führen, dass die aktuelle Schülergeneration Nachteile erleidet. Erstmal muss die Verabredung fachlich kleingekocht werden und lebenspraktisch funktionieren. Ich bin jemand, die solche Herausforderungen sportlich und in Angriff nimmt, anstatt sie bis zum Sankt Nimmerleinstag aufzuschieben. Als kleines Bundesland, das auf die bundesweite Mobilität seiner Abiturienten angewiesen ist, haben wir noch mehr Gründe als andere, die Vereinheitlichung des Abiturs anzustreben.

 

Die Kluft zwischen den KMK-Verheißungen von mehr bundesweiter Vergleichbarkeit auf der einen Seite und dem Stand ihrer praktischen Umsetzung vor Ort ist gewaltig – was die Vorteile des Bildungsföderalismus für Außenstehende oft schwer erklärbar macht. Vielleicht auch deshalb setzen die Kultusminister so große Hoffnungen in den bereits erwähnten neuen Bildungsstaatsvertrag. Wird das wirklich das verheißungsvolle Dokument? Wird da etwas drinstehen, auf das Sie als Kultusministerinnen und Kultusminister stolz verweisen können?

 

Die Erfahrung, dass wir in der Kultusministerkonferenz der Corona-Krise in einem so engen und konstruktiven Miteinander begegnet sind – dieser Erfahrung der vergangenen Monate gibt uns Schwung. Wir haben uns an gemeinsam verabredeten Grundlinien festgehalten, wir haben verhindert, dass uns Entscheidungen aus der Hand genommen wurden. Darauf können wir jetzt aufbauen, und genau das macht mich optimistisch.

 

"Die Schließung von Schulen und Kitas
war zu dem Zeitpunkt alternativlos."

 

Sie sagen, Ihnen seien keine Entscheidungen aus der Hand genommen worden. Als plötzlich ein Ministerpräsident nach dem anderen Mitte März beschloss, Kitas und Schulen zu schließen, sah es aber so aus, als hätten allein Virologen die Entscheidung diktiert und Fragen von Bildungsgerechtigkeit und der sozialen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen spielten plötzlich gar keine Rolle mehr.  

 

Das habe ich anders erlebt hier in Bremen. Wir haben immer abgewogen. Unser Problem war eher, dass wir als Bildungsminister plötzlich mit Gesundheitsfragen konfrontiert waren und mit Experten, die eine ganz andere Sprache sprechen als wir. Doch als ich für Bremen am 13. März zu dem Schluss gekommen bin, die Kitas und Schulen erst einmal zu schließen, war das zu dem Zeitpunkt tatsächlich alternativlos.

 

Warum?

 

Weil unser Gesundheitswesen nicht vorbereitet war auf die Pandemie. In Bremen mussten wir zunächst die medizinische Versorgung und vor allem die Intensivbetten aufbauen. In dem Moment, als wir wussten, die Kapazitäten sind jetzt ausreichend vorhanden, und gleichzeitig das Infektionsgeschehen nachließ, haben wir sehr schnell dafür Sorge getragen, die Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule zu holen und bald vor allen den leistungsschwächeren Kindern und Jugendlichen ein Unterrichtsangebot zu machen. Deshalb habe ich mich auch ganz dediziert in der KMK dafür eingesetzt, von der schrittweisen Öffnung der Schulen nach Klassenstufen wegzukommen und von den Bedürfnissen der Schüler auszugehen.  

 

Aber auch, als es um die Öffnung der Schulen ging, hatten die Kultusminister einen schweren Stand. 

 

Als Bildungssenatorin ist es mir knallhart gesagt lieber, ein Kino mehr bleibt geschlossen als eine Schule. Aber natürlich muss nicht ich überzeugt werden, sondern wir Kultusminister brauchen gute Argumente für die politische Debatte. Da bin ich auf die Bildungsforschung angewiesen. Sehr hilfreich war zum Beispiel die Studie des Bildungsökonomen Ludger Wößmann, die die volkswirtschaftlichen Schäden fehlender Bildungszeit vor Augen geführt hat.  

 

Schließen Sie aus, dass im Fall einer zweiten Welle wieder die Schulen und Kitas als erstes dichtgemacht werden?

