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Blick zurück (18)

"Das ist Notwehr!"

Die Hochschulen entdecken den lokalen Numerus Clausus als Waffe gegen die Sparpolitik – erschienen in der ZEIT am 25. Januar 2007.

NORMALERWEISE IST Margret Wintermantel eine vorsichtige Rednerin. Wenn die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz eine politisch heikle Frage beantworten soll, zögert sie erst eine Weile und formt ihre Sätze dann mit Bedacht.

 

Nicht so, wenn man sie auf die seit drei Jahren deutschlandweit fallenden Studienanfängerzahlen anspricht. »Das ist Notwehr«, sagt sie prompt. »Wenn der Staat uns nicht genug Geld zur Verfügung stellt, müssen die Hochschulen sich immer mehr abschotten.«

 

Deutschlands Hochschulrektoren haben genug von der Diplomatie vergangener Jahre. Lange haben sie allenfalls halblaut aufbegehrt, wenn die Politik von ihnen verlangte, immer mehr Studenten aufzunehmen, ohne dafür auch entsprechend mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Jetzt aber greifen die Hochschulen zu einer Waffe, die es schon lange gibt, deren wahren Wert die Rektoren doch erst seit ein paar Semestern begriffen haben: dem lokalen Numerus clausus (NC). >>>


Seit fast 25 Jahren beschäftigte ich mich mit Hochschulen, Bildung und Wissenschaft. Viel ist passiert in dieser Zeit, vieles davon durfte ich als Journalist begleiten. Der Blick zurück zeigt, wie aktuell einige meiner Themen von einst geblieben sind – obwohl sich fast alles verändert hat. Machmal allerdings auch, weil sich fast gar nichts verändert hat. Der 18. Teil einer Serie. Einen Überblick über die gesamte Serie "Blick zurück" finden Sie hier 


>>> Allein in Nordrhein-Westfalen stieg der Anteil der von den Hochschulen in Eigenregie verhängten Zulassungsbeschränkungen im Vergleich zum Vorjahr von 38 auf 43 Prozent aller Studiengänge – mit der Folge, dass die Universitäten des größten Bundeslandes am Ende satte zehn Prozent weniger Studienanfänger als 2005 vermeldeten. Der besondere Reiz am lokalen NC: Die Hochschulen können ihre Betreuungsrelationen verbessern und setzen gleichzeitig die Länderregierungen unter Zugzwang. Wenn immer mehr Studierwillige bei der Bewerbung leer ausgehen, steigt der Frust – und der Druck auf die Politik wächst, mehr Geld für Studienplätze zur Verfügung zu stellen.

 

Denn anders als bei der Veröffentlichung der Immatrikulationszahlen zunächst von vielen angenommen, lässt sich deren Rückgang nicht vorrangig mit der Einführung von Studiengebühren erklären. Tatsächlich war die Studierneigung auch im vergangenen Wintersemester ungebrochen, die Bewerberströme wuchsen vielerorts sogar noch an. Dass dennoch deutschlandweit erneut 3,5 Prozent weniger Studienanfänger als im Vorjahr gezählt wurden, liegt an der neuen Strategie der Hochschulen, die auch mit der Umstellung aller Studienfächer auf die gestuften Studiengänge Bachelor und Master zusammenhängt. 

 

Zwar müssen die Rektoren sich jeden NC vom zuständigen Wissenschaftsministerium genehmigen lassen, doch das hat häufig gar keine andere Wahl, als die Anträge abzunicken: Die zum Teil katastrophalen Zustände in deutschen Hörsälen mögen bei den traditionellen Studiengängen noch toleriert worden sein, in den neuen Studiengängen mit ihrem höheren Verschulungsgrad geht das nicht mehr. Inzwischen können die Rektoren sogar mit einem Urteil des Berliner Oberverwaltungsgerichts wedeln. Das entschied 2004, dass die Hochschulen für Bachelor und Master einen besseren Betreuungsschlüssel einfordern können.

