· 

"Das ist niederschmetternd"

Nicht mal einen Tag die Woche Online-Unterricht, kaum direkten Kontakt zu den Lehrern, halbierte Lernzeiten, dafür umso mehr Handy- und Computernutzung: So haben laut einer ifo-Umfrage die meisten Kinder und Jugendlichen die Schulschließungen erlebt. Studienleiter Ludger Wößmann warnt: Diese bildungspolitische Misere darf sich nicht wiederholen.

Ludger Wößmann, 47, leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Bildungsökonomie an der Universität München. Foto: privat.

Herr Wößmann, Sie haben über 1000 Eltern von Schulkindern zu deren Erfahrungen während der Schulschließungen befragt. Die Ergebnisse sind nicht besonders überraschend, dafür aber besorgniserregend. Während dem, was die Kultusminister als Fern- oder Hybridunterricht bezeichneten, hat sich die tägliche Lernzeit der Kinder und Jugendlichen von 7,4 auf 3,6 Stunden halbiert, und sie haben deutlich mehr Zeit vorm Fernseher, am Computer oder mit dem Handy verbracht. 

 

Davor, dass die vollständigen oder teilweisen Schulschließungen zu drastischen Lerneinbußen führen, haben Pädagogen und Bildungsforscher von Anfang an gewarnt. Kleinere und regionale Umfragen unter Eltern und Schülern hatten das in den vergangenen Monaten bereits bestätigt. Unsere Ergebnisse sind deshalb wichtig, weil sie mit einer Reihe von Mythen aufräumen.

 

Welche Mythen meinen Sie?

 

Zum Beispiel die Behauptung vieler Kultuspolitiker, bei allen Problemen sei das mit dem Fernunterricht insgesamt doch überwiegend gut gelaufen. Das ist es eben nicht. Die Mehrheit der Schüler hatte seltener als einmal die Woche Online-Unterricht, nur sechs Prozent täglich. Gerade mal vier Prozent haben täglich individuellen Kontakt mit ihren Lehrkräften gehabt, 22 Prozent dagegen weniger als einmal pro Woche und 45 Prozent nach Angaben der Eltern überhaupt keinen. Das ist niederschmetternd, zumal die lernschwächeren Schüler noch seltener von ihren Lehrern gehört haben als die leistungsstärkeren. 

 

Wie erklären Sie das?

 

Hier kann ich nur mutmaßen. Sicherlich hing die Häufigkeit der Kontakte auch davon ab, wie oft die Schüler und ihre Eltern ihn selbst eingefordert haben. Die meisten Lehrkräfte waren da offenbar nicht sehr proaktiv. 

 

Machen wir mit den Mythen weiter, mit denen die Studie aufräumt. 

 

Schon etwas überraschend ist, dass es bei der Lernzeit keine gravierenden Unterschiede zwischen Kindern aus Akademiker- und aus Nichtakademiker-Haushalten gab. Anders formuliert: Der Rückgang war in beiden Gruppen gleichermaßen drastisch. 38 Prozent der Schüler haben nicht einmal zwei Stunden pro Tag gelernt. Auch hier fällt allerdings auf, dass ausgerechnet die leistungsschwächeren Schüler zugleich am meisten ferngesehen und gedaddelt haben. 6,3 Stunden jeden Tag. Das muss man sich mal vorstellen. Das ist nochmal eine gute Stunde mehr als der Durchschnitt aller Schüler, und schon dieser Durchschnitt war gegenüber der Vor-Corona-Zeit um 1,3 Stunden angestiegen.

 

"Ausgerechnet die Schülerinnen und Schüler, die am dringendsten Unterstützung brauchten, wurden während der Schulschließungen allein gelassen."

 

Eine Studie der Krankenkasse DAK Gesundheit kam vergangene Woche zu ähnlichen Ergebnissen: Die durchschnittliche Verweildauer von Zehn- bis 17-Jährigen in den sozialen Medien sei werktags um 66 Prozent angestiegen, die Nutzungsdauer von Online-Spielen um 75 Prozent – woraufhin die Drogenbeauftragte der Bundesregierung warnte, das dürfe so nicht weitergehen. 

 

Die hohen Nutzungszahlen sind vor allem Ausdruck eines Betreuungsproblems und unklarer Lernvorgaben durch die Schulen. Wenn die Lehrkräfte die Kinder und Jugendlichen nicht konkret beim Lernen begleiten und Leistungsnachweise einfordern, gleichzeitig die Eltern selbst arbeiten müssen oder mit der Lernbegleitung überfordert sind und die Kinder dann die Wahl haben zwischen am Schreibtischsitzen oder Handyspielen, dann raten Sie mal, wofür die meisten sich entscheiden werden. Ein dauerhaftes Suchtphänomen kann ich da in der Breite noch nicht erkennen. Dazu mag es kommen, wenn die Schulschließungen längerfristig anhalten sollten. Aktive Tätigkeiten wie Lesen, Bewegung oder kreatives Schaffen sind demgegenüber übrigens nur leicht um 0,3 auf 3,2 Stunden pro Tag gestiegen, bei jüngeren Kindern und in Akademiker-Haushalten etwas stärker.