 

Für Bremen kann ich sagen, dass wir mit allen Mitteln versuchen werden, einen weiteren Lockdown von Schulen und Kitas zu verhindern. Wir haben jetzt einen ganz anderen Kenntnisstand über das Virus und seine Ausbreitung. Wir können die Zeichen besser erkennen, wenn das Infektionsgeschehen zunimmt, wir haben die nötigen Strukturen aufgebaut, um Infektionsketten zurückverfolgen zu können. Und wir können lokale Ausbrüche über lokale Maßnahmen eindämmen. Genau das erwarte ich deshalb auch von uns als Gesellschaft insgesamt: dass wir immer erst gucken, welche anderen Strategien wir verfolgen können, und erst im allerschlimmsten Fall Einrichtungen schließen. Aber natürlich ist es möglich und wir müssen davon ausgehen, dass immer wieder einzelne Kitas, Lerngruppen oder Schulen beim Auftreten von Corona-Fällen zeitweise in Quarantäne müssen. 

 

"Kitas und Schulen sind nicht die Orte, die das Infektionsgeschehen vorantreiben. Das sind andere Zusammenkünfte, vor allem von Erwachsenen." 

 

Ist auch unser Kenntnisstand über die Rolle von Kindern in der Pandemie heute ein anderer?

 

Wir haben jetzt seit fast vier Wochen an den Grundschulen wieder vollen Betrieb mit allen Kindern und an jedem Tag, und die Lage ist so ruhig, dass man wirklich sagen kann: Zumindest sind Kitas und Schulen nicht die Orte, die das Infektionsgeschehen vorantreiben. Das sind andere Öffentlichkeiten und Zusammenkünfte, vor allem von Erwachsenen. 

 

Einige Lehrerverbände prophezeien eine Klagewelle, sollten die Schulen in Bremen und in anderen Bundesländern auch nach den Sommerferien im Vollbetrieb laufen und dafür zum Beispiel die Abstandsregeln aufgehoben werden. 

 

Normalerweise haben wir in Bremen einen sehr schönen und produktiven Austausch mit den Lehrerverbänden. Es ist nachvollziehbar, dass sie in dieser außergewöhnlichen Situation den Gesundheitsschutz der Beschäftigten vertreten. Als Bildungspolitikerin finde ich es allerdings schon ein wenig bedauerlich, dass die Verbände sich so stark auf diesen einen Aspekt fokussiert haben. Besonders die GEW ist sonst sehr aktiv und lautstark dabei, ihren allgemeinpolitischen Anspruch in der Bildungspolitik vorzutragen, den hat sie jetzt doch sehr deutlich nach hinten geschoben. Ich hätte mir gewünscht, dass auch eine Gewerkschaft stärker das tut, was wir als Ministerium auch hinbekommen müssen: den Ausgleich herstellen zwischen den Interessen der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und natürlich auch der Lehrkräfte. Gut, die GEW hat leider eine andere Entscheidung getroffen.

 

Was folgt daraus?

 

Die Lehrerverbände bestreiten ja nicht die Grundannahme, dass Bildung essentiell wichtig für die Kinder ist. Sie wollen aber einen bestmöglichen Schutz für die Beschäftigten, und da kann ich nur sagen: Wir haben sehr viel für ihre Sicherheit getan, die Zahlen sind eindeutig. In den vergangenen vier Wochen hat sich keine einzige Lehrkraft in einer Bremer Schule angesteckt. Und was die Sorgen einiger Eltern angeht: "Ihr schickt Oma in den Tod, weil das Kind wieder in die Schule muss", habe ich neulich in einem Brief gelesen. Wenn die Sorge vor einer Infektion so groß ist, dann würde ich doch als erstes mal die Treffen mit der Oma unterlassen. Damit das Kind Unterricht bekommt, halte ich das Ausweichen etwa auf einen Videochat mit der Oma für eine Weile für durchaus vertretbar.  

 

Dass die Kultusminister sich nach einigem Hin und Her so eindeutig auf die Wiederaufnahme des Regelbetriebs nach den Sommerferien festgelegt haben, ist ja erfreulich. Aber man bekommt den Eindruck, dass einige darüber die Vorbereitung des digitalen Alternativszenarios vernachlässigen. 