 

In einzelnen Fächern sank die Zahl
der Studienanfänger um die Hälfte

 

Beispiel Universität Bielefeld. Acht neue lokale NCs haben die Zahl der Studienanfänger nach vorläufigen Ergebnissen um rund 20 Prozent zurückgehen lassen, von 2714 im Vorjahr auf nur noch 2150. Besonders starke Rückgänge verzeichnen die BA-Studiengänge Geschichte (minus 35 Prozent), Philosophie (minus 50 Prozent) und Wirtschaftswissenschaften als Nebenfach (minus 64 Prozent). »Wir brauchen einfach kleinere Lerngruppen, wenn wir den an uns gestellten Anspruch einer besseren Lehre erfüllen wollen«, sagt der Rektor Dieter Timmermann. »Den Fehler von damals werden wir nicht wiederholen.«

 

Der Fehler von damals, das war die lustlose Zustimmung der Hochschulen zum umstrittenen Öffnungsbeschluss von 1977, als die Ministerpräsidenten der Länder in Erwartung eines angeblich vorübergehenden Studentenbergs die Türen der Hochschulen weit öffnen ließen und jedem Abiturienten einen Studienplatz garantierten – ohne dauerhaft die Budgets aufzustocken. So kam die deutsche Massenuniversität zu ihrem schlechten Ruf. Jetzt ist ein neuer Studentenberg in Sicht; erst kürzlich haben sich die Wissenschaftsminister von Bund und Ländern daher auf den Hochschulpakt 2010 geeinigt, mit dem sie 90000 zusätzliche Studienplätze finanzieren wollen – auf Dauer. Allerdings setzen alle Berechnungen für neue Studienplätze am Istzustand an, und der ist geprägt von einer Budgetnot vieler Hochschulen, die in den Sparrunden vergangener Jahre noch größer geworden ist. 

 

In Erwartung der Finanzspritze aus dem Hochschulpakt nutzen die Rektoren daher vielerorts die Chance, ihre Aufnahmekapazitäten vorab auf ein verträgliches Maß herunterzufahren. Zuallererst müssten die Hochschulen ihrer Verantwortung für eine qualitativ hochwertige Ausbildung derjenigen Studenten gerecht werden, die sie bereits aufgenommen hätten, sagt Elmar Weiler, Rektor der Ruhr-Universität Bochum. »Wenn wir Rektoren jetzt diese Linie fahren und konsequent lokale NCs beantragen, sobald Studiengänge überbucht werden, ist es klar, dass die Politiker irgendwann auch mehr Geld zur Verfügung stellen müssen.«

 

Die Wissenschaftsminister haben selbst höhere Abschlussquoten, kürzere Studienzeiten und mehr Qualität gefordert. Jetzt müssen sie mit den teuren Konsequenzen fertig werden. Gut zu beobachten war dieser Zwiespalt an der Reaktion von NRW-Innovationsminister Andreas Pinkwart (FDP), als er die niedrigen Studienanfängerzahlen kommentieren sollte. Dass die Hochschulen nicht wie in den Vorjahren »beliebte Studienfächer erheblich überbuchten«, sei zu begrüßen, sagte Pinkwart – schließlich werde dadurch ihr gesteigertes Streben nach Qualität deutlich. Dass seine Beamten zur gleichen Zeit mit den Hochschulen neue Zielvereinbarungen aushandelten, die die Zahl der Studienanfängerplätze auf dem hohen Niveau der vergangenen Jahre einfrieren sollen, erwähnte der Minister nicht.

 

Pinkwarts Problem ist, dass er im Rahmen des Hochschulpakts zugesagt hat, über den Stand von 2005 hinaus 26000 neue Studienplätze zu schaffen. Nach dem von den NRW-Universitäten durchgesetzten zehnprozentigen Rückgang bei den Erstsemestern in diesem Jahr dürfte diese Zahl jedoch bei Weitem nicht mehr reichen, mindestens 30000 erscheinen nach Expertenschätzungen realistischer. Folglich ließ er etwa den Wunsch der Münsteraner Rektorin Ursula Nelles, auf unter 5000 Studienanfängerplätze zu gehen, ablehnen und die Zahl auf die im Jahr 2004 erreichten 5390 festschreiben – trotz im neuen sogenannten Hochschulfreiheitsgesetz beschworener Eigenständigkeit der NRW-Hochschulen.