 

Fünf, sechs Stunden pro Tag Fernsehen, Computer, Handy: Wieviel Zeit haben sich demgegenüber die Eltern genommen, um ihren Kindern bei der Schularbeit zu helfen?

 

Eine gute Stunde am Tag.

 

Das ist alles?

 

Das ist doppelt so viel wie vor den Schulschließungen. Da waren die Eltern nach eigenen Aussagen etwa eine halbe Stunde täglich mit der schulischen Unterstützung ihrer Kinder beschäftigt. Auch hier ist der Unterschied zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern nicht groß, aber Eltern leistungsstarker Kinder haben sich deutlich mehr Zeit genommen als die Eltern leistungsschwächerer Schüler.

 

Müsste es nicht genau umgekehrt sein?

 

Es ist, wie es ist. Vielleicht haben einige Eltern aufgegeben, vielleicht dachten sie während der Schulschließungen: Die Kinder sind ohnehin überfordert. Fest steht, ausgerechnet die Schülerinnen und Schüler, die am dringendsten Unterstützung brauchten, wurden während der Schulschließungen allein gelassen. Ihre Eltern haben weniger mit ihnen gelernt, die Lehrkräfte haben sie seltener kontaktiert, und so saßen viele von ihnen vor ausgedruckten Aufgabenblättern und wussten nicht weiter. Oder sie haben sich gar nicht erst davor gesetzt.

 

Welche Unterschiede gab es zwischen den Schulformen?

 

Spürbare. Grundschüler haben im Schnitt mit 1,1 Stunden am Tag etwas länger Präsenzunterricht gehabt als die Jugendlichen an weiterführenden Schulen. Was Sinn macht, weil es zumindest für einige der Jüngeren, als die Schulen komplett geschlossen waren, eine Notbetreuung gab. Die Grundschüler haben zudem mehr Zeit mit Lesen, Bewegung und kreativen Tätigkeiten verbracht und wesentlich weniger mit Fernsehen, Computer oder Handy, nämlich nur 3,7 Stunden täglich. Die Gymnasiasten wiederum haben insgesamt deutlich länger gelernt als die übrigen Schüler, eine gute halbe Stunde mehr pro Tag. 

 

"Viele Eltern erkennen an, dass es sich auch für die Schulen um eine Extremsituation gehandelt hat und dass zumindest ein wesentlicher Teil der Lehrer sich bemüht hat, das Beste daraus zu machen." 

 

Können Sie aus der Umfrage ableiten, ob sich der Fernunterricht der Schulen im Verlauf der kompletten oder später teilweisen Schulschließungen verbessert hat?

 

Unsere Umfrage ist zunächst mal eine Momentaufnahme, die sich explizit auf einen typischen Werktag während der mehrwöchigen Schulschließungen bezog. Sie stimmt allerdings nicht optimistisch, denn sie lief ja im Laufe des Juni – also zu einem sehr späten Zeitpunkt. Wenn die Situation sich gebessert hätte seit Mitte April, müssten die Ergebnisse insgesamt günstiger ausfallen als in den kleineren und regionalen Umfragen, die andere Forscherkollegen im April durchgeführt haben. Tun sie aber nicht. 

 

Wie kommt es eigentlich, dass 56 Prozent der Eltern trotzdem antworteten, sie seien zufrieden mit dem pädagogischen Angebot, das die Schule ihrer Kinder während der Schulschließungen gemacht hat?

 

Das mag überraschen, aber das ist für Eltern ein erstaunlich niedriger Wert. Normalerweise bewerten sie die Leistung der Schule ihrer Kinder nämlich sehr positiv und sagen gleichzeitig: Bei den Schulen in Deutschland und der Bildungspolitik insgesamt haben wir ein echtes Problem. Dass jetzt 39 Prozent der Eltern geantwortet haben, sie seien eher oder sehr unzufrieden mit der eigenen Schule, ist deutlich mehr, als wir es aus Umfragen vor Corona gewohnt sind. Gleichzeitig erkennen viele Eltern schon an, dass es sich auch für die Schulen um eine Extremsituation gehandelt hat und dass zumindest ein wesentlicher Teil der Lehrer sich bemüht hat, das Beste daraus zu machen. 

 

Wie repräsentativ sind Ihre Zahlen eigentlich? Immerhin haben Sie nur Eltern befragt, die über die Aktivitäten Ihrer Kinder berichten. Haben die überhaupt den Überblick? Und womöglich beschönigen sie die Realität auch noch?

 

Zunächst einmal haben wir eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung und dann innerhalb dieser Stichprobe die Eltern jeweils nach ihrem jüngsten Schulkind befragt. Dadurch wissen wir tendenziell etwas mehr über die Situation jüngerer Schüler – und diese kann oder darf man ja zumeist gar nicht direkt befragen. Aber wir haben alle Schularten und Altersgruppen dabei. Dass die Eltern gelegentlich nur vermuten können, was ihr Kind drei Stunden lang im Kinderzimmer macht, ist allerdings richtig. Daraus folgt in der Tendenz, dass die tatsächliche Lernzeit noch geringer sein könnte als berichtet. Das Problem der sozialen Erwünschtheit – dass die Eltern nicht sagen, wie es war, sondern wie sie denken, dass es sein sollte – ist bei Online-Umfragen erfahrungsgemäß deutlich geringer ausgeprägt. Insgesamt halte ich daher die Gefahr, dass die Ergebnisse stark verzerrt sein könnten, nicht für allzu groß. Wir wissen recht gut, was die Kinder mit ihrer Zeit gemacht haben. Was wir aufgrund der Daten nicht sagen können: wieviel die Kinder in dieser Zeit wirklich gelernt haben. 