 

Was Bremen angeht, kann ich Sie beruhigen. Uns hat schon beim letzten Shutdown geholfen, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Ländern bereits eine einheitliche Lernplattform hatten. Jetzt schaffen wir für alle Lehrkräfte und alle Schülerinnen und Schüler kurzfristig ein einheitliches Endgerät an. Unser Ziel ist, dass schon zu Beginn des neuen Schuljahres alle ein Tablet haben. Außerdem haben wir Landeslizenzen gekauft für Apps, die sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können. 

 

Viel Technik. Und was ist mit der Pädagogik?

 

Wir treffen gerade Vorkehrungen für den Fall, dass im Herbst wirklich eine zweite Welle kommen sollte und wir den Unterricht nur noch zur Hälfte in Präsenz abhalten können. Dazu gehören zunächst einmal Hinweise, welchen Stoff die Schulen prioritär zu Beginn des Schuljahres durchnehmen sollten, weil es sich um Kernkompetenzen handelt oder weil sich manche Themen im Präsenzunterricht einfach besser vermitteln lassen. In der Mathematik ist das die Stochastik zum Beispiel, von der wir wissen, dass sie vielen Schülerinnen und Schülern anfangs schwerfällt. Im Vergleich dazu lassen sich Längen oder Raummaße, falls nötig, leichter auch im digitalen Unterricht vertiefen. 

 

"Keine Lehrkraft kann jetzt
mehr sagen: Ich kann das nicht leisten."

 

Dessen Qualität dann erneut stark von der einzelnen Lehrkraft abhängt?

 

Nein, denn es wird auch deutliche Handlungsempfehlungen geben, wie der Digitalunterricht abzulaufen hat, welchen zeitlichen Umfang er hat und wie er ausgestaltet wird. Das sind Standards, die auch dann sofort greifen, wann immer eine Schule oder Lerngruppe in Quarantäne muss. Keine Schule und keine Lehrkraft kann jetzt mehr sagen: Ich kann das nicht leisten, ich habe keine Geräte, keinen Zugang oder keine Handlungsanleitungen. Wir können die Vorgaben jetzt so verbindlich ausgestalten, weil wir die Instrumente dafür haben, technisch und didaktisch. Wir müssen aber auch ganz offen zugeben, dass wir diese Instrumente am 13. März nicht hatten. 

 

Und wenn doch Lehrer sagen, sie können oder wollen nicht? 

 

Das wäre schon richtig harte Arbeitsverweigerung, wenn eine explizite Handlungsanweisung nicht befolgt wird. Zunächst müsste das die zuständige Schulleitung mit der betroffenen Lehrkraft klären, und wenn es zu weitergehenden Konflikten käme, die Schulaufsicht hinzuziehen. Die Lage ist eindeutig. Wir haben in den vergangenen Wochen mit den zuständigen Personalräten festgelegt, dass die landesweite Lernplattform zu nutzen ist, aber auch nur diese Plattform. Es ist unsere Erwartungshaltung, dass im Falle von Schulschließungen über diese Plattform der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern gehalten wird.

 

Sie geben so viel Landesgeld für Tablets aus, dabei existiert sogar ein 500-Millionen-Bundesprogramm, um ärmere Schüler mit Leihlaptops auszustatten. Doch da kriegt Bremen dem Länder-Proporz folgend pro Einwohner nicht mehr als Bayern – obwohl in der Hansestadt das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen viermal so hoch ist. Wieso haben Sie einem solchen Programm überhaupt zugestimmt?

 

Mitten rein in die Wunde! Es ist ja noch schlimmer. Als die Idee mit den 500 Millionen aus dem GroKo-Koalitionsausschuss kam, stand noch die Voraussetzung der sozialen Bedürftigkeit drin. Davon ist in der neulich geschlossenen Bund-Länder-Vereinbarung nicht viel übriggeblieben. 

 

Das zeigt doch, dass unser Bildungsföderalismus ein ernstes Problem hat, wenn Bayern jetzt pro armen Schüler viermal so viel in Leihlaptops investieren kann wie Bremen oder Berlin.