 

Von 177 Studienfächern sind in Halle
nur noch 18 frei zugänglich

 

Das Pokerspiel um Studienplatzkapazitäten und lokale Zulassungsbeschränkungen hat auch außerhalb Nordrhein-Westfalens an Dramatik zugenommen. So hat die Uni Halle-Wittenberg innerhalb eines Jahres 39 neue NCs eingeführt und damit ihre Erstsemesterzahlen um fast 30 Prozent gedrückt, auf nur noch 2300. Inzwischen sind in Halle von insgesamt 177 Studienfächern gerade noch 18 frei zugänglich. Auch das ist ein bundesweiter Trend: Sobald eine Hochschule mit der Einführung lokaler NCs begonnen hat, muss sie mit der Zeit immer mehr Studiengänge mit Beschränkungen belegen, um das Entstehen sogenannter Parkfächer zu vermeiden. Andernfalls schreiben sich dort all jene Studenten ein, die ihren Wunsch-Studienplatz nicht bekommen haben – ohne die Parkfächer jedoch tatsächlich auch zu studieren. Die Hochschule verhindert dies mit der Einführung neuer NCs, am Ende sind dann praktisch alle Fächer zulassungsbeschränkt.

 

Unter den Abiturienten entsteht derweil eine Zweiklassengesellschaft: Während die einen von den besseren Bedingungen profitieren, bleiben jene frustriert zurück, die an den NCs scheitern. Gleichzeitig entfernt sich Deutschland weiter vom erklärten Ziel, mindestens 40 Prozent eines Jahrgangs an die Hochschulen zu führen. Zuletzt lag die Quote bei 35,5 Prozent, nach 38,9 Prozent im Jahr 2003.


...und heute?

 

Die Quote der zulassungsbeschränkten Studiengänge sei erneut leicht gesunken, teilte das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) Anfang Juli mit. Nur rund 40 Prozent hätten einen NC. Am häufigsten seien Studiengänge in Berlin, Hamburg und dem Saarland zulassungsbeschränkt, ergab der jährliche NC-Check des CHE.

 

Bei den größeren Hochschulstädten hätten Leipzig und Saarbrücken die höchste NC-Quote. In Berlin, Hamburg und im Saarland seien aktuell zwei von drei Studiengängen zulassungsbeschränkt. Die höchste Quote im Ländervergleich weise Berlin mit einem Anteil von 66,1 Prozent auf, gefolgt von Hamburg und dem Saarland mit 65,4 bzw. 64,2 Prozent. In Thüringen träfen Studieninteressierte auf die geringsten NC-Hürden: Hier finde mit einem Anteil von 19,4 Prozent lediglich bei jedem fünften Studiengang eine Auswahl unter den Bewerbern statt.

 

"Viele Studieninteressierte haben in diesem Jahr unter den außergewöhnlichen Abiturbedingungen angesichts von Corona gelitten", sagte CHE-Geschäftsführer Frank Ziegele. "Dass auch in diesem Jahr für knapp 60 Prozent aller Studiengänge die Abiturnote keine Rolle spielt, ist da sicher eine gute und beruhigende Nachricht." 

 

Positiv sei auch, berichtet das CHE weiter, dass gerade in den bei Erstsemestern beliebten Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen die Quote zulassungsbeschränkter Studienangebote im Vergleich zum Vorjahr gesunken sei. Auffallend seien die unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern: Während Bremen und Niedersachsen ihre NC-Quoten um 6,2 bzw. 7,5 Prozentpunkte hätten senken können, sei der der Anteil zulassungsbeschränkter Studiengänge im Saarland von rund der Hälfte (56,8 Prozent) auf rund zwei Drittel (65,4 Prozent) angestiegen.

 

Studiengänge an Universitäten waren wie schon in den Vorjahren zu einem geringeren Anteil (37,2 Prozent) mit einem NC belegt als die an Fachhochschulen (45 Prozent). Bachelorstudiengänge wiesen mit 42 Prozent NC-Quote einen etwas höheren Wert auf als im Masterbereich (38,8 Prozent).


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