 

Sie haben parallel zur Elternumfrage auch einen repräsentativen Durchschnitt der Gesamt-Bevölkerung befragt. 78 Prozent haben geantwortet, die Schulschließungen seien die "richtige Maßnahme" gewesen. Muss man sie bildungs- und sozialpolitisch demgegenüber verheerend nennen?

 

Hier muss man differenzieren. Die Schulschließungen ganz zu Anfang kann man für sinnvoll und angemessen halten und die anschließende Öffnung mit nur sehr eingeschränktem Unterricht trotzdem für zu zögerlich. Die Situation war für viele Kinder und Jugendliche extrem belastend. 55 Prozent der Akademiker und 67 Prozent der Nichtakademiker berichten, ihr Kind habe viel weniger gelernt als sonst. Jeweils ein gutes Drittel bezeichnen die Schulschließungen als große psychische Belastung für ihr Kind. Umgekehrt sagen aber 89 bzw. 86 Prozent, ihre Familie sei mit der Situation insgesamt gut klargekommen. 

 

"Wir müssen zu einem möglichst normalen Schulbetrieb zurückkommen, und wir müssen diesen Schulbetrieb, auch wenn die zweite Welle kommen sollte, solange wie möglich aufrechterhalten."

 

In den ersten Bundesländern beginnt das neue Schuljahr. Was fordern Sie mit Blick auf Ihre Studienergebnisse? 

 

Das Bild, das uns die Umfrage vermittelt hat, ist so eindeutig und schwerwiegend, dass die wichtigste Schlussfolgerung auf der Hand liegt: Wir müssen zu einem möglichst normalen Schulbetrieb für alle Kinder und Jugendlichen zurückkommen, und wir müssen diesen Schulbetrieb, auch wenn die zweite Welle kommen sollte, solange wie möglich aufrechterhalten. Natürlich flankiert mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen, getrennten Klassenverbänden und regelmäßigen Coronatests. Zu der Normalität, die die Schüler brauchen, gehört übrigens auch, dass der Prüfungsbetrieb wieder aufgenommen wird, dass es Klassenarbeiten und Klausuren gibt. Statt ganze Bundesländer dichtzumachen, sollten wir lokal auf die jeweilige Infektionslage reagieren. Die irrationalen Debatten der vergangenen Monate dürfen sich nicht wiederholen.

 

Welche Debatten meinen Sie?

 

Dass beim Auftreten eines lokalen Hotspots in einzelnen Betrieben als erste Reaktion die Schulen zugemacht werden. Es wäre doch zum Beispiel weit logischer gewesen, umgehend alle Restaurants, Kneipen und Geschäfte zu schließen. Und auch zwischen den Schulen müssen wir differenzieren: Die großen Studien zum Beispiel aus Südkorea zeigen, dass sich jüngere Kinder deutlich seltener anstecken als Jugendliche und Erwachsene. 

 

Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern und andere Bundesländer führen eine Maskenpflicht in den Schulen ein, auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) befürwortet sie.

 

Womit sie ganz im Trend der öffentlichen Meinung liegen. In unserer Umfrage sagen 59 Prozent der Bevölkerung, eine Schutzmaskenpflicht für alle Schülerinnen und Schüler sei eine sinnvolle Maßnahme für ein geringeres Ansteckungsrisiko. Eine Mehrheit befürwortet auch regelmäßige Coronatests für Schüler. Nichts halten die meisten Befragten von einem Handy-Tracking, 57 Prozent lehnen eine solche Maßnahme ab.

 

Und wenn regionale Schulschließungen trotzdem unvermeidbar werden?

 

Dann müssen die Schulen nahtlos einen hochwertigen Online-Unterricht bieten, der sicherstellt, dass sich die Kinder mit schulischen Dingen beschäftigen und dabei nicht mehr so allein gelassen werden, wie es im Frühjahr passiert ist. All das ist weniger eine Frage der technischen Ausstattung. Selbstverständlich muss es die geben, auch klare Ansagen dazu, welche Online-Lernportale und Videokonferenz-Tools genutzt werden dürfen. Vor allem aber muss die Schulpolitik ihr Bekenntnis zum Bildungsauftrag von Schulen und zum Menschenrecht auf Bildung ernstnehmen. Sie muss eindeutige Vorgaben zu regelmäßigem Online-Unterricht machen und von allen Lehrkräften einfordern, dass sie den täglichen Kontakt mit ihren Schülern suchen. Viele tun das ohnehin, viele aber auch nicht. 



Kommentar schreiben

Kommentare: 0