 

In der Tat: Wir investieren jetzt zehnmal so viel Landesgeld wie Bundesgeld in die Endgeräte. Bayern würde an der Stelle aber natürlich darauf hinweisen, dass sie schon über den Länderfinanzausgleich ihren Beitrag zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland leisten. Und doch: Wenn dieses Ziel eine so zentrale Rolle in der politischen Identität der Bundesrepublik spielt, dann ist in der Tat bitter, dass wir uns oft so schwer darin tun, es zu erreichen. Und es wird noch schwieriger. Die Corona-Krise trifft die exportorientierte Industrie in Bremen in besonderem Maße. Ich habe bei dem Endgeräte-Programm trotzdem keinen Widerspruch eingelegt, weil das Geld zumindest jetzt sehr schnell in die Länder fließt. Wir können es brauchen.


Kultusminister präsentieren Hygiene-Rahmenplan fürs neue Schuljahr 

Das Ziel sei, das Recht auf Bildung mit dem Infektionsschutz "in Einklang zu bringen". Die Lehrerverbände legen eigenen 10-Punkte-Plan vor.

Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat länderübergreifende Hygienemaßnahmen für das kommende Schuljahr beschlossen. Der aktualisierte Maßnahmenkatalog diene den Ländern "als Orientierung bei der Erstellung und Überarbeitung von schulischen Infektionsschutz- und Hygieneplänen", teilte die KMK mit. Auf Detailregeln sei "vor dem Hintergrund spezifischer Gegebenheiten vor Ort" bewusst verzichtet worden. "Es ist unsere Aufgabe, das Recht auf Bildung mit den notwendigen Maßnahmen zum Schutz vor einer Verbreitung des Coronavirus in Einklang zu bringen", sagte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig. "Das machen wir mit dem gemeinsamen Hygieneplan."

 

Unter der Überschrift "Wiederaufnahme des Regelbetriebs" macht der KMK-Plan neben Vorgaben zur persönlichen Hygiene, zur Raumhygiene und zur Hygiene im Sanitärbereich auch Angaben zum Umgang mit dem Mindestabstand, zum Personaleinsatz, zum Unterricht für Schüler mit Risiko-Grunderkrankungen, zur Nachverfolgung von Infektionsketten, zu den Verantwortlichkeiten der Schulleitung und zur Notwendigkeit einer zielgerichteten Teststrategie. 

 

Im Unterrichtsbetrieb könne auf die Einhaltung des Mindeststandards zwischen den Schülern des Klassenverbands, den unterrichtenden Lehrkräften und dem Betreuungspersonal und weiterem Schulpersonal in allen Klassenstufen verzichtet werden, heißt es in dem KMK-Beschluss. "Wo immer dennoch möglich, insbesondere bei Besprechungen, Konferenzen und schulbezogenen Veranstaltungen" sollte jedoch ein ausreichender Mindestabstand eingehalten werden. Feste Gruppen sollten definiert werden, um Infektionsketten wirksam nachvollziehen zu können. 

 

Prinzipiell bestehe für schulisches Personal in jeder Situation die Möglichkeit, sich durch Einhaltung der im Plan beschriebenen Hygienemaßnahmen und des Mindestabstands zu den Schülern und zu anderen Personen zu schützen, betonen die Kultusminister. Für die Zuordnung zu einer Risikogruppe und damit für eine Befreiung von der Pflicht zum Präsenzunterricht sei eine ärztliche Bewertung der Risikofaktoren erforderlich – sprich ein ärztliches Attest. 

 

Auch Schüler mit Grunderkrankungen unterlägen der Schulpflicht und sollten nach Möglichkeit am Präsenzunterricht teilnehmen. Nur wenn tatsächlich ein höheres gesundheitliches Risiko bestehe, würden sie im Distanzunterricht beschult. 

 

KMK-Präsidentin Hubig betonte, ein weitgehender Normalbetrieb mit Unterricht in Präsenzform könne nur dann funktionieren, wenn in den Schulen die geltenden Hygienemaßnahmen eingehalten würden. Die Kultusminister würden das

Infektionsgeschehen in Absprache mit den Gesundheitsbehörden weiter "lokal, regional und landesweit sehr genau" beobachten.

 

Der Deutsche Lehrerverband und seine Mitgliedsverbände legten unterdessen einen eigenen 10-Punkte-Plan "für Unterricht mit (und nach) Corona" vor. Es sei mehr nötig als "nur die heute von der KMK vorgestellten Hygienestandards für das neue Schuljahr", bekräftigten die Verbände: "deutlich umfassendere Innovationen in grundlegenden pädagogischen, technischen, gesundheitsrelevanten und schulorganisatorischen Rahmenbedingungen". 

 

Es sei zu hoffen, heißt es in ihrer Stellungnahme, dass die Quote der Infektionen gering genug bleibe, um Präsenzunterricht mit möglichst geringem Risiko von Infektionsclustern abzuhalten. "Nach wie vor darf die bestehende Gefahr eines wieder zunehmenden Infektionsgeschehens allerdings nicht unterschätzt werden", warnen der Lehrerverband und seine Mitgliederverbände Deutscher Philologenverband, Verband Deutscher Realschullehrer, Bundesverband der Lehrkräfte für Berufsbildung und Katholische Erziehergemeinschaft. 

 

Ziel sei der "digital unterstützte Präsenzunterricht als Regelfall" auf der Basis eines neu zu erarbeitenden didaktischen Konzepts. "Moderner Unterricht verlangt den Einsatz von digitalen Medien. Dazu müssen sämtliche Schulen in den Sommerferien 2020 so instand gesetzt werden, dass alle Lehrkräfte mit allen Schülern mit den zur Verfügung gestellten eigenen digitalen Endgeräten rechtssicher und datenschutzkonform über die digitale Plattform der Schule kommunizieren und lehrplanbezogen agieren können." Im Notfall, wenn die Infektionslage es erfordere, könne der digital unterstützte Präsenzunterricht als Plan B phasenweise durch Fernunterricht ersetzt werden – "mit Teilnahmepflicht, verbindlich zu erreichenden Kompetenzzielen und klaren Vorgaben für Leistungserhebungen und -bewertungen". 

 

Unter den weiteren Punkten des Plans befindet sich unter anderem die Forderung nach wöchentlichen freiwilligen Corona-Tests für Lehrer und eventuell Schüler und nach einen Visierschutz. Bildungs- und Leistungsstandards dürften nicht abgesenkt werden, jede Schule müsse ein zusätzliches Budget für nötige Fördermaßnahmen vor Ort erhalten und darüber selbst entscheiden können. Digitale Sprechstunden mit den Eltern und Schülern gemeinsam sollten wöchentlich zweistündig stattfinden, im Gegenzug dafür solle das Unterrichtsdeputat der Lehrkräfte um mindestens eine Stunde abgesenkt werden. Das Referendariat sei in allen Bundesländern auf die ursprüngliche Dauer von zwei Ausbildungsjahren anzuheben.



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Kommentare: 2
  • #1

    Yue Han (Donnerstag, 16 Juli 2020 10:39)

    Als erstes Danke für das interessante Interview und die Ausführungen, denen ich in vielen Teile zustimme. Zwei Anregungen/Meinungen:

    1) "Kitas und Schulen sind nicht die Orte, die das Infektionsgeschehen vorantreiben. Das sind andere Zusammenkünfte, vor allem von Erwachsenen."
    Sollte es nicht richtiger Weise heißen: "Kitas und Schulen im derzeit eingeschränkten Betrieb und unter Beachtung der aktuellen Abstands- und Hygienevorschriften sowie aufgrund der Grundschulerfahrungen sind nicht die Orte, die das Infektionsgeschehen vorantreiben. (...)."?

    Das ist sehr gut so, für die Schüler*innen an erster Stelle. Ob dieses auch so ist, wenn Abstandsregeln nach den Sommerferien in Gänze fallen und dann sicher de facto auch andere Hygieneregelungen, bleibt die Frage.
    Mir ist die Situation auch nur aus den hiesigen Medien bekannt, doch ist es beunruhigen, wie sich die Lage in Israel entwickelt hat:
    "Als Infektionsherde erwiesen sich außerdem Schulen, die zusammen mit der Wirtschaft wieder aufmachten. "Sie wurden schnell zu Clustern", sagt Cohen. Mehr als vierzig Prozent der neuen Corona-Fälle seien Kinder, die sich im Unterricht angesteckt hätten." ("In Israel rollt die zweite Welle an", 20.06.2020, 16.58 Uhr, Spiegel.de);
    "Bis Mitte Mai galten in Israel sehr strenge Ausgangsbeschränkungen, ab dann wurde mit Lockerungen und der Öffnung der Schulen begonnen - alle dürfen gleichzeitig in die Klasse, wenn auch mit Maske. In einem Jerusalemer Gymnasium wurden Dutzende Neuinfektionen registriert, in einer Schule in Jaffa am Wochenende 43." ("Israelische Behörde warnt: Zweite Welle beginnt", 21. Juni 2020, 11:31 Uhr, sz.de)

    Es wäre sicher, auch für die Rückkehr zum Regelbetrieb nach den Sommerferien von Interessen, wie und warum sich das Infektionsgeschehen in Israel so entwickelt hat und ob wir daraus Konsequenzen ziehen sollten beim Wiedereintritt in den Regelbetrieb. Dies von "großen" Maßnahmen bis zu "Kleinigkeiten". (Dabei denke ich z.B. an das tlw. rigeros durchgesetzte "Handyverbot" an vielen Schulen, das die Funktion der Corona-WarnApp faktisch ad absurdum führt. Die Bremer Senatorin hat hier eine andere, den Handyeinsatz nicht ablehnende, Meinung, was gut ist.

    2) Die Lehrer*innengewerkschaften/-verbände dazu aufzufordern, den "Ausgleich her(zu)stellen zwischen den Interessen" ist allerdings weltfremd. Die Lehrer*innenverbände sind Interessensvertretung ihrer Mitglieder, die ihren Beitrag bezahlen und selbstverständlich von ihrer Organisation die Vertretung ihrer Interessen und nicht die der SPD-Ministerin verlangen.
    Ob die Ministerin dies will oder nicht, es ist die Politik, die den Interessensausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen und Verbänden herzustellen hat. Und dies möglichst so, dass alle sich in einem Kompromiss wiederfinden bzw. auch, wenn es gut begründet ist, nicht.
    Ganz davon abgesehen, dass die (und dies ist bundesweit) faktische Überalterung der Lehrer*innenschaft und somit der Anstieg der "Risikogruppe" im Lehrkörper, auch auf die falsche Einstellungspolitik der Kultusminister*innen zurückzuführen ist. Wenn es tlw. nur die Perspektive gibt jeweils für ein Schuljahr, mit unbezahlten Ferien angestellt zu werden, verstehe ich viele Universitätsabgänger*innen sehr gut, wenn sie nicht Lehrer*innen werden wollen oder erst gar kein Lehramtsstudium bei diesen Perspektiven aufgenommen wird. Das Problem der Überalterung war lange vor Corona bereits bekannt.
    Hätten wir attraktive Einstiegsvoraussetzung für Lehramtststudierenden mit einer Perspektive, könnten die Risikogruppe unter den Lehrer*innen besser kompensiert werden.


    @JMWiarda: Vielleicht haben Sie mehr Informationen zur Situation an den Schulen in Isarael.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 16 Juli 2020 10:51)

    @Yue Han: Nein, ich habe zu den Schulen in Israel auch keine weiteren Informationen. Ich bin gespannt auf eine wissenschaftliche Untersuchung zum Zustandekommen der zweiten Welle und welche Rolle Schulen darin tatsächlich gespielt haben.

    In Bremen und sieben anderen Bundesländern sind die Abstandsregeln in den Grundschulen in den vergangenen Wochen bereits gefallen. Der Unterschied ist, dass nach den Sommerferien auch die weiterführenden Schulen dazukommen, und das ist in der Tat ein sehr weitreichender Schritt, bei dem ich – im Gegensatz zu Kitas und Grundschulen – skeptisch bin. Umgekehrt finde ich eben schon, dass wir uns, solange das Infektionsgeschehen insgesamt niedrig ist, auch bei den Älteren etwas Mut gestatten können und sollten – begleitet mit engmaschigen Tests etc.

    Vielen Dank jedenfalls für Ihre Ausführungen!